Asset-Herausgeber

Rückblicke auf 75 Jahre „Frankfurter Allgemeine Zeitung“

Gerald Braunberger (Hrsg.): Die Wahrheit der Tatsachen. Schlaglichter der F.A.Z. auf 75 Jahre Deutschland, Frankfurter Allgemeine Buch, Frankfurt am Main 2024, 232 Seiten, 75,00 Euro.

Asset-Herausgeber

„Die Wahrheit der Tatsachen“, ein Zitat aus dem Aufmacher der ersten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. November 1949, dient als Titel der Jubiläumsschrift, die in „Schlaglichtern“ 75 Jahre gemeinsame Geschichte Deutschlands und der Zeitung dokumentiert. In heute altertümlich klingender Sprache hieß es im Leitartikel der Erstausgabe: „Wir haben genaue Vorstellungen von einer neuen Art Zeitung, die wir schaffen möchten. […] Für sie müßte die Wahrheit der Tatsachen heilig sein, sie müßte sich der strengen Sachlichkeit in der Berichterstattung befleißigen“ und, statt „an der Oberfläche der Dinge stehen zu bleiben“, die „geistigen Hintergründe“ darstellen. Doch wolle man mehr, „als nur eine gute Zeitung machen“, sondern „in einer Zeit, in der die Freiheit keineswegs allein durch die Diktatoren […] bedroht ist, das lebendige Gefühl für dieses kostbarste aller irdischen Güter entfachen“. Wie die Zeitung diesem Pathos des Aufbruchs gerecht wurde, zeigen die gut 200 Seiten an Texten, Bildreportagen und Karikaturen des hier rezensierten Bandes.

Das Geburtsjahr mit der Bundesrepublik zu teilen, war keineswegs der Symbolik wegen geplant, sondern ging auf zwei Umstände zurück: Erich Welter und Benno Reifenberg hätten nach dem Krieg gern die Frankfurter Zeitung wiederbelebt. Doch obwohl Adolf Hitler diese 1943 selbst verboten hatte – wegen eines Artikels über Dietrich Eckart, einen frühen Anhänger des Nationalsozialismus und Ideengeber Hitlers, dem der erste Band seiner Schrift Mein Kampf gewidmet war –, fiel sie unter das alliierte Verbot aller in der Zeit des Nationalsozialismus erschienenen Zeitungen. Reifenberg gab daher die Halbmonatsschrift Die Gegenwart heraus, die später als eine Sonderseite in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aufging, und Welter beteiligte sich zunächst an der in Stuttgart erscheinenden Deutschen Zeitung.

Bis die Besatzungsmächte schließlich 1949 die Beschränkungen aufhoben, hatte Ludwig Erhards Politik Gestalt angenommen, weshalb einige kleinere Unternehmen verabredeten, eine Zeitung zu fördern, die sich dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft öffnet. Sie waren klug genug, ihre Anteile in der FAZIT-Stiftung aufgehen zu lassen, um eine Übernahme durch Dritte auszuschließen, während die eigentliche Verlegerfunktion den Herausgebern übertragen wurde.

 

Wenn die Zeitung selbst zur Nachricht wird

Das Jubiläumsbuch beginnt die Selbstdarstellung – keineswegs chronologisch vorgehend – mit Episoden, in denen die Zeitung in Konflikte um die „Wahrheit der Tatsachen“ geriet, wie etwa durch Angela Merkels Gastbeitrag vom Dezember 1999, in dem sie das Ende der Ära Kohl ausrief und sich damit selbst in Stellung brachte. Die 25 Jahre, in denen Helmut Kohl „der Partei gedient“ habe, seien mit den „Berichten über verschwiegene Konten nicht ausreichend beschrieben […], denn die Partei hat eine Seele“, und diese Seele streichelt Merkel durch ausführliche Lobpreisung Kohls, bevor sie verkündet, er habe der Partei „Schaden zugefügt“, weshalb es jetzt an den Jüngeren sei, die „neue Zeit“ anzugehen.

Die Zeitung konnte allerdings auch dadurch selbst zum Gegenstand werden, dass ein Redaktionsmitglied sich einem Thema so intensiv widmete, dass er selbst und sein Blatt damit identifiziert wurden. Johann Georg Reißmüller hatte, wie Peter Sturm rückblickend schreibt, als Korrespondent der Zeitung in Belgrad mit Jugoslawien „so etwas wie sein Lebensthema gefunden“, was 1990/91 zu dem Vorwurf führte, hier habe „letztlich ein Journalist der deutschen Außenpolitik die Feder geführt“.

Ähnlich eng mit einem Thema verbunden war Günter Bannas, der über lange Zeit die „schmerzhafte Suche der Grünen nach der Nichtpartei-Partei“ begleitete. Obwohl sie mit der parlamentarischen Demokratie fremdelten und die Abgeordneten verpflichteten, nach der halben Legislaturperiode der Nachrückerin zu weichen, wurden sie den anderen Parteien bald immer ähnlicher, doch unterschieden sich ihre damaligen Positionen sehr deutlich von den heutigen, indem sie friedensbewegt die Abkehr vom westlichen Bündnis forderten. In Bedrängnis gerieten sie 1989 mit dem Beharren auf der Zweistaatlichkeit, die ihre Bundestagsfraktion noch kurz vor der Grenzöffnung bekräftigte. So war es bemerkenswert, dass sie 1990 ausgerechnet nur im Osten die Fünf-Prozent-Hürde überwanden, die damals für die beiden vorigen Staatsgebiete getrennt berechnet wurde.

Beschrieben wird auch die bundesrepublikanische Kontroverse, die – anders als die Weichenstellungen der frühen Jahre – bis in die Zeitung hineinreichte. Egon Bahrs und Willy Brandts Konzept „Wandel durch Annäherung“ von 1963 und die Ostpolitik ihrer Regierung seit 1969 führten in der „Zeitung für Deutschland“ zu einer Auseinandersetzung, die schließlich nur noch dadurch zu beenden war, dass Jürgen Tern, einem der Herausgeber, der die neue Politik befürwortete, gekündigt wurde.

Eine weitere Episode entsprang 1977 aus Friedrich Karl Frommes Kritik an „bestimmten Literaten“, die sich doppelbödig von politischen Morden distanzierten, gleichzeitig jedoch Sympathie für deren „Motive“ empfahlen, so in dem mit „Mescalero“ unterschriebenen „Nachruf auf Buback“, in welchem „klammheimliche Freude“ über den „Abschuss von Buback“ geäußert wurde. Fromme hob ein Gedicht Erich Frieds auf Buback hervor, in dem es hieß: „Es wäre besser gewesen, so ein Mensch hätte nie gelebt.“ Schon das „nie“ zeigt, wie lächerlich Frieds Entschuldigung mit dem verrutschten „so“ war. Gemeint sei gewesen, „ein Mensch hätte nicht so gelebt“. Hans Magnus Enzensberger ereiferte sich im Spiegel über Frommes „Intellektuellen-Hetze“. Verglichen damit komme ihm der „vielbeschrieene Mescalero“ wie ein „Ausbund an Vernunft, Besonnenheit und demokratischer Tugend vor“.

 

Lesebuch und Fotoalbum

Sehr viel später sah sich auch Günter Grass 2006 einer Kampagne der Medien einschließlich der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegenüber, an die er sich wegen der Präsentation seines autobiographischen Buches Beim Häuten der Zwiebel gewandt hatte. Man einigte sich auf ein Interview, das zwei Seiten des Feuilletons statt der von ihm vorgeschlagenen sechs Seiten, den kompletten Umfang einer Samstagsbeilage, umfassen sollte. Dass Grass berichtete, als Achtzehnjähriger in die Waffen-SS eingetreten zu sein, führte jedoch in der Öffentlichkeit weniger zu der wohl erwarteten Bewunderung seines Bekenntnismuts als zu Hinweisen auf seine langjährigen Posen als „Mahner, Weltgewissen und moralische Instanz“, so der Redakteur Hubert Spiegel.

Die Episoden belegen, dass der Jubiläumsband kein Jubelband ist. Man kann ihn wie eine Mischung aus Lesebuch und Fotoalbum durchblättern, wobei in dem größeren folgenden Teil die 1949 benannten Absichten immer deutlicher hervortreten. Die Schilderung folgt dann den „Büchern“, also der „Politik“, der „Wirtschaft“, dem „Feuilleton“, dem Lokalen („Rhein-Main“), dem „Sport“, ergänzt um Essays etwa zur Bedeutung des Autos für die Bundesrepublik, um mit Hinweisen zur Zukunft der Zeitung(en) zu enden.

 

Der Ruf einer täglich erscheinenden Wochenzeitung

Dem Rezensenten wird hoffentlich verziehen, dass er den Sport nicht zum Unentbehrlichen zählt und auch die Stadt Frankfurt trotz der Vorgeschichte nicht als den allein denkbaren Standort betrachtet. Jürgen Kaube, der gegenwärtige Feuilleton-Herausgeber, bat im November 2024 die versammelten Honoratioren recht bald nach Beginn seiner Festansprache um Nachsicht dafür, dass er nun die „Lobeshymne auf die Stadt“ abbreche, um von der Zeitung zu sprechen. Er hätte auch den Mundartdichter Friedrich Stoltze zitieren können („[…] un es will merr net in mein Kopp enei, wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!“). Richtig bleibt, dass eher in Finanzzentren als in Hauptstädten (also eher in Zürich als in Bern, in New York als in Washington) der Wunsch nach einer Qualitätszeitung entsteht, auch wenn manchmal, wie im Falle Londons, beide Voraussetzungen gegeben sind.

Das Profil der Zeitung zeigt sich also in den drei maßgeblichen „Büchern“. Zunächst in der „Politik“ mit dem Privileg der Frontseite und – nach langer Enthaltsamkeit – seit 2007 auch mit einem Titelbild. Stets betonte die politische Redaktion die Bedeutung von Recht und Verfassung, mitunter in einer Ausführlichkeit, die der Zeitung den Ruf einer täglich erscheinenden Wochenzeitung einbrachte. Ein Richter am Bundesverfassungsgericht spottete, manche seiner Kollegen verstünden erst nach der Lektüre der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ihre eigenen Urteile, und Jurastudenten rieten sich gegenseitig, spätestens vor mündlichen Prüfungen diese Zeitung zu lesen – denn was lesen die Prüfer?

So wie die Orientierung an einer freiheitlichen Wirtschaft und Gesellschaft die Zeitung und deren Wahrnehmung bestimmte, so steht auch die Wirtschaftsredaktion mit ihren „Büchern“ Wirtschaft, Unternehmen und Finanzen im Zentrum des Bandes. Gerald Braunberger, der für das Ressort (und auch das Jubiläumsbuch) verantwortliche Herausgeber, und Heike Göbel schildern in jeweils mehreren Beiträgen, wie „mit Ludwig Erhard und der Freiburger Schule“ die Kartellgelüste des Bundesverbandes der Deutschen Industrie ebenso kritisiert wurden wie etwa die Ambivalenzen der Merkeljahre.

Jürgen Kaube bezeichnet das Feuilleton als „Ressort für Gegenstandslosigkeit“, weshalb „alles, was in der Gesellschaft geschieht, auch im Feuilleton berichtet und kommentiert“ werden könne, beschäftigt sich dann aber doch mit Gegenständen, die eher dorthin passen: mit technischen Entwicklungen wie dem Vierfarbendruck, der den Hauptteil der Zeitung für Annoncen öffnete, die zuvor nach Beilagen verlangten – oder mit dem weiten Feld der Digitalisierung. In dem genannten Festvortrag stellt Kaube die bange Frage, ob man auch am 100. Geburtstag noch Grund zum Feiern haben werde. Zwar verkauft die Frankfurter Allgemeine Zeitung 500.000 Abonnements, wobei die Digitalangebote den Rückgang der gedruckten Zeitung ausgleichen, doch die eigentliche Leistung der Zeitung sei Deutung, der „Hintergrund“, der 1949 beschworen wurde – und man dürfe sich nicht darüber täuschen, dass nur das „als gebildet unterstellte Publikum“ danach verlange. Doch es gibt sie noch, die Leser, die missgelaunt sind, wenn der Träger nur die Lokalzeitung geliefert hat, die darauf warten, dass Braunberger bestätigt, was sie meinen, und dass am Samstag eine Fraktur des Herausgebers Berthold Kohler erscheint.

 

Michael Zöller, geboren 1946 in Würzburg, emeritierter Professor für Politische Soziologie und Leiter der Amerika-Forschungsstelle, Universität Bayreuth.

comment-portlet