Was wäre 2015 ohne Internet passiert? Die Botschaft „Wir schaffen das“ ging einher mit Bildern von Millionen flüchtender Menschen, die sich plötzlich in Bewegung setzten – in Richtung Europa. Viereinhalb Jahre später unterschreibe ich diesen Satz der Bundeskanzlerin weiterhin. Runde Tische entstanden, man musste über künftige Aufgaben und ihre Verteilung nachdenken, und all das führte zu einem Sprung ins kalte Wasser.
Jahre vorher hatte ich mich um obdachlose Menschen und Brandopfer gekümmert, Spendenaufrufe sorgten für die notwendigen Dinge und halfen weiter. Ab Januar 2015 standen dann die ersten Menschen aus zig Nationen vor uns, die erst einmal in Lohmar bleiben sollten. Mit Händen und Füßen verständigten wir uns, gemeinsam ging es an die Abholung von Spendenmöbeln, damit wir ein „Zuhause“ schaffen konnten. Soziale Medien boten enorme Hilfe, Unterstützer waren schnell gefunden. Noch heute – Jahre später – bin ich ein großer Fan von Mitwirkung. Die Menschen, die wir damals einbezogen haben, die durch ihre Arbeit mitbestimmen konnten, welche Möbel sie bekamen, haben sich bei uns besonders gut integriert.
Sofortiges Erlernen der deutschen Sprache wurde in den von der Gemeinde organisierten Kursen ermöglicht. In einem Gewächshaus wurden Bekleidungsspenden gesammelt, eine alte Scheune diente als provisorisches Möbellager. Städtische Lagerkapazitäten gab es keine. Um jeden LKW-Transport mussten wir kämpfen, und so war es nicht weiter verwunderlich, dass mein damaliger PKW in sechs Monaten rund 10.000 Kilometer zurückgelegt hatte. Ohne nennenswerte Unterstützung organisierten wir alles, was gebraucht wurde, und halfen dort, wo es nötig war. Nach sechs Monaten Willkommenskultur gab ich – als Ehrenamtler für die Stadtverwaltung – entnervt auf und wurde über Facebook selbst initiativ: Ein Flüchtlingsnetzwerk Lohmar musste her, um Freiwillige aus dem weiteren Umkreis zu vernetzen.
Mitte 2015 entstanden neue Aufgaben. Turnhallen wurden für die ankommenden Menschen zwischenzeitlich zu einem neuen Zuhause. Für diese Erstaufnahmen wurden Dolmetscher gesucht. Unmengen Kleidung waren notwendig. Mit einer Handvoll Menschen, Schülern aus den internationalen Klassen des Berufskollegs als Dolmetscher, ging es los.
Meine damalige Zeit im Katastrophenschutz des DRK Köln war mir eine Riesenhilfe. Unsere Hilfsorganisationen vor Ort kümmerten sich um Erstaufnahmen. Wenn um 23.00 Uhr ein Anruf kam und etwa die Ankunft von 150 Menschen um 05.00 Uhr morgens in Halle X ankündigte, riefen wir über soziale Netzwerke zu Spenden auf, richteten Spendenannahmestellen ein und organisierten einen Shuttle. Alle Helfer wurden zusammengetrommelt, und los ging es. Nach der Erstaufnahme wurde dann die Organisation der Kleiderkammer an die jeweilige Stadt übergeben – und dann weiter zum nächsten Ort.
Während des ganzen Sommers 2015 organisierten wir im gesamten Rhein-Sieg-Kreis die logistische Unterstützung von Hallen zur Unterbringung von 150 bis 300 Menschen. Wir waren „Wandervögel“, die mit einem enormen Aufwand an Zeit und Fahrtkosten – die nie erstattet wurden – loslegten.
Versichert waren wir ebenfalls nicht, da wir ohne öffentlichen Auftrag unterwegs waren, und sogar die Hepatitis-Impfungen der Helfer mussten selbst finanziert werden. Zur Gründung eines gemeinnützigen, eingetragenen Vereins blieb keine Zeit.
Drei Monate lang unterhielten wir mit rund fünfzig Helfern in Siegburg eine Sammelstelle für Spenden, im hiesigen Schulzentrum Neuenhof wurden 300 Menschen zunächst dauerhaft in einer Turnhalle untergebracht. Der Materialbedarf war enorm.
Aufgrund einer Neuvermietung mussten wir im Herbst 2015 dort ausziehen und standen mit 8.000 Kartons Spendenmitteln auf der Straße.
1.500 Euro Fahrgeld, Helferverpflegung und Verpackungsmaterial waren von uns selbst finanziert werden. Erstattung Fehlanzeige. Die Firma Thurn in Troisdorf stellte uns kostenlose Lagermöglichkeiten in einem Hochregallager zur Verfügung. Bis 2018 wuchs unser Lagerbestand auf 359 Paletten, rund 200 Tonnen Bekleidung. Ein erneuter Umzug mit Unterstützung des THW Bonn-Beuel führte uns ins Gewerbegebiet Stadtpark nach Troisdorf. Hier unterhalten wir nun Hallenlagerflächen von rund 900 Quadratmetern.
Inzwischen gibt es auch eine Arbeitseingliederung für motivierte zugewanderte Menschen, die über ein bestimmtes Deutsch-Level (mindestens A2) verfügen. Nach einem Praktikumseinsatz in unserem Lager erfolgt eine Vermittlung mit Probearbeit in Ausbildung oder Festanstellung. Fünfzehn Ausbildungsverträge und rund dreißig Vollzeitstellen gingen 2018 auf unser Konto. Viele 450-Euro-Stellen wurden für Teilnehmer noch laufender Deutschkurse gefunden. Jeder, der bei uns mitarbeitet, erhält darüber hinaus Unterstützung bei der Wohnungssuche und -einrichtung.
Auch unsere Obdachlosenarbeit haben wir dabei nie aus den Augen verloren. Inzwischen verteilen sechs Helfergruppen in Köln und Bergisch Gladbach rund 450 warme Mahlzeiten pro Woche. Administrativ werden diese Gruppen mit Material aus unserem Lagerbestand und mit Fremdmitteln zum Lebensmitteleinkauf unterstützt. Ich selbst betreue zwanzig obdachlose Menschen, die auf einem Campingplatz leben.
Die Vernetzung mit allen lokalen Sozialträgern im Umkreis und allen Sozialkaufhäusern ermöglicht eine bürokratiefreie Arbeit. Wir bieten soziale Praktika für Schüler der umliegenden Schulen sowie Suchtberatung an.
Der Finanzaufwand unserer Initiative „Lohmar hilft“ ist inzwischen auf runde 24.500 Euro angestiegen, wobei darin die Kosten für die Lagerhallenmiete nicht enthalten sind. Allein schon aus dieser fiskalischen Notwendigkeit heraus ist die Gründung eines gemeinnützigen Vereins als „e.V.“ nun überfällig.
Der NRW-Finanzminister hat mir in einem „netten“ Brief mitgeteilt, dass das, „was Sie da treiben“, eine „Liebhaberei“ sei. Würden mir nicht jeden Tag gut integrierte Menschen begegnen, die heute nach fast viereinhalb Jahren mit beiden Beinen im Leben stehen, deren damals kleine Kinder inzwischen auf dem Weg zum Abitur sind, die Weihnachten mit uns zusammen feiern oder einfach zu Freunden geworden sind, würde ich ihm möglicherweise recht geben.
„Wir schaffen das“ ist auch 2019 noch ein Thema. Die Zusammenarbeit mit Behörden hat sich entscheidend verbessert, wir sind alle aufeinander eingespielt; sogar mit den Stadtverwaltungen ist eine Zusammenarbeit inzwischen fast ohne Reibungsverlust möglich.
Im Sommer 2018 richtete ein Großbrand in Siegburg neben einer Trasse der Deutschen Bahn an sieben Häusern enorme Schäden an. Durch unser Lager konnten wir alle Betroffenen schnell versorgen; die Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung lief so gut ab, dass in nur zwei Wochen über fünfzig Wohnungen zur Unterbringung evakuierter Bewohner gefunden wurden, zwanzig LKW-Ladungen Spendenmöbel und neun Tonnen Bekleidungsspenden verarbeitet werden konnten. Die Häuser sind inzwischen wieder aufgebaut, und wir stehen immer noch in Kontakt zu den damaligen Betroffenen. Wir schaffen das …
Manu Gardeweg, geboren 1964 in Bergisch Gladbach, Versicherungskauffrau mit Ausbildereignung, seit 1999 freiberuflich als Dozentin in der Erwachsenenbildung, Berufsbegleiterin und private Arbeitsvermittlerin (ehrenamtlich mit Schwerpunkt Asylrecht für ihre Klienten) tätig.
Flüchtlingsnetzwerk Lohmar