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von Judith Froese

Zur Integrationskraft unserer Verfassung und zu ihrer Zukunftstauglichkeit

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In diesem Jahr begehen wir das 75-jährige Jubiläum des Grundgesetzes. Als Provisorium war es gedacht, mit der Wiedervereinigung ist es zur Verfassung aller Deutschen geworden. Und auch wenn Artikel 146 Grundgesetz (GG) auf die Offenheit des Grundgesetzes für Alternativen zu seiner selbst verweist: Solche zeichnen sich nicht annähernd ab. Das Grundgesetz hat sich – wie es immer wieder heißt – „bewährt“.

Ein Jubiläum ist ein Grund zum Feiern, gibt jedoch auch Anlass für einen prüfenden Blick. Dies gilt besonders für das diesjährige Jubiläum. Die gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen für Staat und Gesellschaft sind vielfältig: Der Klimawandel und die notwendige sozial-ökologische Transformation, die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und Europas, die fortschreitende wie ubiquitäre Digitalisierung und die Steuerung der Migration stellen nur einige der Bewährungsproben dar. Ist das Grundgesetz für diese gerüstet, ist es zukunftstauglich?

Das Grundgesetz ist ein starrer Text. Änderungen des Verfassungstextes sind möglich; sie bedürfen zwar einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat, unterliegen damit aber keinen unüberwindbaren Hürden. Änderungen machen eine Verfassung aber nicht notwendigerweise besser – im Gegenteil: Sie tendieren zuweilen dazu, detailgenaue Regelungen einzuführen; durch die „Hochzonung“ von Einzelfragen auf die verfassungsrechtliche Ebene werden diese der künftigen politischen Gestaltung weitgehend entzogen. Es bleibt dann bei einer Änderung der politischen Mehrheitsverhältnisse wiederum nur die Möglichkeit der Verfassungsänderung.

 

Dynamik und Wandelbarkeit

Als flexibleres Instrument erweist sich demgegenüber die Auslegung des Grundgesetzes. Der starre Text fungiert als living instrument und kann sich auf diese Weise gewandelter Herausforderungen annehmen. Das Bundesverfassungsgericht als diejenige Instanz, der das Grundgesetz die Aufgabe der verbindlichen Letztentscheidung zuweist, steht vor der Herausforderung, das Grundgesetz mit Blick auf die Fragen unserer Zeit auszulegen, ohne sich zu stark vom Text zu lösen.

Die Offenheit des Grundgesetzes macht den 75 Jahre alten Text zu einer modernen, zukunftsweisenden Verfassung. Die Aktualität ist allerdings nicht ohne Risiken: Offenheit birgt zugleich die Gefahr der Beliebigkeit und der Unterwerfung unter den Zeitgeist. Dynamik und Wandelbarkeit sind ein Drahtseilakt. Dies gilt auch für die Herleitung eines Zukunftsschutzes durch das Grundgesetz. Der intertemporale Freiheitsschutz, den das Bundesverfassungsgericht im Klimabeschluss1 als Vorgabe der Grundrechte begründete, verpflichtet den Staat dazu, in der Gegenwart für einen Schutz der Zukunft zu sorgen. Bei aller Berechtigung der eingeforderten Zukunftsbezogenheit: Sie stellt nicht frei von verfassungsrechtlichen Bindungen in der Gegenwart. Auch Politik und Gesellschaft sind gefragt: Ihre Aufgabe erschöpft sich nicht in der Akzeptanz und Befolgung der verfassungsrechtlichen Vorgaben einschließlich der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. In der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“2 wirken sie an der Auslegung und Weiterentwicklung des Grundgesetzes mit.

 

Resilienz des Grundgesetzes

Unmittelbar herausgefordert ist auch die Verfassung selbst, weil die Errungenschaften des Grundgesetzes angesichts des Erstarkens populistischer und extremistischer Kräfte infrage gestellt werden. In der Folge erscheinen die Grundpfeiler der Verfassung – Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – fragil und vulnerabel.

In seiner Ausgestaltung als wehrhafte beziehungsweise streitbare Demokratie soll das Grundgesetz Angriffe auf das eigene Wertsystem verteidigen können. Die Instrumente des materiellen Verfassungsschutzes des Grundgesetzes, namentlich Parteiund Vereinsverbote sowie die Grundrechtsverwirkung, sind gegenwärtig aktueller denn je. Das Bundesverfassungsgericht formulierte strenge verfahrens- und materiellrechtliche Vorgaben an das Parteiverbot als „schärfstes Schwert“ im Kampf gegen Verfassungsfeinde; die Grundrechtsverwirkung kennt bislang keinen positiv beschiedenen Anwendungsfall.

Der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist nicht allein dem „Selbstschutz“ des Grundgesetzes übertragen, sondern in hohem Maße auf Politik und Gesellschaft angewiesen. Als freiheitliche Ordnung erzwingt das Grundgesetz die Loyalität zu seinen eigenen Werten nicht. Es baut aber auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen.3 Der ethische Bedarf reicht damit weiter als die Rechtsgesetze des Gemeinwesens.4 Der Schutz des Grundgesetzes ist auf die Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Werte durch die Bürger angewiesen. Wie können das Grundgesetz und die involvierten Akteure das Gelingen dieser Verfassungsvoraussetzung begünstigen?

In einer Zeit, in der das Grundgesetz in bislang ungekanntem Maße fragil und vulnerabel erscheint, ist es vielen Menschen ein Anliegen, sich zu den zentralen Werten des Grundgesetzes zu bekennen: Die zahlreichen Demonstrationen der letzten Monate verfolgen nicht die für Versammlungen typischen politischen Ziele, sondern treten gegen Rechtsextremismus und für die Demokratie, das heißt letztlich für die Verfassung selbst, ein. In der Mobilisierung der Bürger liegt ein wichtiges Element der Widerstandsfähigkeit der Verfassung. Das große Vertrauen, das das Grundgesetz in die Bürger setzt, zeigt sich darin, dass es freiheitlich ausgestaltet ist und die Infragestellung seiner eigenen Werte zulässt. Es schafft keine Gesinnungsgemeinschaft; als streitbare Demokratie verwehrt es den Bürgern jedoch Angriffe auf die freiheitliche demokratische Grundordnung. Im Kampf gegen die Verbreitung totalitärer, extremistischer und menschenverachtender Ideologien setzt es primär auf die „Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe“.5

Eine freie Auseinandersetzung bedarf lebhafter Debatten – auch über den Umgang mit extremistischen politischen Kräften. Derartige Debatten drohen zuweilen unter Verweis auf das Verfassungsrecht, das – vermeintlich – eindeutige Antworten liefere, nicht geführt oder vorschnell beendet zu werden.

 

Integrationskraft der Verfassung

Das Grundgesetz ist kein bloßes „Ensemble von Rechtsnormen“6; ihm kommt auch eine integrative Funktion zu. Damit es diese Funktion nachhaltig erfüllen kann, muss es seine ethischen Vorgaben auf ein Minimum begrenzen. Denn die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes gewährleistet zugleich die Pluralität der Lebensentwürfe, Anschauungen und Überzeugungen. Die vielfach konstatierte Individualisierung und Diversifizierung7 der Lebensstile fordern die Verständigung auf eine gemeinsame, integrative Grundlage zusätzlich heraus.

Das Grundgesetz verlangt den Bürgern einen Grundkonsens ab. Dieser kann indes nur ein abstrakter und minimaler sein: Er beinhaltet die drei zentralen, abstrakten Grundwerte der Verfassung – die Menschenwürde als Basis, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit –, stellt sie unstreitig und setzt sie als „Geschäftsgrundlage“8 voraus. Nur dasjenige, das zur Gewährleistung eines freiheitlichen und demokratischen Zusammenlebens „schlechthin unverzichtbar ist“, muss „außerhalb jedes Streits“9 stehen.

 

Konsens und Streit

Das Grundgesetz enthält damit jedoch keine Absage an Auseinandersetzung und Streit. Die abstrakte Verständigung auf Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vermag konkrete Streitfragen kaum aufzulösen. Das Grundgesetz setzt vielmehr die Verständigung auf einer gemeinsamen Grundlage voraus. Auf der Basis dieser Geschäftsgrundlage lassen sich Konflikte produktiv austragen.10

Das Spektrum dessen, was Gegenstand von Auseinandersetzung und Streit bleibt, ist breit. Von „links“ bis „rechts“ deckt es alles ab, was den Grundkonsens nicht aufkündigt. Dies gilt es zuweilen ins Bewusstsein aller Beteiligten – Politik und Gesellschaft einschließlich der Medien – zu rufen. Auseinandersetzungen gilt es in einer Demokratie zu führen, auch wenn sie anstrengend und langwierig sein können und Konsens mitunter nicht erreichbar ist.

Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Debatten ist in jüngerer Zeit vermehrt die hinreichende Resilienz des Grundgesetzes. So wird insbesondere vorgeschlagen, das Bundesverfassungsgericht stärker im Grundgesetz abzusichern. Lediglich auf den ersten Blick ist das Bezweifeln der hinreichenden Widerstandsfähigkeit Ausdruck schwindenden Vertrauens in das Grundgesetz. Tatsächlich zeigt sich hierin umgekehrt ein großes Zutrauen in die Leistungsfähigkeit des Verfassungsrechts. Ob sich das Grundgesetz weiterhin bewähren wird, hängt allerdings auch von den Akteuren ab, die es verwirklichen. Dies gilt auch für den Schutz des Grundgesetzes vor Angriffen auf seine Werte.

Judith Froese, geboren 1985 in Köln, seit 2021 Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Nebengebieten, Universität Konstanz.
 

1 BVerfGE 157, 30, Beschluss des Ersten Senats vom 24.03.2021.
2 Peter Häberle: „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten: Ein Beitrag zur pluralistischen und ‚prozessualen‘ Verfassungsinterpretation“, in: Juristenzeitung, 30. Jg., Nr. 10, 16.05.1975, S. 297 ff.
3 BVerfGE 124, 300 (320), Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 09.11.2011.
4 Josef Isensee: „Verfassung als Erziehungsprogramm?“, in: Aloysius Regenbrecht (Hrsg.): Bildungstheorie und Schulstruktur, Münster 1986, S. 190 (S. 198).
5 BVerfGE 124, 300 (320), siehe En. 3.
6 Uwe Volkmann: Grundzüge einer Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 2013, S. 9.
7 Siehe nur: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin 2017.
8 Uwe Volkmann, a. a. O., S. 56, siehe En. 6.
9 BVerfGE 144, 20, 205; BVerfG, Urteil vom 23.01.2024 – 2 BvB 1/19 –, Rn. 248.
10 Siehe hierzu im Kontext der Einwanderungsdebatte: Judith Froese: „‚Einheit in der Vielfalt‘ zwischen Individuen, Gruppen und Gemeinwesen“, in: Daniel Thym (Hrsg.): Deutschland als Einwanderungsland, Tübingen 2024, S. 209, insbes. S. 227 ff.

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