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von Yana Prymachenko

Über russische und ukrainische Geschichtsnarrative

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Es hat Symbolcharakter, dass der russische Angriff auf die Ukraine ausgerechnet im hundertsten Jahr nach Gründung der Sowjetunion erfolgte. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) war eine Wiederbelebung des Russischen Reiches, jedoch unter kommunistischer Ideologie und mit totalitärem Anspruch. Die sowjetische Erinnerungskultur war ein Faktor, der das Imperium konsolidierte. Deshalb ist ihre Bewahrung für die Verwirklichung der imperialen Pläne Wladimir Putins von entscheidender Bedeutung. Da das Erbe der Kiewer Rus, die als Vorläufer der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus angesehen wird, ein Schlüsselelement des russischen und sowjetischen Erinnerungsrahmens war, bleibt die Ukraine Kernstück der imperialen Erinnerungskultur.

In den letzten drei Jahrzehnten veränderte sich dagegen die ukrainische Erinnerungskultur dramatisch – von nationaler Amnesie hin zu einer neuen postkolonialen Identität, die auf demokratischen Werten beruht. Einen wichtigen Platz in der ukrainischen Erinnerungskultur nimmt seit jeher der Lyriker und ukrainische Nationaldichter Taras Schewtschenko ein. Während der Feierlichkeiten zu seinem 200. Geburtstag im Jahr 2014 nutzten die Euromaidan-Aktivisten sein antikoloniales Vermächtnis als Manifest. Heute inspirieren seine Gedichte die Ukrainer in ihrem Kampf gegen Russland. Die breite Öffentlichkeit in der Ukraine ist sich dagegen immer noch nicht bewusst, wie tief das „sowjetische Gedächtnis“ den russischen Krieg in der Ukraine beeinflusst.

 

Mythos der „russisch-ukrainischen Brüderlichkeit“

 

Ein wesentlicher Aspekt stellt das Konzept der „Völkerfreundschaft“ dar. Es bildete gewissermaßen einen Eckpfeiler der Gedächtnispolitik der Sowjetunion und sicherte die Existenz des russisch dominierten Sowjetimperiums für siebzig Jahre. Nach einer Frühphase, in der mit der Idee gleichberechtigter und partnerschaftlicher Beziehungen zwischen allen sowjetischen Völkern geliebäugelt wurde, änderte sich jedoch der politische Kurs: Seit den 1930erJahren wurde die Vorstellung der Missionierung und Führung durch das „große russische Volk“ aufgegriffen, und in der Nachkriegszeit wurde sie dominierend.

Die „Völkerfreundschaft“ wurde auf die gesamte Vorgeschichte der Sowjetunion projiziert. Sie sollte das „gemeinsame historische Schicksal“ der sowjetischen Völker demonstrieren und ihre Vereinigung in einem Einheitsstaat rechtfertigen. Der zentrale Platz in der Geschichte der UdSSR gehörte Russland, während die Geschichte der nicht-russischen Völker an das gängige russische Narrativ „angehängt“ wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die territoriale Ausdehnung des Reiches von den Russen als großer Segen erachtet. Zwar erkannte man formal noch den kolonialen Charakter der Zarenpolitik gegenüber den nationalen Randgebieten an, das neue Paradigma verurteilte jedoch die nationalen Befreiungsbewegungen der eroberten Völker gegen den Zarismus als reaktionär oder von ausländischen Mächten inspiriert. Da die Ukraine als „Juniorpartner“ in der UdSSR eine Sonderstellung einnahm, ließ die sowjetische Geschichtsschreibung noch nicht einmal eine Erinnerung an die ukrainischen Aufstände gegen die russische Kolonialherrschaft zu.

Die Sowjetregierung veranstaltete 1954 eine Feier zum 300. Jahrestag der russisch-ukrainischen „Wiedervereinigung“ – des Abschlusses des Vertrags von Perejaslaw. Nach dem damals neuen sowjetischen Narrativ kämpfte das ukrainische Volk im Befreiungskrieg von 1648 bis 1654 für die Befreiung vom „polnischen Joch“ und für die Wiedervereinigung mit dem brüderlichen russischen Volk im vereinigten russischen Staat. Seitdem ist der Mythos der ewigen russisch-ukrainischen Freundschaft und Brüderlichkeit Teil des sowjetischen kulturellen Gedächtnisses geworden. Das imperiale Narrativ richtete die gesamte ukrainische Geschichte auf ein einziges Ziel aus – die Vereinigung mit dem russischen „älteren Bruder“. Diese Teleologie löschte jedes anders gerichtete historische Ereignis aus oder deutete um, was nicht in das Paradigma der „russisch-ukrainischen Brüderlichkeit“ passte.

Alle Persönlichkeiten, die für die ukrainische Unabhängigkeit gekämpft hatten, wurden zu Verrätern erklärt, während historische Persönlichkeiten mit pro-russischer Haltung stets positiv dargestellt wurden, selbst wenn sie Untaten begangen hatten. Drei Persönlichkeiten der ukrainischen Geschichte wurden in der sowjetischen Erzählung zutiefst missachtet und dämonisiert: Iwan Mazepa, Simon Petlura und Stepan Bandera. Die Hauptsünde dieser „Dreifaltigkeit“ war ihr Versuch, die Ukraine in unterschiedlichen historischen Phasen von Russland zu trennen. Das reichte aus, um sie zu Außenseitern zu deklarieren. So wurde das Konzept der „Völkerfreundschaft“ zu einem Ersatz für das „geeinte und unteilbare“ Russland.

 

Ukrainische Antihelden im russischen Narrativ

 

In der sowjetischen Erinnerungskultur nahm Bandera, der als nationalistischer ukrainischer Politiker und Partisanenführer in den 1930er-Jahren und im Zweiten Weltkrieg hervorgetreten war und mit der deutschen Wehrmacht kollaborierte, einen herausragenden Platz ein. Seine umstrittene Biographie ließ ihn zu einem hervorragenden Prototyp für das abstoßende Bild des rücksichtslosen Schlägers werden, das er auch seinen Anhängern vermittelte, die „Banderisten“ genannt wurden. Für das Komitee für Staatssicherheit (Komitet gossudarstwennoi besopasnosti SSSR, KGB) war Bandera ein nützliches Instrument, um die Idee der ukrainischen Unabhängigkeit zu diskreditieren. Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion war Bandera im Ausland besser bekannt als in der Ukraine; dort war sein Name tabu. Die sowjetischen Behörden vermieden es, den Begriff „Banderist“ innerhalb des Landes zu verwenden. So wurde er speziell für die ukrainische Diaspora geprägt. In der UdSSR hingegen wurde jeder Ukrainer, der sich gegen das Regime stellte, als „ukrainischer bürgerlicher Nationalist“ (kurz „UBN“) bezeichnet. Unabhängig von der tatsächlichen politischen Überzeugung konnte jemand zum „UBN“ erklärt werden, wenn seine Aktivitäten die „russisch-ukrainische Brüderlichkeit“ bedrohen konnten.

Seit 2005 hat Russland das alte sowjetische Narrativ wiederbelebt, dem zufolge alle Anhänger einer pro-europäischen Entscheidung in der Ukraine als „Banderisten“ bezeichnet werden. Der Mythos, die Pro-Europäer in der Ukraine seien „Faschisten“, wurde zu einem Eckpfeiler von Putins Erinnerungspolitik. Laut der ukrainischen Linguistin Larysa Masenko ist das Wort „Banderist“ eine direkte Entlehnung aus dem totalitären sowjetischen Neusprech und ein verbaler Ausdruck des größten Hasses auf die Idee der ukrainischen Unabhängigkeit.

 

„Die Ukraine ist nicht Russland“

 

Im Jahr 2003 veröffentlichte Leonid Kutschma, der zweite Präsident der Ukraine, ein Buch mit dem damals provokanten Titel Die Ukraine ist nicht Russland. Die von Kutschma vorgeschlagene Gegenthese sollte den Unterschied zwischen den beiden Ländern erklären, der für die meisten Außenstehenden bisher kaum ersichtlich war. Aufgrund der anhaltenden Russifizierungspolitik sprechen viele Ukrainer weiterhin Russisch, während der Mythos der „russisch-ukrainischen Brüderlichkeit“ in beiden Ländern populär blieb.

Kutschma sah die Probleme, die eine Abspaltung der Ukraine von Russland mit sich bringen würde, voraus. Er kam zu dem Schluss, dass die meisten Russen die Ukraine „historisch gesehen als einen untrennbaren Teil Russlands erachten, der nur durch ein seltsames Missverständnis abgetreten wurde“. Gleichzeitig würden die Ukrainer als nette Dorfbewohner betrachtet, die sich von einigen „Banderisten“ verwirren ließen. Er war der Meinung, dass alle Missverständnisse mit Russland auf einen „Mangel an Wissen und nicht auf eine übermäßige Arroganz“ des ehemaligen Kolonialherrn zurückzuführen seien.

Die Präsentation von Kutschmas Buch in Moskau fiel in eine Zeit, in der Russland Gebietsansprüche gegenüber der Ukraine stellte. Im September 2003 brachte der Konflikt um die Halbinsel Tusla die russisch-ukrainischen Beziehungen an den Rand eines kriegerischen Konflikts. Zum ersten Mal in der neueren Geschichte bedrohte Russland offen die Integrität der Ukraine. Es zeigte sich, dass ein Großteil der russischen Bevölkerung das ehemalige Imperium weiterhin mit Russland verwechselte, obwohl sich die Sowjetunion aufgelöst hatte.

Spätestens mit Beginn der Orangenen Revolution 2004 wurde deutlich, dass die Ukraine nicht zu Russland gehört. Die russische Gesellschaft nahm deren pro-europäische Entscheidung negativ auf und erachtete sie als Verrat des „ehemaligen kleinen Bruders“ – ein Gefühl, das teils tiefe Verbitterung hervorrief. Die Orangene Revolution führte zu einem Wandel in der ukrainischen Erinnerungspolitik und beendete die Koexistenz sowjetischer und ukrainischer Diaspora-Narrative. Der dritte ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko wählte den Holodomor („Tötung durch Hunger“) in der Stalin-Zeit und die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und deren militärischen Arm, die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), zum Hauptthema seiner Geschichtspolitik. Juschtschenko setzte sich für die Ehrung von Mitgliedern der OUN und der UPA ein, was international auf Kritik stieß, da diese während des Zweiten Weltkriegs mit dem nationalsozialistischen Deutschland kollaboriert hatten und an Kriegsverbrechen beteiligt waren.

Seit 2008 versuchte Juschtschenko, die Inhalte der Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus vom 3. Juni 2008 umzusetzen, die sowohl die Verbrechen der Nazis als auch die des Kommunismus verurteilten, während Russland jeden Versuch ablehnte, die sowjetische Geschichte zu revidieren. Die ukrainische Entscheidung, mit dem sowjetischen Erbe zu brechen, erzürnte sogar das russische Regime und führte zu den russisch-ukrainischen „Erinnerungskriegen“. Seitdem stehen sich das russische neoimperiale und das ukrainische postkoloniale Narrativ gegenüber.

 

Bruch mit der Politik der Identitäten

 

Die sowjetisch-imperiale Erinnerungskultur teilte die Ukrainer gemessen an ihrer Loyalität zum Imperium in „unsere Guten“ und „die anderen Bösen“ ein. Juschtschenko versuchte, diese Dichotomie zu überwinden, was ihm teilweise auch gelang. Dank seiner Politik bildete der Holodomor einen integralen Bestandteil der ukrainischen Erinnerungskultur, während Juschtschenkos Versuch, Veteranen des „Großen Vaterländischen Krieges“ und UPA-Soldaten miteinander zu versöhnen, erfolglos blieb. Die posthume Verleihung des Titels „Held der Ukraine“ an Stepan Bandera polarisierte die ukrainische Gesellschaft, die eine widersprüchliche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg bewahrte. Denn die Beurteilung Banderas ist in der Ukraine umstritten. Während er im Osten des Landes ebenso wie in Russland, Polen, aber auch in Israel überwiegend als Kollaborateur mit den Nationalsozialisten und als Kriegsverbrecher angesehen wird, verehren ihn im Westen der Ukraine viele als Nationalhelden.

Nach kurzer Rückkehr zum sowjetisch-imperialen Paradigma während der Präsidentschaft von Wiktor Janukowitsch markierte der Euromaidan – die „Revolution der Würde“ – den Punkt, an dem es in der ukrainischen Erinnerungspolitik kein Zurück mehr gab. Der russische Historiker Ilya Gerasimov definiert den Euromaidan als die erste postkoloniale Revolution, die die Logik fester Identitäten – bürgerlich versus ethnisch oder politisch versus kulturell – überwunden hat. Obwohl die multinationalen Aktivisten des Euromaidan ihre „Ukrainität“ betonten und die wichtigsten Symbole der ukrainischen kulturellen Identität verwendeten, brachen sie mit der Politik der Identitäten. Das Ergebnis: Während Putin und Russland weiterhin über Sicherheit und Identitäten nachdenken, denken die Ukrainer über Modernisierung und Werte nach.

Gerasimov weist darauf hin, dass potenziell einsatzbereite historische Präzedenzfälle und Symbole einen neuen Sinn erhalten haben. Die Ukrainer nutzen die politische Symbolik sowie den historischen Mythos der OUN-UPA und ignorieren dabei den identitätsbezogenen komplexen Nationalismus, der mit dem Erbe Stepan Banderas verbunden ist. Als die russische Propaganda versuchte, die Ukrainer als „Banderisten“ darzustellen, reagierten sie kreativ mit der Erfindung des Memes „zhidobanderobets“: Dieser Begriff basiert auf einem Oxymoron, das die zwei Worte „Jude“ und „Banderist“ vereint und das impliziert, dass auch Juden Anhänger der Ideen von Bandera sein können. Mit „Banderist“ wird jedoch jeder ukrainische Bürger bezeichnet, der eine pro-europäische Entscheidung unterstützt. Auf diese Weise stichelten die Euromaidan-Aktivisten gegen die russischen Propagandisten und zeigten, dass das Prinzip „divide et impera“ nicht mehr funktioniert. Ukrainische Juden entwickelten dieses Meme zu einer sozialen Identität, auf die viele stolz waren. Seit Putin den Krieg in vollem Ausmaß entfesselte, haben Ukrainer damit begonnen, Russen in den sozialen Medien zu „trollen“ und gefälschte Geschichten zu verbreiten, so etwa, dass Bandera persönlich eine der Abteilungen der ukrainischen Streitkräfte anführt.

2014 fand die ukrainische postkoloniale Logik ihre Verkörperung in dem Slogan Edinaya Strana, Iedyna Kraїna, was etwa „Geeintes Land“ bedeutet – einmal in russischer und einmal in ukrainischer Sprache. Dies war die weltanschauliche Antwort der Ukrainer auf die Krim-Annexion und den Krieg im Donbass, der von der russischen Propaganda als „Schutz“ der russischsprachigen Bevölkerung dargestellt wurde.

 

Dekonstruktion des imperialen Narrativs

 

Dieser Slogan stand im Gegensatz zu Putins Narrativ von „einem Volk“, das auf einer „gemeinsamen“ kulturellen Identität beruht, in der die russische Sprache und der Mythos der russisch-ukrainischen Brüderlichkeit eine zentrale Rolle spielen. Bis zum Ausbruch des russischen Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 war die Sprache kaum ein Thema. Jetzt gewinnt sie jedoch an Bedeutung, weil die ukrainische Sprache zu einer Art „Freund-Feind“-Markierung geworden ist, die für das Überleben des Krieges wichtig erscheint. In Putins Artikel „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“, veröffentlicht am 12. Juli 2021 auf der Website der russischen Regierung, bediente er sich des sowjetischen Narrativs vom „Brudervolk“ und der Wiedervereinigung, während die Ukrainer die imperiale Logik nicht mehr akzeptieren. Putin betrachtet Leonid Kutschmas Formel „Die Ukraine ist nicht Russland“ als Bedrohung für das russische imperiale Narrativ, das weiterhin das sowjetische Imperium mit Russland verwechselt. Die ukrainische Entscheidung für Europa wird als ein von Russlands Rivalen inspiriertes Komplott betrachtet, während die unabhängige Ukraine als „antirussisches“ Projekt wahrgenommen wird.

Nach der schweren Niederlage der russischen Truppen in der Nähe von Kyjiv veröffentlichte die Nachrichtenagentur RIA Novosti am 3. April 2022 einen Artikel des russischen Politologen Timofey Sergeytsev mit dem Titel „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“, in dem vorgeschlagen wurde, „das ukrainische Problem durch Völkermord zu lösen“. Die russischen Verbrechen lassen keinen Zweifel an der Dimension dieses Krieges als Völkermord. In seinem Interview am 3. April 2022 mit der Wochenzeitung Die Zeit zum Massaker von Butscha meinte der amerikanische Politologe Eugene Finkel, dass man im Falle der Ukraine von einem Völkermord an der ukrainischen Idee und Staatlichkeit sprechen könne.

Die Komponente des historischen Gedächtnisses ist für das Verständnis des Krieges entscheidend. Deshalb ist das Erste, was die russischen Truppen in den besetzten ukrainischen Gebieten tun, die Verbrennung der ukrainischen Geschichtsbücher. Dies erklärt Putins „irrationale“ Hartnäckigkeit, die „russischen militärischen Ziele“ in der Ukraine um jeden Preis zu erreichen. Seit 2014 ist die ukrainische postkoloniale Erinnerungskultur zu einer Bedrohung für das russische Erinnerungsimperium geworden und hat dessen weitere Dekonstruktion bewirkt. Das neoimperiale russische Narrativ ist gescheitert. Putin konnte die Idee eines freien, demokratischen ukrainischen Staates nicht auslöschen; also beschloss er, die Anhänger dieser Idee auszulöschen.

 

Yana Prymachenko, geboren 1979 in Tschernihiw (Ukraine), Research Fellow, Institut für Geschichte der Ukraine, Nationale Akademie der Wissenschaften, Kyjiv.

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