Asset-Herausgeber

von Friedrich C. Püttmann

Die Türkei und die syrischen Flüchtlinge

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Gastfreundschaft heißt auf Türkisch misafirperverlik, und sie genießt einen hohen Stellenwert in der Türkei. Zu ihren Attributen gehört, dass der Gastgeber keinen Eigennutz aus ihr zieht – abgesehen von der Ehre und Freude, die ihm der Empfang des Gastes bereitet. Dieses Prinzip machte sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zu eigen, als 2011 die ersten Syrer in die Türkei flohen. So fungiert die Wortschöpfung misafir-mülteci („Gastflüchtling“) als eine türkische Variante der deutschen „Willkommenskultur“. Diese Wortwahl soll dazu beitragen, die öffentliche Akzeptanz der Aufnahme von Hilfesuchenden zu erhöhen. Gleichzeitig liegt darin eine klare Abgrenzung gegenüber der Europäischen Union (EU), die weniger Flüchtlinge als die Türkei aufnimmt.

Mit einer Gesamtzahl von dreieinhalb Millionen Menschen beherbergt die Türkei weltweit die meisten Geflüchteten. Lager wie auf Lesbos gibt es keine. Das ist eine enorme humanitäre Leistung, die international breite Anerkennung findet. Die anfängliche Gastfreundschaft hat allerdings innerhalb der türkischen Bevölkerung im Zuge der inzwischen enorm gewachsenen ökonomischen Probleme rapide abgenommen. Es ist auch kein Zufall, dass in der Türkei von „Gast“ gesprochen wird, um die Begrenzung des Aufenthalts deutlich zu machen. Eine baldige Rückkehr der Flüchtlinge wird jedoch angesichts der anhaltenden bewaffneten Konflikte in Syrien und der gefestigten Macht von Bashar al-Assad zunehmend unwahrscheinlich. Schon jetzt wohnen lediglich zwei Prozent der syrischen Flüchtlinge in der Türkei in Camps.

Trotz Kritik von links und rechts sowie der bekannten Probleme in der Umsetzung hat das EU-Türkei-Abkommen von 2016 Wirkung gezeigt. Erstens sind die irregulären und oftmals tödlich endenden Überquerungen über die Ägäis auf ein Minimum gesunken. Zweitens ist mithilfe der europäischen Finanzhilfen die Lebenssituation vieler syrischer Geflüchteter in der Türkei verbessert worden. Achtzig Prozent dieser Gelder werden von internationalen Hilfsorganisationen in der Türkei verwendet. Die übrigen zwanzig Prozent fließen an die türkischen Ministerien für Bildung und Gesundheit, damit syrische Geflüchtete sowohl zur Schule als auch zum Arzt gehen können. Die Mehrheit der Europäer möchte kein „zweites 2015“ erleben.

Zuwanderung und Flucht in die Europäische Union sollen geordnet und gesteuert werden. Vielen Menschen ist gleichzeitig die Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der Europäischen Konvention für Menschenrechte und das Wohl der Flüchtlinge wichtig. Daher engagiert sich Deutschland für eine Fortsetzung beziehungsweise Erneuerung des Migrationsabkommens mit der Türkei.

 

Furcht vor Repressionen im Heimatland

 

Die Mehrzahl der syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge in der Türkei strebt eine Weiterreise nach Europa nicht mehr an. Wenn das eigene Kind besser Türkisch als Arabisch spricht, bleibt der Wunsch, nach Europa zu gehen, nur dann bestehen, wenn es vor Ort keine Zukunftsperspektiven gibt. Auch die Absicht, nach Syrien zurückzukehren, ist gering. Etwa die Hälfte der Flüchtlinge bevorzugt es, in der Türkei zu bleiben; ein weiteres Drittel erwägt die Rückkehr nach Syrien nur im Falle eines Regimewechsels. Vielen Geflüchteten geht es nicht nur darum, ob in ihrer Heimatregion noch Krieg herrscht oder ihr Hab und Gut zerstört oder enteignet wurde: Sie fürchten sich vor Repressionen durch das Regime oder den Einzug ihrer wehrpflichtigen Söhne in die Armee für einen Krieg gegen das eigene Volk. In einem Spitzelstaat wie dem syrischen können allein Gerüchte zu Inhaftierungen und Folter führen, belegen Studien der International Crisis Group. Aufgrund dessen möchten die meisten Syrer trotz der prekären Verhältnisse in der Türkei bleiben. Doch dies trifft in der türkischen Gesellschaft inzwischen auf breite Ablehnung.

Repräsentative Erhebungen seit 2019 zeigen, dass 82 Prozent der türkischen Bevölkerung eine Abschiebung aller syrischen Flüchtlinge befürworten. Als Motive werden wirtschaftliche Gründe und die Sorge um die öffentliche Sicherheit genannt. Etwa siebzig Prozent sind der Auffassung, dass die syrischen Flüchtlinge die Identität der Türkei veränderten und eigene Werte und Traditionen bedrohten. Die Vorstellung, dass die syrischen Geflüchteten im geografisch nahen und gleichermaßen mehrheitlich sunnitisch-islamischen Nachbarland Türkei in ihrem „Kulturkreis“ seien und somit eine gesellschaftliche Aufnahme leichter sei als in Europa, wird von über achtzig Prozent der türkischen Bevölkerung aktuell nicht mehr geteilt. Sie geben an, keinerlei kulturelle Ähnlichkeiten zwischen sich und den syrischen Nachbarn feststellen zu können.

 

Mythen über eine angebliche Bevorteilung

 

Wie sich die türkische Gesellschaft im Alltag gegenüber den syrischen Geflüchteten positioniert, bedarf einer tiefer gehenden Forschung. Die Gespräche vor Ort zeigen jedoch, dass sich eine gewisse Wut breitgemacht hat. Sie wurzelt auch darin, dass die türkische Gesellschaft in sich selbst zunehmend polarisiert und gespalten ist. So werden die Geflüchteten zum Politikum. Während die einen erzürnt darüber sind, dass durch ihre Anwesenheit für Arbeit im informellen Sektor, der in der Türkei ein Drittel des Gesamtarbeitsmarktes ausmacht, noch niedrigere Löhne bezahlt werden, fürchten säkulare Türken, dass der Präsident die neuen „Mitbewohner“ als weiteren Baustein seiner gesellschaftlichen Transformation der Türkei hin zu einem religiös-konservativeren Land verwenden könnte. Der daraus resultierende Nationalismus und Rassismus, der sich zudem aus historischen Narrativen über „Araber als solche“ sowie Mythen über eine angebliche Bevorteilung der Flüchtlinge speist, macht eine Integration der Geflüchteten umso schwieriger. Stattdessen sehnen sich viele Menschen in der Türkei nach einer türkisch kontrollierten Sicherheitszone in Nordsyrien, um Entlastung zu schaffen. Für Europa bedeutet dies aber, dass dort ein vitales Interesse daran besteht, dass die Integration der syrischen Geflüchteten in der Türkei gelingt. Doch wie könnte das gehen?

Abseits der großen Politik sind lokale Integrationsversuche in der Türkei längst Realität. Die heutigen Herausforderungen sind nicht mehr die einer temporären Versorgung, sondern die einer allgemeinen Entwicklungs- und Sozialpolitik. Das weiß auch Ankara. Führende Migrationswissenschaftler des Landes, wie etwa Murat Erdoğan von der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul, betonen, dass für die Türkei die Vorteile einer nationalen Integrationsanstrengung die Nachteile überwögen. Die Ungewissheit, in der sich die „Gastflüchtlinge“ derzeit befinden, erzeugt für sie und ihr Umfeld erhebliche Probleme. Was jetzt benötigt wird, ist Planungssicherheit für alle. Wenn eine Erneuerung des EU-Türkei-Abkommens verhandelt wird, könnten Deutschland und die Europäische Union sich einbringen, um einen Integrationsprozess zu befördern. Das ginge zum Beispiel mit den drei „K“.

 

Internationale Kooperation auf kommunaler Ebene

 

Im Interesse der Europäischen Union ist es, nicht auf ewig zum Geldgeber für die Geflüchteten in der Türkei zu werden. Das erfordert eine sukzessive Übergabe der Kompetenzen in die Hände des türkischen Staates. Dagegen gibt es jedoch politische Vorbehalte. Einen effektiven Ausweg würde die verstärkte internationale Kooperation auf kommunaler Ebene darstellen, die beiden Seiten – der Europäischen Union und der Türkei – als Kompromiss entgegenkäme. Während die Türkei bislang vor allem die Binnen- und Auswanderung kennt, haben deutsche Kommunen im Bereich der Zuwanderung und Integration viele Erfahrungen gesammelt. Diese könnten miteinander geteilt werden. Erste Pilotprojekte gibt es bereits: So arbeitet die Stadt Frankfurt am Main mit dem türkischen Eskişehir und der Berliner Bezirk Treptow-Köpenick mit der Grenzstadt Kilis zusammen an Konzepten zur Flüchtlingsintegration. Das bringt auch die Zivilgesellschaften Europas und der Türkei näher zusammen und fördert die internationale Verständigung. Der Anteil der aktuellen Mittel, der für solche kommunalen Projekte verwendet wird, ist allerdings verschwindend gering. Ein signifikanter Mittelausbau wäre lohnenswert.

Die Regierenden türkischer Metropolen wie Fatma Şahin, AKP-Bürgermeisterin der Grenzstadt Gaziantep, die über eine halbe Million Geflüchtete aufgenommen hat, bekunden ebenfalls ihren Wunsch nach einer stärkeren Einbindung der Kommunen in eine Neuauflage des Abkommens. Denn bei ihnen liegt sowohl die zur Integration notwendige Infrastruktur als auch das Know-how. Auch die zentralstaatlichen Strukturen der türkischen Republik sind kein wirkliches Hindernis: Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) zum Beispiel arbeitet bereits regelmäßig mit türkischen Kommunen unter Aufsicht der Ministerien zusammen. Schließlich ist noch ein weiteres „K“ hier von Wichtigkeit: Kontinuität. Viele Hilfsorganisationen in der Türkei beklagen die wenig nachhaltigen, kurzen Bewilligungsfristen von teilweise gerade einmal drei Monaten. So sind Ärzte und Sozialarbeiter teils mehr mit EU-Formularen beschäftigt als mit der eigentlichen Arbeit und überbrücken Finanzierungslücken durch ehrenamtliches Engagement. Von Planungssicherheit kann keine Rede sein. Eine längerfristige Einbindung der Kommunen könnte auch diesem Problem Abhilfe schaffen.

Um europäische Finanzmittel in Zukunft zielgerichteter der „sozialen Harmonie“, wie die Türkei die Integration vorzugsweise nennt, zukommen zu lassen, könnten diese Gelder im Rahmen der genannten kommunalen Kooperation an das Prinzip der Konditionalität gebunden werden. Das heißt: Nur Städte und Gemeinden, die sichtliche Bemühungen zeigen, Aufnahmegesellschaft und Geflüchtete zusammenzubringen, werden finanziell gefördert. Die erfolgreichsten Maßnahmen könnten anschließend mittels einer Best-Practice-Studie identifiziert und auf andere Städte übertragen werden. Ein solcher Ansatz ist nicht unproblematisch, da die Türkei ihn als Eingriff in innere Angelegenheiten interpretieren könnte. Es kommt deshalb auf diplomatisches Geschick an. Derartige Social Cohesion-Projekte gibt es schon: Viele Maßnahmen der internationalen Hilfsorganisationen in der Türkei verfolgen bereits dieses Ziel. Ein besonderer Aspekt könnten außerdem Mikrokredite für türkisch-syrische Start-ups sein. Diese würden die Logik europäischer Wissenschaftsförderung, bei der Mittel nur an kooperierende Forschungseinrichtungen verschiedener EU-Mitgliedstaaten vergeben werden, auf die Wirtschaft übertragen. So könnten zum einen Jobs sowohl für die syrischen Flüchtlinge als auch für Türken geschaffen und zum anderen gegenseitige Vorurteile überwunden werden. Mitarbeiter der International Labour Organisation berichten von ermutigenden Beispielen einer solchen Annäherung durch Zusammenarbeit. Für eine erfolgreiche Integration ist die Einbeziehung der Aufnahmegesellschaft unabdinglich. Die syrische Flüchtlingskrise macht deshalb das Wohlergehen der türkischen Wirtschaft auch zu einem europäischen Interesse.

Sprechen wir über Flüchtlinge in Deutschland, erwähnen wir Migration und Integration in einem Atemzug. Sprechen wir hingegen über jene außerhalb Europas, liegt der Fokus auf dem Migrationsmanagement. Dass Integration in Drittstaaten jedoch dazugehört, zeigt der Fall der Türkei. Das Land steckt in einer tiefen Krise, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Das wirkt sich auch auf Europa aus. Die Syrien- und Migrationskrise wird noch für lange Zeit nicht nur ein türkisches Problem sein. Europäische Verantwortung ist gefragt. Die Erneuerung des EU-Türkei-Abkommens ist daher eine Chance, die wir nutzen sollten, das Abkommen zu verbessern und nachhaltige Lösungen anzustreben. Eine Möglichkeit sind die drei „K“.

 

Friedrich C. Püttmann, geboren 1992 in Lüneburg, Gastwissenschaftler am „Istanbul Policy Center“ und Doktorand am Europäischen Institut der „London School of Economics“ (LSE), zuvor tätig als Analyst für Gerald Knaus, für das Türkei-Referat des Europäischen Auswärtigen Dienstes und für das Auslandsbüro Türkei der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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