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Kein Grund für Kulturpessimismus, aber ...

Auch in der digitalen Gesellschaft braucht Bildung soziale Beziehungen

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Die neuen digitalen Techniken und Medien werden, seit sie auf dem Markt sind, von der Pädagogik beziehungsweise Erziehungswissenschaft teils bejubelt, teils aber auch mit wachsender Skepsis betrachtet. Auf der einen Seite preist man die enormen Freiheitsspielräume und den Effizienzgewinn, die mit der Digitalisierung von Lehr- und Lernprozessen einhergehen, auf der anderen Seite grassiert die Sorge, Orientierungen würden einseitig und der Erwerb elementarer Kompetenzen werde erschwert. Schauen wir uns beide Perspektiven genauer an.

Zunächst einige Beispiele: Satellitengestützte Navigationssysteme als digitale Technik sind im Verkehrsalltag von hohem praktischen Wert. Sie versagen dem Fahrer aber zugleich Anlass und Übung, sich selbstständig zu orientieren, Umgebungen, Entfernungen oder Zeitintervalle richtig einzuschätzen. Dasselbe gilt für elektronische Stabilitäts- oder Antiblockiersysteme, die gerade unerfahrenen Autofahrern das Gefühl für physikalische Grenzen nehmen. So werden elementare Wirkzusammenhänge der Physik (Schwerkraft, Fliehkraft, Masse, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Verzögerung und so weiter), die körperlich vermittelte intellektuelle Grundkompetenzen eines jeden Menschen ausmachen, nicht mehr „erfahren“. Versagen die Systeme, können in Gefahrensituationen kaum noch angemessene Entscheidungen getroffen werden. Zahlen wir also für die Bequemlichkeit, die wir genießen, den Preis des Verlustes grundlegenden Könnens? Verlieren wir Entscheidungsautonomie?

Auch in der Kommunikation haben die neuen Medien weitreichende Auswirkungen. Mit der sprachlichen und oft auch gedanklichen Verknappung von Botschaften durch Twitter, SMS, WhatsApp und so weiter geht eine enorme Verdichtung von Kommunikation einher – das beste Beispiel ist der Austausch junger Leute über Facebook. Aber je mehr Kommunikation „hochfrequent“ und mit geringstem Aufwand möglich ist, desto banaler scheint der Austausch zu werden („Was tust Du gerade?“, „Gefällt mir“, „Gefällt mir nicht“), ganz zu schweigen von der Begrenzung des orthografischen beziehungsweise grammatikalischen Vermögens und der Ausdrucksfähigkeit. Andererseits hat die Permanenz des Austausches einen hohen sozialen Wert – in Netzwerken schließt man Freundschaften, teilt sich einander mit, signalisiert Empathie und organisiert am Ende durchaus „reale“ Begegnungen.

 

Entfremdung von der Wirklichkeit

Gleichzeitig drängen in immer kürzeren Zyklen zum Beispiel neue Spielekonsolen auf den Markt. Sie treten bei Kindern und Jugendlichen an die Stelle von Realität, führen sie in virtuelle Lebenswelten, die Abstand zur Realität gebieten – und machen es ihnen schwer, virtuelle und tatsächliche Lebenswelt zu unterscheiden. Es ist also keineswegs nur die Furcht vor Gewalt, sondern überhaupt vor Entfremdung von der Wirklichkeit, die uns in diesem Zusammenhang zu schaffen macht.

In der Tat ist hier in den letzten beiden Jahrzehnten ein ernsthaftes Problem entstanden: Mit dem Einsatz der neuen Medien beim Lehren und Lernen werden immer weniger Primärerfahrungen vermittelt. Die Reduktion der Wirklichkeit auf Abbilder, ihre Ersatzrezeption aus den Bildschirmen, führt dazu, dass man zwar alles Mögliche zu wissen und zu beherrschen glaubt, echten Anforderungssituationen aber kaum noch gewachsen ist. So steht die gerade Kindern und Jugendlichen aufgezwungene Bilderflut der Entwicklung von Vorstellungsvermögen und Phantasie, ebenso von sprachlicher Abstraktion und Begrifflichkeit entgegen. Moderne Unterrichtsmedien können jedoch selbst bei sorgfältigster Aufbereitung die authentische Begegnung mit den natürlichen Dingen beziehungsweise Phänomenen oder mit von Menschenhand gemachten Gegenständen nicht ersetzen.

Außerdem muss man fragen, welche Art von Wissen mit welcher Relevanz und Gültigkeitsdauer über die Medien in der Jugend erworben wird und wie sich der „Nutzen“ dieses Wissens im Verhältnis zur Lebenszeit verhält. Nicht ohne Grund gehört zu den viel beschriebenen Konsequenzen der Modernisierung unserer Gesellschaft die allgemeine Tendenz der Beschleunigung, die sich ganz besonders auf dem Sektor des Wissens abspielt. Von extrem schnell veraltendem Wissen ist die Rede: Auto- oder Computergenerationen lösen sich viel rascher ab als Menschengenerationen. Doch deswegen wird kein Kind schneller erwachsen, so Leo J. O’Donovan (vergleiche 2000), früherer Rektor der Georgetown-Universität in Washington. Aber ist es wirklich Wissen, was hier veraltet? Natürlich „verfällt“ Wissen aus Fahrplänen, Hitlisten, Gebrauchsanweisungen oder Telefonbüchern rasch. Wie schnell veralten währenddessen das Alphabet oder das kleine Einmaleins, das Periodensystem der Elemente, kulturelle und historische Wissensbestände, zum Beispiel die Wertgültigkeit der Grimm’schen Märchen, Kunstverständigkeit, musische Fähigkeiten? Basiswissen oder -können dieser Art verliert kaum seine Relevanz – und selbst wenn, bliebe aus seinem Abstraktionsgehalt und seiner methodischen Qualität das erhalten, was das Neu-, Weiter- oder Umlernen möglich macht.

 

„Erfahrung und stückliche Unterweisung“

Je schneller die Modernisierung und die Entwicklung der digitalen Medien voranschreiten, desto wichtiger wird es also, kulturelle Konstanten zu identifizieren, in den schulischen Lehrplänen auf Grundkompetenzen zu setzen und – so paradox es klingt – jene „klassischen“ Elemente der Pädagogik zu pflegen, die geordnetes Grundwissen, Anschaulichkeit und methodische Selbstständigkeit in den Vordergrund stellen. Nachhaltig wird, was anschaulich ist – dieses Prinzip gehört zu den ältesten pädagogischen Überlieferungen. Sein Urheber ist der Didacticus Wolfgang Ratke (1571 bis 1635), der in seiner Köthener „Allunterweisung“ und der „Lehrartlehr“ eine Unterrichtsweise beschreibt, die vor allem das Selberlernen und das „Begreifen“ im ganz praktischen Sinn befördert: „Erst ein Ding, hernach die Weise von dem Ding“. Das ist noch heute nicht nur für den Sachunterricht von grundlegender Bedeutung. Ratkes Grundsatz „Alles durch Erfahrung und stückliche Unterweisung“ ist später in der Wunderkammer der Stiftungen August Hermann Franckes (1663 bis 1727) in Halle zur faszinierenden Blüte gelangt. Sie war eine Art barockes Medienkabinett – Anschauung nicht am Abbild, sondern am authentischen Objekt. Komplementär zum Computer in der Schule sind daher bis heute zum Beispiel der Betrieb einer Schulwerkstatt, Expeditionen in die Natur oder das Anlegen von Gärten wichtig (vergleiche Olbertz 2003). Mit den neuen Medien und der mit ihnen verbundenen Informationsdichte gewinnt auch die traditionelle Didaktik wieder an Bedeutung: Ordnen und Systematisieren, Reduzieren und Konzentrieren, Vergleichen und Erörtern, Verweilen und Verknüpfen, Wiederholen und Festigen, Üben und Anwenden. Dies alles sind Vorgänge, die Lehrund Lernprozesse als Beziehungsgeschehen verstehen und ausgestalten. Entsprechend kritisch muss man Tendenzen kommentieren, die Lehrund Lernprozesse in einer Weise „technisieren“ (und auch „ökonomisieren“), wie sie sich derzeit in Gestalt von MOOCs („Massive Open Online Courses“) verbreiten. Das sind Internet-Vorlesungen für ein Publikum von 100.000 oder mehr „Lernern“, die ihrem Dozenten real gar nicht mehr begegnen. Die Entfremdung vom sozialen Interaktionsraum des Lehrens und Lernens nimmt hier einen extremen Verlauf; neben den Möglichkeiten der dialogischen Erörterung sind Authentizität und Empathie nur noch schwer vermittelbar.

Das dabei vermittelte Wissen – von Kompetenzen mag man hier nicht reden – steht nach Art und Umfang in keinem Verhältnis zum verloren gehenden. Allerdings bedeutet das keineswegs, dass elektronisch verbreitete Unterrichtsinhalte und -materialien nicht erfolgreiche Lehrund Lernprozesse maßgeblich unterstützen könnten. Aber sie sollten immer nur willkommene Ergänzung oder Vertiefung sein, nicht das soziale Interaktionsgeschehen des Lehrens und Lernens in Institutionen ersetzen.

Führt man sich alle diese Aspekte der „Mediatisierung“ vor Augen, dann fällt es in der Tat erst einmal schwer, neben Warnung und Kritik auch den Gewinn der neuen Medien zu erkennen. Dieses Potenzial aber darf nicht unterschätzt werden. Mit den digitalen Technologien können sich gerade Kinder und Jugendliche schnell und effektiv Wissen erschließen und ihrer Neugier sehr unmittelbar folgen. Auch „Anschaulichkeit“ ist mit digitalen Medien auf attraktive Weise erreichbar. Und es sind an die Stelle tradierter Speichersysteme (zum Beispiel Lexika) neue Formen der Reproduktion von Wissen (im Netz) getreten, die sich als schneller, weniger aufwändig und oft auch als besser überprüfbar erweisen.

Letzten Endes aber können wir uns – als Angehörige einer anderen Generation – über das tatsächliche Medienverhalten von zum Beispiel 14- oder 15-jährigen Jugendlichen kein sicheres Urteil bilden, selbst wenn es im Rahmen von Forschungsprojekten erfragt oder beobachtet wird. So sollten wir eher Vertrauen in unsere sonstige Beziehung zu den Kindern und Jugendlichen setzen, in deren Rahmen sie unsere Ratschläge ernst nehmen oder ausschlagen. Diese Entscheidung wiederum hängt nicht von den Medien ab, sondern von unserem Verhältnis zu ihnen. Ist es von Offenheit, Toleranz, aber auch Verantwortlichkeit und Verbindlichkeit geprägt, so können wir zuversichtlich sein, dass sie selbst kritisch an die Dinge herangehen und ihren Weg im Umgang mit den neuen Medien finden werden.

 

Reflexionsfähige Anwender

Unter dieser Voraussetzung gibt es bei aller Kritik an den digitalen Medien also keinen Anlass zum Kulturpessimismus. Das gilt vor allem dann, wenn der Einzug der „neuen Medien“ in die Schulen mit einer intelligenten Medienpädagogik einhergeht. Mit Wissen und Aufklärung kann man den beschriebenen Risiken wirksam begegnen. Die Nutzung der Vorteile der digitalen Medien setzt kompetente, also reflexions- und distanzfähige Anwender voraus. Es gibt längst auch eine souveräne Gegenbewegung unter Jugendlichen, die auf Smartphones verzichten oder sich mit einfachen Mobiltelefonen begnügen, die Freude daran haben, sich selbstständig zu orientieren und die Welt nicht am Bildschirm, sondern mit allen Sinnen zu erfassen. Viele Jugendliche wissen genau, wie sie ihre Privatsphäre im Internet schützen können. Sie nutzen die neuen Medien, um ihre Lernprozesse selbstständig zu gestalten, sich in kritischen Initiativen zu organisieren, die Gesellschaft zu verändern und um zu Dingen, die ihnen wichtig sind, Position zu beziehen. Gerade durch den Einsatz der neuen Medien erreichen und beherrschen sie so häufig mehr als ihre Kritiker.

Für diese Art der Nutzung neuer Medien gibt es Beispiele, die jedem Argwohn auf erfrischende Weise den Boden entziehen. So organisierten kürzlich Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums St. Ursula in Villingen-Schwenningen, nachdem die Anbringung von „Stolpersteinen“ als Erinnerung an ermordete Juden der Stadt durch den Gemeinderat abgelehnt worden war, ein virtuelles Gedenken: Sie entwickelten spezielle Aufkleber mit QR-Codes, die an den Regenablaufrohren der Häuser, in denen die Juden lebten, angebracht wurden. Mit Smartphones können die Codes eingescannt werden und führen dann zu entsprechend aufbereiteten Webseiten, die vom Schicksal dieser Menschen berichten (vergleiche Südkurier vom 14. Januar 2014). Allein diese Geschichte zeigt, wie positiv die vielfältigen neuen Spielräume, die durch die digitalen Medien eröffnet werden, genutzt werden können – gerade wenn es um das Thema Bildung geht.

Jan-Hendrik Olbertz, geboren 1954 in Ostberlin, Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt a. D., Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin.
 

Literatur

O’Donovan SJ, Leo J.: tempi – Bildung im Zeitalter der Beschleunigung. Vortrag auf dem Bildungskongress der Kirchen am 16. November 2000 in Berlin. Zentralstelle Bildung der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2000.

Obst, Helmut/Raabe, Paul: Die Franckeschen Stiftungen zu Halle (Saale): Geschichte und Gegenwart. Fliegenkopf, Halle 2000.

Olbertz, Jan-Hendrik: „An den Dingen lernen – authentisches Wissen als ‚Rohstoff‘ für Bildung“, in: Cech, Diethard/Schwier, Hans-Joachim (Hrsg.): Lernwege und Aneignungsformen im Sachunterricht. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2003.

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