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von Stefan Donth

Die Ideologie der SED-Diktatur

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Die Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland ist seit der Oktoberrevolution 1917 mit Russland und seit 1922 mit der Sowjetunion eng verbunden. Kommunisten in beiden Staaten leiteten ihren Herrschaftsanspruch aus den Schriften von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin ab und errichteten auf dieser Grundlage eine Weltanschauungsdiktatur. Diese als „Marxismus-Leninismus“ glorifizierte Ideologie prägte über Jahrzehnte das Beziehungsgeflecht der kommunistischen Parteien in Deutschland und in der Sowjetunion und damit in einem besonderen Ausmaß die deutsche Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Worauf aber fußte diese Ideologie, die als „wissenschaftliche Weltanschauung“ propagiert wurde?

Marx und Engels hatten im 19. Jahrhundert eine Deutung der Geschichte formuliert, die sich angeblich hin zu einer kommunistischen Gesellschaft ohne Klassen, Eigentum und Herrschaft entwickle. Daraus ergebe sich für die Arbeiterklasse eine historische Mission, diese tiefgreifenden Veränderungen zu verwirklichen. In einem ihrer bekanntesten Texte – dem 1848 veröffentlichten Manifest der Kommunistischen Partei – rechtfertigten sie „despotische Eingriffe“, um das in ihren Augen demokratische und humanistische Endziel zu erreichen.

„Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“ – mit diesen Worten knüpfte Lenin 1913 an die Lehrsätze seines deutschen Vorbildes an.1 Da in Russland eine nennenswerte Arbeiterklasse fehlte, könne nur eine „Partei neuen Typs“ die sozialistische Gesellschaft aufbauen. Die hier organisierten Berufsrevolutionäre müssten die Macht erobern und danach rücksichtslos verteidigen. Ideologische Geschlossenheit, eiserne Disziplin und eine zentrale, straffe Führung bildeten den Markenkern einer Partei, die ein totalitäres Herrschaftssystem erschaffen sollte. Lenin betrachtete Menschen als Instrument der Politik, die sich der Führung durch die Partei unterzuordnen hätten.

 

„Kurzer Lehrgang“ zur Diktatur

 

Josef Stalin spitzte die ideologische Fundierung weiter zu. Wie vor ihm bereits Lenin erkannte er, dass sich die auf Marx und Engels zurückgehenden Thesen herrschaftspolitisch instrumentalisieren ließen. Er formulierte klar, worin die eigentliche Funktion der Ideologie bestand: Nunmehr gehörten die führende Rolle der Partei und die Notwendigkeit des Kampfes gegen Abweichungen – darunter verstand Stalin jede Position, die die von ihm beanspruchte Legitimität seines allumfassenden Machtanspruchs gefährden könnte – zu den nicht nur für alle Parteimitglieder, sondern für die gesamte Bevölkerung verpflichtenden Glaubenssätzen. Mit seiner These, der Klassenkampf verschärfe sich im Sozialismus, ließ der Diktator keinen Zweifel daran, dass er die von ihm definierte Weltanschauung auch mit Gewalt durchsetzen werde. Dieses sich aus den Lehren von Marx, Engels und Lenin speisende Politikverständnis gipfelte in den Massenmorden der Stalin’schen Säuberungen.

Am 14. November 1938 beschloss das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), diese Lehrsätze und Dogmen fortan als „Marxismus-Leninismus“ zu bezeichnen. Im gleichen Jahr erschien erstmals der Kurze Lehrgang der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Das Werk fand in den nächsten Jahrzehnten weltweit starke Verbreitung. Der „Marxismus-Leninismus“ als Partei- und Staatsideologie lieferte verbindliche Interpretationen und Handlungsanweisungen für alle Lebensbereiche und Wissenschaftsgebiete. Er galt obligatorisch für jede Partei, die den Führungsanspruch der KPdSU anerkannte.

Die Wirkmacht des Kurzen Lehrgangs ist kaum zu überschätzen. Der Marxismus-Leninismus postuliert eine historische Gesetzmäßigkeit der Geschichte und trifft wissenschaftliche Aussagen über die Zukunft. Die von der Partei und ihren Kadern erkennbaren Gesetzmäßigkeiten im Ablauf der Geschichte wiesen den Kommunisten den Weg hin zu einer sozialistischen Gesellschaft. Diesem Geschichtsmodell kommt eine zentrale Bedeutung für die Legitimation der kommunistischen Herrschaft in der Ausprägung einer Parteidiktatur zu. Viele Argumentationsmuster und Begründungszusammenhänge, die Stalin selbst in die Schrift einfügen ließ, prägten das Denken des Funktionärskorps – der Kader – und der Anhängerschaft kommunistischer Parteien bis zum Untergang der von ihnen beherrschten Staaten am Ende des 20. Jahrhunderts.

 

„Gute und ernste Schüler Stalins“

 

Nach ihrem Sieg im Zweiten Weltkrieg baute die Sowjetunion in dem von ihren Truppen besetzten Teil Deutschlands schrittweise eine Gesellschaft nach Stalins Vorgaben auf. Zuerst wurde die Sozialdemokratie mit der Zwangsvereinigung von Kommunistischer Partei Deutschlands (KPD) und Sozialdemokratischer Partei Deutschlands (SPD) zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im April 1946 als eigenständiger politischer Akteur beseitigt. Danach erfolgte die Gleichschaltung der beiden bürgerlichen Parteien, der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDP) und der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU). Schließlich setzte die sowjetische Besatzungsmacht die SED als führende Partei durch – zuerst in ihrer Besatzungszone und seit 1949 in der aus ihr hervorgegangenen DDR – und bestimmte den Marxismus-Leninismus als verbindliche ideologische Grundlage ihrer Politik. Ein wichtiger Schritt dahin war 1948 die Proklamation der SED zur „Partei neuen Typs“ nach dem Vorbild der KPdSU. Die zweite DDR-Hochschulreform schrieb 1951 den Marxismus-Leninismus als Pflicht-Lehrfach für alle Studierenden fest. 1952 erschien schließlich der Kurze Lehrgang mit Stalins Leitsätzen in der DDR – bis 1956 erreichte die Auflage über eine Million Exemplare.

Die ideologische Zuverlässigkeit gehörte zu den wichtigsten Anforderungen, die die SED an ihre Kader stellte. Jede Abweichung vom geltenden Kurs rief die Zentrale Parteikontrollkommission auf den Plan. Ihr Vorsitzender, Hermann Matern, gab 1950 die Linie vor: „Stalin, das ist der Fortsetzer des Marxismus-Leninismus, und […] wir alle wollen gute und ernste Schüler Stalins sein, und wir werden keine Anstrengungen scheuen, Stalinisten zu werden.“2

Das blieben keine leeren Worte – trotz aller Kurswechsel nach dem Tod Stalins 1953: Eine Entstalinisierung erfolgte nur halbherzig. Zwar endete 1956 nach dem XX. Parteitag der KPdSU der Personenkult. Doch die ebenfalls verkündete „Wiederherstellung der Prinzipien des Marxismus-Leninismus“ zementierte die Dogmen, die fortan weiter die Politik im sowjetischen Machtbereich prägten. Deshalb wirkte der Stalinismus auch in der DDR lange nach. Dem SED-Politbüro, dessen Zusammensetzung der XI. Parteitag 1986 – drei Jahre vor dem Untergang – bestimmt hatte, gehörten als stimmberechtigte Mitglieder ausschließlich Männer an, die ihre politische Sozialisation unter Stalin erfahren hatten. Sie sprachen von sich als „Siegern der Geschichte“.

Über alle Brüche und Kurswechsel während ihrer Herrschaft hinweg glaubte die SED fest daran, dass sich die Geschichte nach einem von Marx, Engels und Lenin unterstellten gesetzmäßigem Ablauf hin zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung vollzöge. Entsprechend ihrem Programm war die Politik der SED „auf die weitere allseitige Stärkung des sozialistischen Staates der Arbeiter und Bauern als einer Form der Diktatur des Proletariats gerichtet“.3 Auch die Verfassung stellte in Artikel 1 unmissverständlich klar: Die DDR ist ein „sozialistischer Staat […] unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“. Daraus leitete die SED-Spitze ihren historischen Auftrag ab, ihre Vorstellungen mit allen Mitteln durchzusetzen.

 

Tausende in eigenen Stasi-Gefängnissen

 

Die Sowjetunion konnte die sozialistische Diktatur in der SBZ/DDR nur gewaltsam und mit einer Vielzahl von Repressionsmaßnahmen errichten. Dazu baute die sowjetische Geheimpolizei das Ministerium für Staatssicherheit (MfS, kurz Stasi) zu einem schlagkräftigen Herrschaftsinstrument der SED aus, wählte die Kader gezielt aus und ertüchtigte sie für ihre Aufgaben – gerade auch durch die Vermittlung des ideologischen Rüstzeugs. Besonderes Gewicht legte die SED-Führung auf die Geschlossenheit ihrer Geheimpolizei, die sich als „Schild und Schwert“ der Partei verstand. Neben dem Marxismus-Leninismus bildete der sogenannte „Tschekismus“ ein weiteres Erbgut der Stasi. Dieser wichtige Terminus des MfS-Vokabulars bezog sich auf die 1917 gegründete sowjetische Geheimpolizei Tscheka4 und stand für die Umsetzung der Vorgaben, die aus der Sowjetunion und von der SED kamen, ein klar gegen den Westen gerichtetes Feindbild sowie ein nahezu unbegrenztes repressives geheimpolizeiliches Instrumentarium.

Aus den marxistisch-leninistischen Glaubenssätzen leiteten die Spitzen von SED und MfS ab, dass Repression und in letzter Konsequenz auch der Einsatz von Gewalt legitime Instrumente der Politik darstellten, mit denen der – laut Marx, Engels und Lenin – gesetzmäßige Sieg des Sozialismus über kapitalistische Gesellschaften durchgesetzt werden musste. Folgerichtig agierte die Stasi als „spezielles Organ der Diktatur des Proletariats“.5 Dieser Ausrichtung folgend, verstanden sich die Angehörigen des MfS als „Weltanschauungskämpfer“.

Ursachen für Fehlentwicklungen und ihr Scheitern bei der Einlösung von Wohlstandsversprechen suchte die SED-Führung nicht im Marxismus-Leninismus, sondern führte sie auf Defizite bei ihren Kadern sowie auf ideologische Einflüsse aus dem Westen zurück. Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, baute die Parteispitze das MfS zur „Ideologiepolizei“ aus. Seit Mitte der 1950er-Jahre erfasste, bespitzelte und bekämpfte der Staatssicherheitsdienst jegliches von der Parteilinie abweichendes Verhalten als sogenannte „politisch-ideologische Diversion“. DDR-Bürger, die sich den aus dem Marxismus-Leninismus abgeleiteten Vorgaben der SED nicht unterordneten, rückten nun in den Fokus der Stasi: Die Geheimpolizei überzog die von ihr ausgemachten „Feinde des Sozialismus“ mit eigens entwickelten Überwachungs- und Zersetzungsmaßnahmen, die bis zur Inhaftierung Tausender Frauen und Männer in den siebzehn MfS-eigenen Untersuchungsgefängnissen führten.

Trotz der enormen Anstrengungen, mit denen die SED das Fundament ihrer Herrschaft zu sichern versuchte, scheiterte die Partei: Als spätestens Ende der 1970er-Jahre die inneren Bindungskräfte des Marxismus-Leninismus in Partei und Gesellschaft aufgrund ausbleibender ökonomischer Erfolge nach und nach schwanden, konnte auch der Tschekismus seine Legitimationsfunktion geheimpolizeilichen Handelns immer weniger erfüllen. Der Friedlichen Revolution und den Forderungen der Bürgerinnen und Bürger der DDR nach einem selbstbestimmten Leben – ohne ideologisches Korsett, aber stattdessen in Freiheit, Demokratie und Wohlstand – vermochten SED und Stasi schließlich nichts mehr entgegenzusetzen. Der Marxismus-Leninismus landete auf dem Müllhaufen der Geschichte.

 

Der Ideologie entgegenarbeiten

 

Die politische Verfolgung im Sozialismus wirkt bis heute nach. Zwar konnte die Situation der Opfer nach der Wiedervereinigung in den letzten drei Jahrzehnten deutlich verbessert werden – doch viele Menschen leiden noch immer an dem ihnen zugefügten Unrecht. Die Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur beim Deutschen Bundestag setzt sich mit großem Engagement dafür ein, dass gesundheitliche Folgeschäden politischer Verfolgung besser anerkannt werden und ein bundesweiter Härtefallfonds für die Opfer eingerichtet wird. Sie benennt auch den beträchtlichen Forschungsbedarf, der insbesondere zu den Folgen der Verfolgung für die Betroffenen besteht.

Diese Unterstützung ist für die weitere Aufarbeitung von großer Bedeutung: Vierzehn vom Bund geförderte Forschungsverbünde beschäftigen sich mit den Strukturen der SED-Diktatur. Mit der Repression und den Auswirkungen der Ideologie befasst sich der interdisziplinäre Verbund „Landschaften der Verfolgung“, in dem neben der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen mehrere Universitäten, Erinnerungsorte und Aufarbeitungsinitiativen kooperieren. Ein Teilvorhaben der Charité untersucht, in welchem Ausmaß politisch motivierte Repression zur Traumatisierung und damit zu langandauernder körperlicher und psychischer Beeinträchtigung bei den Betroffenen führt.

Die Fortführung der Verbünde ist wichtig, weil Forschungsergebnisse mit modernen Bildungsformaten an junge Menschen vermittelt werden müssen – auch, um dem Fortwirken der marxistisch-leninistischen Ideologie entgegenzuarbeiten. Dabei kommt den Gedenkstätten als authentischen Orten der Verfolgung eine Schlüsselrolle zu. Und dazu gehört auch, dass die Opfer bei der Aufarbeitung der Diktatur zu Wort kommen. Dafür arbeitet seit 2011 das bundesfinanzierte Koordinierende Zeitzeugenbüro (KZB) als gemeinsame Servicestelle der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, der Stiftung Berliner Mauer und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Das KZB organisiert Zeitzeugengespräche zur DDR-Geschichte an Schulen und weiteren Bildungseinrichtungen. In jährlich über 1.000 Veranstaltungen sensibilisieren Zeitzeugen mehr als 25.000 junge Menschen für das während des Sozialismus begangene Unrecht und stärken damit ihr Demokratiebewusstsein. Bereits jetzt müssen die Weichen gestellt werden, um die Begegnung mit Zeitzeugen auch über deren Lebensspanne hinaus durch den Einsatz digitaler Technik zu ermöglichen und für künftige Generationen weiter erlebbar zu machen.

 

Stefan Donth, geboren 1968 in Dresden, 1999 Promotion mit einer Arbeit über die Politik von Sowjetischer Militäradministration und SED in Sachsen zur Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen von 1945 bis 1952, seit 2016 Bereichsleiter an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, seit 2019 Stellvertretender Sprecher des Forschungsverbundes „Landschaften der Verfolgung“.

 

1 Wladimir Iljitsch Lenin: Drei Bestandteile des Marxismus [1913]. Werke, Bd. 19, Berlin (Ost) 1977, S. 3.
2 Hermann Matern auf der V. Landesdelegiertenkonferenz der SED Sachsen am 1./2.7.1950, zit. nach: Mike Schmeitzner / Stefan Donth: Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD/SED in Sachsen 1945–1952, Köln 2002, S. 414.
3 Programm der SED, Berlin (Ost) 1976, S. 40.
4 Russische Abkürzung für: Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage.
5 Erich Mielke: „Mit hoher Verantwortung für den zuverlässigen Schutz des Sozialismus [1975]“, in: Jens Gieseke: Die DDR-Staatssicherheit. Schild und Schwert der Partei, Bonn 2001, S. 6.

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