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Konfrontation oder Wettbewerb?

von Klaus Mühlhahn

China und der Westen in einer multipolaren Welt

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In den letzten Jahrzehnten ist es China gelungen, in einer präzedenzlosen Aufholjagd mit Europa und den USA in Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie gleichzuziehen. In einigen Bereichen, wie etwa der Digitalisierung, hat China den Westen vermutlich sogar überholt. Daraus folgt zwingend, dass wir uns auf eine neue globale Ordnung einstellen müssen, in der China in seine historische Rolle als zentrale Großmacht zurückgekehrt ist.1

Diese Entwicklung löst Sorge, Angst und auch Widerstand aus. Von den USA ausgehend, breitet sich auch in Europa ein Wahrnehmungsmuster aus, das in China eine fundamentale Herausforderung des westlichen Systems sieht. Die letzte National Security Strategy der Vereinigten Staaten von Dezember 2017 beschreibt China als „revisionist power […] that […] want[s] to shape a world antithetical to U. S. values and interests“ („eine revisionistische Macht […], die […] eine Welt gestalten will, die den Werten und Interessen der USA zuwiderläuft“).2

Insgesamt war eine strategische Neubewertung der Weltordnung in Bezug auf das erstarkte China des 21. Jahrhunderts zwar überfällig; nun besteht jedoch die Gefahr, dass die USA und Europa aufgrund der Eigendynamik diffuser Feindbilder und Ängste in einen monumentalen Systemkonflikt stolpern, der nicht gewonnen werden kann.

In dieser unübersehbaren Gemengelage, die den öffentlichen Diskurs dominiert, geht vieles durcheinander. Besonders problematisch ist die Vermischung der Frage der Unterschiedlichkeit der politischen Systeme mit Argumenten der geostrategischen Rivalität. Eine ordnende, rationale Perspektive, die alternative Handlungsoptionen aufzeigt, sollte daher die beiden Aspekte auseinanderhalten.

Es steht außer Frage, dass sich die geopolitischen Verhältnisse in der Welt grundlegend verändert haben und dass der Aufstieg Chinas ein wesentlicher Treiber dieser Entwicklung ist. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende des Kalten Kriegs 1989 hatte sich eine globale Ordnung herausgebildet, die von der Existenz einer einzigen Supermacht, den USA, geprägt war. Westliche Politiker und auch viele Wissenschaftler gaben sich den Illusionen vom Ende der Geschichte sowie vom endgültigen Triumphzug des liberalen Systems westlicher Prägung hin.

Bereits die Anschläge vom 11. September 2001 und die entstehenden Krisenherde im Nahen Osten führten zu einem jähen Erwachen. Während die westlichen Staaten ihre verlustreichen Kriege in Zentralasien und im Vorderen Orient begannen, gelang es China – anfangs weitgehend unbemerkt und vorangetrieben durch seine wirtschaftliche Entwicklung –, den technologischen und militärischen Abstand zur Supermacht USA deutlich zu verringern. In der Folge bildete sich etwa in den letzten zehn Jahren eine neue bipolare Konstellation heraus, die durch die Rivalität zwischen den USA und China geprägt ist. Dieses Spannungsverhältnis durchdringt mittlerweile praktisch jeden Aspekt der internationalen Politik. Es kam insgesamt zu einer fundamentalen Neuausrichtung der globalen Machtverhältnisse. Es ist sicher keine Übertreibung, zu behaupten, dass diese Entwicklung in all ihren Konsequenzen von der politischen Klasse in Europa und in Deutschland bis heute nicht hinreichend durchdrungen und analysiert wurde.

 

In der Thukydides-Falle?

 

Intensive Diskussionen entbrannten vor allem in den USA um die Frage, ob diese Bipolarität zu einem neuen Kalten Krieg führen werde.3 Tatsächlich haben einige Wissenschaftler der Schule des Realismus lange vorhergesagt, dass Chinas Aufstieg zu einem Konflikt mit den USA führen würde. Zitiert wurde die sogenannte Thukydides-Falle:4 Thukydides hatte aufgrund seiner Erfahrungen im Krieg zwischen Sparta und Athen argumentiert, dass es unweigerlich zu militärischen Konflikten kommen müsse, wenn eine alte Großmacht durch eine neue ersetzt werde. Entsprechend glauben einige Wissenschaftler, dass ein unaufhaltsam aufsteigendes China unvermeidlich mit einem kompromisslosen Amerika aneinandergeraten wird.

Andere Wissenschaftler halten die Analogie mit dem Kalten Krieg dagegen für abwegig.5 Sie argumentieren, dass sich die gegenwärtige Rivalität zwischen den USA und China in wesentlichen Aspekten vom Kalten Krieg der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterscheide: So fehlten etwa der globale ideologische Wettstreit, die Blöcke in Ost und West, die starke Trennung der Wirtschaftskreisläufe und die militärische Machtparität. Außerdem stünde zu viel auf dem Spiel, insbesondere Wohlstand und Wachstum in der eng vernetzten, globalisierten Welt. Unter diesen Umständen würden die politischen Führer in Washington und Peking keinen Kalten Krieg riskieren, sondern eine, wenn auch konfliktreiche Koexistenz vorziehen. Die Annahme eines unvermeidlichen Konflikts hat – ausgehend von den USA – mittlerweile Europa erreicht und, implizit oder explizit, großen Einfluss auf die Wahrnehmung gewonnen. In Medien, Thinktanks und auch den politischen Parteien nehmen die Stimmen zu, die vor China warnen, eine Abkoppelung befürworten und China eindämmen wollen.

Die Diskussionen um die Unvermeidlichkeit eines Kalten Kriegs mit China zeigen vor allem eins: Die neue Bipolarität hat dazu beigetragen, die emotionale Rivalität zwischen den USA und ihren Verbündeten auf der einen Seite und China auf der anderen Seite erheblich zu intensivieren. Wie im Kalten Krieg unterstellt jede Seite der anderen, das jeweils andere politische System untergraben zu wollen. Jede Seite ist überzeugt, für die Erhaltung seiner exklusiven Lebensweise kämpfen zu müssen. Vor allem die USA und China scheinen entschlossen, die eigenen Positionen um jeden Preis zu stärken. In einer solchen verhängnisvollen Wahrnehmung kann keine Seite ihre Interessen schützen, ohne die andere Seite zu beschränken oder einzudämmen.

 

„Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften“

 

Befinden wir uns aber wirklich in einem Wettbewerb der Systeme? In den 1980erJahren hat China begonnen, den eigenen Entwicklungspfad als „Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften“ zu beschreiben, wobei unklar ist, wofür diese Eigenschaften eigentlich stehen. Das Konzept stellte eine dehnbare Rechtfertigung zur Verfügung, die zahllose Experimente erlaubte, die mit den Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels nichts mehr zu tun hatten. In den folgenden Jahrzehnten gelang der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) etwas, was eigentlich von allen liberalen Wirtschaftstheorien als unmöglich angesehen wurde: Unter der Führung einer kommunistischen Partei wurde eine ökonomische Erfolgsgeschichte geschrieben, die in der Weltwirtschaftsgeschichte beispiellos ist.

China hat eine Vielzahl von marktliberalen Elementen angenommen. Tatsächlich ist China heute eher ein Paradebeispiel für den globalen Kapitalismus als für den Sozialismus. China hat nach den USA die zweitgrößte Zahl an Milliardären in der Welt. Das Land hat sich voll und ganz auf das Prinzip des Marktwettbewerbs und alle damit einhergehenden sozialen Probleme eingelassen – darunter auch eine sehr ausgeprägte Ungleichheit –, zugleich aber eine vollständige Anpassung oder Übernahme liberaler Normen und Institutionen vermieden. Daher spielen Staatsunternehmen weiterhin eine wichtige Rolle, und der Staat greift aktiv und steuernd in die Wirtschaft ein. China hat ein hybrides und opportunistisches Institutionengefüge aufgebaut, das bei der Ermöglichung von Wirtschaftswachstum sehr erfolgreich war. Es folgt jedoch keiner systematischen gesellschaftlichen Vision.

Obwohl China von seinem Entwicklungsmodell fest überzeugt ist, hat es kein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein.6 Chinas Attraktivität ergibt sich aus seiner wirtschaftlichen und militärischen Leistungsfähigkeit, nicht aus seiner ideologisch-politischen Positionierung. Auch wenn Peking versucht, seinen Einfluss auszuweiten, verfügt das Land nicht über „Satellitenstaaten“ oder Entente-Partner. Auch hat China keinen ideologischen Seelenverwandten, engagierten Anhänger oder hingebungsvolle Nachahmer im Ausland. Im Gegensatz zur Sowjetunion, die den Kommunismus aktiv, auf offene und verdeckte Weise, verbreitete, hat China kein aktives Interesse daran gezeigt, seinen Autoritarismus als Modell in der Welt zu bewerben oder Demokratien gezielt zu untergraben. Die Beziehungen, die China zu anderen Ländern unterhält, basieren nicht auf ideologischer Affinität, nicht mal im Falle Nordkoreas.

Chinas Version des repressiven Autoritarismus und des Hightech-Überwachungsstaats bietet für die meisten Länder der Welt keine praktikable Alternative. Die Ablehnung von Menschenrechten, Freiheit und Demokratie als universelle Werte ist in erster Linie der Versuch, defensiv das eigene autoritäre Entwicklungsmodell zu rechtfertigen und zu legitimieren.

China, dem immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückungsmaßnahmen vorgeworfen werden, beharrt darauf, dass jedes Land das Recht hat, sein eigenes politisches System ohne fremden Druck zu wählen. Pekings diplomatische Bemühungen in den USA und anderen westlichen Ländern konzentrieren sich daher darauf, die Sicht auf die Haltung der KPCh und auf die Politik Chinas in Xinjiang, Hongkong und Taiwan zum Positiven zu verändern.

 

Kampf zwischen Werten und Normen?

 

Allerdings hat die Bipolarität viele im Westen dazu verführt, ideologische Differenzen zu übertreiben. Die neue amerikanische Regierung interpretiert die Rivalität mit China als einen Kampf zwischen Werten und Normen. Sie hat begonnen, demokratische Nationen als Verbündete für den Wettbewerb mit China zu rekrutieren. Zwar teilen viele US-Verbündete, wie die Europäische Union, Australien und Japan, die Auffassung, dass mehr Standfestigkeit und Kritik gegenüber China geboten sind. Aber viele Partner der USA haben einen eigenständigen Kurs eingeschlagen und wollen nicht zwischen zwei Polen wählen müssen. Hinzu kommen wachsende Bedenken hinsichtlich der Glaubwürdigkeit und Leistungsfähigkeit der USA. Die Untergrabung und Verunglimpfung liberaler Werte unter Donald Trump führten zur Entfremdung vieler befreundeter Staaten.

Da sowohl Chinas strategische Partner als auch US-Verbündete jeweils ihre Freiräume und ihre Eigenständigkeit verteidigen, um zwischen den USA und China zu manövrieren, wird die neue bipolare Welt nicht von zwei starren, antagonistischen Allianzsystemen wie im Kalten Krieg dominiert, sondern die Bipolarität existiert in einer unübersichtlichen multipolaren Konstellation.

 

Komplexe internationale Realität

 

Die Vorstellung, nach der die heutige Welt in verschiedene ideologische Systeme aufgeteilt ist, ist nostalgisch und verfehlt die komplexe internationale Realität der Gegenwart. Das Denken in Kategorien des Kalten Krieges verstärkt die verzerrte Wahrnehmung eines vorherrschenden ideologischen Antagonismus. Im Wettbewerb mit China geht es aber nicht um Ideologie, sondern um die Leistungsfähigkeit der Systeme. Natürlich sollten wir uns im Umgang mit China von unseren Werten und Normen leiten lassen; im Kern muss sich im Wettbewerb mit China jedoch die Kapazität der demokratischen Ordnung beweisen. Zuletzt hat die COVID-19-Pandemie schonungslos bestehende Defizite in den westlichen Demokratien aufgezeigt.

Eine Welt, geprägt vom Wettbewerb zwischen Ländern mit verschiedenen Interessen und Fähigkeiten, ist in der Geschichte der Normalfall. In einer Situation unübersichtlicher geostrategischer Rivalität ist es umso wichtiger, internationale Institutionen zu stärken, in denen Konflikte und Gegensätze unter Verzicht auf Gewalt beigelegt werden können. Gerade angesichts einer neuen Runde atomarer Aufrüstung sollten alle Seiten ein Interesse daran haben, klare Mechanismen zu etablieren. Zudem können die großen globalen Herausforderungen der Menschheit wie Pandemien, Klimawandel, digitale Transformation, Überalterung, nur durch Kooperation und Abstimmung gelöst werden. Alles das verlangt vor allem politischen Realismus, Staatskunst und Diplomatie. Die pragmatische Zusammenarbeit zwischen rivalisierenden Nationen mag schwierig und diffizil sein; allerdings ist sie zur Vermeidung bewaffneter Konflikte und zur Lösung der globalen Probleme unverzichtbar.

 

Klaus Mühlhahn, geboren 1963 in Konstanz, Inhaber des Lehrstuhls für Moderne China-Studien und Präsident der Zeppelin Universität, Friedrichshafen.

 

1 Siehe Klaus Mühlhahn: Geschichte des modernen China. Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart, C.H. Beck, München 2021, S. 98/99.

2 National Security Strategy of the United States, Dezember 2017, https://trumpwhitehouse.archives. gov/wp-content/uploads/2017/12/NSS-Final-12-18-2017-0905.pdf [letzter Zugriff: 03.09.2021].

3 Siehe unter anderem Alan Dupont: „The US-China Cold War Has Already Started“, in: The Diplomat, 08.07.2020, https://thediplomat.com/2020/07/theus-china-cold-war-has-already-started/ [letzter Zugriff: 30.08.2021].

4 Graham Allison: Destined for War. Can America and China Escape Thucydides’ Trap?, Houghton Miflin Harcourt, New York 2017.

5 Siehe zum Beispiel Daniel W. Drezner: „Why the new China consensus in Washington scares me“, in: The Washington Post, 25.07.2019, www.washingtonpost. com/outlook/2019/07/25/why-new-china-consensuswashington-scares-me/ [letzter Zugriff: 30.08.2021].

6 Suisheng Zhao: „The US–China Rivalry in the Emerging Bipolar World: Hostility, Alignment, and Power Balance“, in: Journal of Contemporary China, 13.07.2021, www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/ 10670564.2021.1945733 [letzter Zugriff: 30.08.2021].

 

 

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