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TikTok und andere Social Media in der Journalistenausbildung

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Für die einen sind Social Media Bühne für Journalismus, für andere die größte Konkurrenz – im schlimmsten Fall Zerstörer. Sicher ist: Social Media sind weltweit Arena für Meinungsmache, Manipulation und Radikalisierung. Wer heute Journalist werden will, muss diese Arena verstehen und sich darin sicher bewegen – auch im Namen von Freiheit und Demokratie. An der Axel Springer Academy of Journalism & Technology sind Social Media längst Teil des journalistischen Alltags. Unsere Volontärinnen und Volontäre lernen, wie TikTok funktioniert, wie man Instagram-Reels produziert, auf welche Weise YouTube Geschichten erzählt. Es geht um Reichweite, Dramaturgie, Sprache. Aber genauso wichtig ist die andere Seite: Wie entlarve ich Fake News? Wie erkenne ich einen Deepfake? Wie bewerte ich die Quelle hinter einem viralen Post?

Diese Medienkompetenz ist keine Kür mehr – sie ist Grundvoraussetzung. Journalisten müssen in der Lage sein, im Sekundentakt zu entscheiden: vertrauenswürdig oder manipuliert? Faktenbasiert oder Meinungsmache? Denn durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, Deepfakes und automatisierten Netzwerken wird es immer schwerer, Wahrheit und Fälschung zu unterscheiden. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz müssen den Journalismus deshalb aber nicht schwächen, im Gegenteil. Sie können Journalisten und damit auch ihren Umgang mit Social Media besser machen. Das trainieren wir an der Journalistenschule – in Workshops, in denen wir KI-gestützte Tools einsetzen, aber auch die Hintergründe kritisch beleuchten. Und wir machen Soziale Medien selbst zum Inhalt unserer Projekte – wir untersuchen dort, wie sie funktionieren, welche Gefahren entstehen und wie man sie gleichzeitig journalistisch nutzen kann.

Journalismus immer wieder neu zu denken und nicht nur anzupassen – das bedeutet: Social Media als Werkzeug einzusetzen, ohne die Mechanismen kritiklos hinzunehmen. Dabei ist es besonders wichtig, die Unabhängigkeit zu bewahren.

 

Laboratorium der Gegenwart

In unserer Journalistenschule werden regelmäßig Konferenzen zu aktuell relevanten Themen abgehalten. Die Volontärinnen und Volontäre bringen Themen mit, die in ihren bevorzugten Medien, aber auch in ihren Feeds auftauchen. Wir diskutieren, ob ein viraler Trend politisch relevant ist, wie ein TikTok-Kommentar Stimmung macht und wie wir journalistisch damit umgehen sollten. Es geht nicht darum, nur Inhalte zu bewerten oder die eigene Meinung zu verbreiten. Es geht auch nicht nur um Theorie, sondern in erster Linie um die Praxis: Wie können Journalisten agieren, reagieren, Plattformen klug nutzen? Wie können sie Machtstrukturen aufzeigen, die die Plattformen nutzen, um die Demokratie zu schwächen?

Insbesondere diese morgendlichen Konferenzen sind ein Ort der Reibung. In ihnen treffen die Lebenswelten der jungen Journalistinnen und Journalisten – geprägt durch die ständige Social-Media-Nutzung – auf den Anspruch, Themen und Sachverhalte professionell und kritisch zu hinterfragen. Ein virales Meme kann genauso Thema werden wie eine umstrittene politische Kampagne. Oft führt das zu spannenden Debatten: Ist das bloß Unterhaltung – oder schon Meinungsmache? Und wie viel Meinung ist gut? Wie funktioniert überhaupt ein Kommentar mit Substanz? Diese Diskussionen machen deutlich, dass journalistische Ausbildung heute kein Schonraum ist, sondern ein Übungsfeld für die Auseinandersetzungen, die in der richtigen Welt und im digitalen Raum stattfinden.

Oft sind diese Konferenzen ein Laboratorium der Gegenwart, in dem selbstkritische Fragen gestellt werden: „Wie gehe ich damit um, wenn meine Freunde Inhalte teilen, die ich als gefährlich empfinde?“ Oder: „Wie unterscheide ich zwischen einer harmlosen Provokation und einer gezielten Desinformationskampagne?“ Und: „Wie verhalte ich mich, wenn ich auf Social Media angegangen werde?“ Weil die Antworten selten eindeutig sind, sind diese Diskussionen so wertvoll, denn sie zeigen: Journalistinnen und Journalisten müssen nicht nur Informationen prüfen, sondern auch eine Haltung entwickeln.

 

Antworten auf Radikalisierungstendenzen

Ein Beispiel ist unser Projekt Radikalviral.de, das jüngst in der Welt am Sonntag, auf WELT.de und Welt TV vorgestellt und diskutiert worden ist. Es zeigt, wie Social Media Radikalisierung beschleunigen. Die Volontäre untersuchten die Beiträge rechter, linker und islamistischer Influencer, ihre Methoden, ihre Reichweiten und ihren Erfolg. Sie analysierten, wie Algorithmen das Extreme bevorzugen – und wie schwer es für Politik und Gesellschaft ist, gegenzuhalten.

Dazu wurde ein eigenes Scrollytelling veröffentlicht, Videoporträts, Texte, Kommentare und auch eine dreiteilige Podcast-Serie: Die erste Folge porträtiert eine neue „Mischszene“ – bestehend aus Gruppen mit unterschiedlichen Ideologien, die plötzlich geschlossen auf Demonstrationen auftreten. Die zweite Folge erzählt die Geschichte eines politischen Influencers, der sich öffentlich von seiner extremistischen Vergangenheit lossagt. Dabei wird die Frage gestellt: Wie glaubwürdig ist diese Wandlung, wenn sie vor allem in den sozialen Medien stattfindet? In der dritten Folge werfen die Volontäre einen Blick auf Biographien von Horst Mahler bis Jürgen Elsässer: Figuren, die in ihrem Leben radikale Lager wechselten, aber stets extreme Feindbilder pflegten – und zwar ohne Social Media.

In dem Projekt wird sichtbar: Extremisten verstehen Social Media oft besser als Demokraten. Erstere spielen mit Algorithmen, Memes, viralen Formaten – und erreichen damit Jugendliche schneller, als es die klassische Bildungsarbeit kann. An dieser Stelle beginnt unsere Aufgabe: aufklären, erklären, Öffentlichkeit schaffen.

In einem zweiten Schritt hat unser Projekt Radikalviral.de Ministerien und Behörden mit dem Thema Radikalisierung in sozialen Medien konfrontiert: Was tut ihr gegen digitale Radikalisierung? Die Antworten waren teilweise ernüchternd. Ja, das Problem sei erkannt. Aber die Strategie bleibt vage. Unsere Volontäre haben daraus in einem Kommentar folgende Forderungen entwickelt:

Erstens: Klare Regeln für Plattformen – Inhalte schneller löschen, Verstöße härter sanktionieren.

Zweitens: Medienkompetenz in Schulen – Kinder und Jugendliche brauchen Wissen über Algorithmen und digitale Manipulation.

Drittens: Digitale Aufklärung direkt in den Feeds – sichtbar, glaubwürdig, dauerhaft.

Die Einschätzung unserer Volontäre ist eindeutig: Extremisten handeln entschlossen, die Politik nicht. Das Projekt zeigt auch, wie sehr Ausbildung und gesellschaftliche Verantwortung ineinandergreifen. Für die Volontäre ist das keine abstrakte Übung, sondern eine Auseinandersetzung mit einer Realität, die sie in ihren eigenen Timelines beobachten. Radikalviral.de ist damit nicht nur ein journalistisches Projekt, sondern auch ein Teil gelebter Demokratiebildung.

 

7. Oktober – kein Weg zurück

In dem Projekt 7. Oktober – kein Weg zurück haben wir eine Überlebende des Terrorangriffs auf Israel und ehemalige Geisel der Hamas im Livestream auf Instagram sprechen lassen – bewusst auf einer Plattform, die sonst oft für Unterhaltung, Lifestyle oder kurze Clips genutzt wird. Ziel war, die Dimension der Ereignisse vom 7. Oktober 2023 in Echtzeit und unmittelbar in einem Format zu vermitteln, das nah an der jungen Zielgruppe ist.

Dieser Ansatz wurde mehrfach ausgezeichnet: für den Mut, eine solch ernste und komplexe Geschichte in den digitalen Raum zu holen, und für die Konsequenz, nicht nur auf klassische Medienkanäle zu setzen. Für die Volontäre war das Projekt eine prägende Erfahrung: Sie haben gelernt, wie man Social Media als journalistisches Instrument einsetzen kann – und dass man gerade dort, wo Oberflächlichkeit herrscht, auch Tiefe und Relevanz schaffen kann.

Auch das Projekt Reports of Resistance ist ein Beispiel für diesen Ansatz. Es zeigt kurze Filme über Dissidenten in Autokratien auf YouTube – schnell, präzise und in den Anfängen von ChatGPT schon 2023 mithilfe von Künstlicher Intelligenz visuell stark erzählt. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die Widerstand leisten: gegen Unterdrückung, gegen Gewalt, gegen den Verlust demokratischer Freiheiten. Die Volontäre haben recherchiert, gefilmt, geschnitten – und ihre Ergebnisse in einer Form präsentiert, die der Logik von YouTube folgt. Prägnante Videos, die sofort verständlich sind und dennoch Substanz haben. Sie wollten beweisen, dass man auf Plattformen, die oft von Belanglosem dominiert werden, sehr gut journalistische Inhalte setzen kann.

Es ist spannend zu beobachten, dass junge Journalisten oft selbst Creator sind, sie teilen ihr Leben und zeichnen ein detailreiches und offenes Bild von sich – reflektieren jedoch diese Rolle zugleich kritisch. Genau das tun unsere Schüler in ihren Projekten. Sie entwickeln im besten Fall Formate, die Reichweite erzeugen und Haltung transportieren. Dabei nutzen sie Künstliche Intelligenz für Recherche und Produktion – und lernen gleichzeitig: KI kann täuschen, KI halluziniert. Glaubwürdigkeit entsteht nicht durch Fehlerlosigkeit, sondern durch den offenen Umgang mit Fehlern. Auch das wird geübt: Fehler korrigieren, transparent sein.

Zugleich ist festzustellen: Die Grenzen zwischen Journalisten, Influencern, Podcastern oder YouTubern verschwimmen zunehmend. Das muss kein Nachteil sein. Wenn Journalismus die eigenen Talente sichtbar macht, seine Autorinnen und Autoren zu „Creator-Persönlichkeiten“ werden lässt, kann daraus eine neue Stärke erwachsen.

Warum ist das alles so entscheidend? Weil Social Media längst nicht mehr nur eine Spielwiese sind, sondern ein politischer Faktor. Mehr als siebzig Prozent der 14- bis 29-Jährigen in Deutschland nutzen TikTok regelmäßig. Diese Plattformen prägen Meinungen, setzen Themen, beeinflussen Wahlentscheidungen. Das kann man nicht allein in Deutschland, sondern weltweit beobachten: In den USA spielte TikTok im Wahlkampf eine Rolle. In Brasilien organisierte sich ein Teil der Protestbewegung fast ausschließlich über WhatsApp und Instagram. In Frankreich breiten sich Fake News über Telegram-Kanäle schneller aus, als klassische Medien reagieren können. Diese Beispiele zeigen: Wer Social Media ignoriert, verliert den Anschluss – politisch wie journalistisch. Die Konsequenz ist klar: Medienbildung muss integraler Bestandteil der journalistischen Ausbildung sein. Besonders deshalb, weil unsere Schulen bei der Digitalisierung so weit hinterherhinken, dass die Vermittlung von Medienkompetenz an den meisten Schulen kaum stattfindet. Für die Gesellschaft und insbesondere für die „Mitte-Parteien“ ist das Thema eine Herausforderung. Wer nur sachlich informiert, während Extreme emotionalisieren, verliert den Kontakt zur jungen Generation. Das Gleiche gilt für Medien: Wer neutral bleiben will, ohne Haltung zu zeigen, wird nur wenig wahrgenommen.

Journalistische Ausbildung ist also mehr als Handwerk. Sie ist auch ein Schutzraum, in dem man üben kann, wie man sich in der Arena behauptet. Unsere Volontärinnen und Volontäre lernen, wie man Reichweite erzeugt – und zugleich Verantwortung übernimmt. Sie erfahren, wie sie mit Social Media umgehen. Und dass Künstliche Intelligenz dabei helfen kann, wenn man sie anwendet, und nur dann schadet, wenn man es nicht tut. Denn TikTok und andere Social Media sind mehr als nur ein Hype.

 

Miriam Krekel, geboren 1977 in Nürnberg, Leiterin der Journalistenschule, „Axel Springer Academy of Journalism & Technology“, Berlin.