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Antisemitismus als ideologisches Wesensmerkmal im Rechtsextremismus

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Bereits zu Beginn ihres Opus magnum Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft brachte die jüdische politische Theoretikerin Hannah Arendt auf den Punkt, was sowohl am Anfang als auch am Ende jeder Betrachtung über den Antisemitismus festgestellt werden muss: „Der Antisemitismus ist genau das, was er zu sein vorgibt: eine tödliche Gefahr für Juden und nichts sonst.“1 Mit diesem Diktum richtet sie zu Recht den Blick auf die grausame Quintessenz des Antisemitismus, die sich in unverzeihlicher Menschenverachtung und archaischer Gewalt manifestiert. Natürlich ist es dennoch so berechtigt wie notwendig, durch wissenschaftliche Forschung die zugrunde liegenden „Traditionslinien“ dieses Irrationalismus auszuleuchten, denn zweifellos ist Antisemitismus nicht einfach eine quantifizierbare Summe von Straftaten, sondern vor allem eine boshafte Verschwörungstheorie, die ebenso alt wie vital ist. Seine Ressentiments, Stereotype und Ideologeme überdauern die Jahrhunderte und liegen als dunkler Schatten auf der europäischen Kulturgeschichte. Tradierte judenfeindliche Bilder- und Motivwelten werden im Rahmen neuer sozialer Kontexte verändert, variiert und mit zeitgenössischen Sichtweisen verknüpft. Es wurden historisch bereits viele vorgeschobene Gründe für den Hass konstruiert, aber es wird sich nicht eine einzige schlüssige Begründung finden lassen, die ihn auf ein legitimes Fundament stellen könnte.

Offenkundig benötigt der Antisemitismus für seine Existenz und Vitalität keine exklusive Bindung an eine spezifische extremistische Ideologie. Vielmehr ist er die obsessive Pflege eines Ressentiments, das historisch freilich in viele weltanschauliche Rahmenerzählungen gekleidet wurde. In der Betrachtung des Phänomens wurde dadurch fatalerweise allzu oft der Fokus auf die antisemitischen Narrative statt auf die dahinterstehenden Tätergruppen gerichtet. Deshalb muss immer wieder betont werden: „Die Geschichte des Antisemitismus ist die Geschichte der Antisemiten.“2


Grundmerkmal des Rechtsextremismus

Das Bundesamt für Verfassungsschutz richtet seinen Blick konsequent auf die Täter. Antisemitismus ist eine weite Pforte in den Extremismus und damit nach wie vor ein wirkmächtiger Gefahrenquell für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Wir benennen öffentlich die Akteure von judenfeindlicher Hetze und leuchten die verfassungsschutzrelevanten Ausprägungen des Antisemitismus umfassend aus. Unsere Lagebilder3 bestätigen, dass er bei auffallend vielen Feinden der Demokratie in unterschiedlicher Intensität virulent ist, auch im Ausländer- und Linksextremismus. Zweifelsohne ist er ein dominantes Element in den islamistischen Ideologiesträngen – und unverkennbar fester Bestandteil aller rechtsextremistischen Ausdrucksformen.

Bereits seit dem 19. Jahrhundert ist der Antisemitismus innerhalb des deutschsprachigen rechtsnationalistischen Spektrums fest verankert und in völkischen, nationalistischen, rassistischen sowie sozialdarwinistischen Ausprägungen wirkmächtig geworden. Während mit der Zäsur von 1945 unverstellter Judenhass eine gesellschaftliche Ächtung erfuhr und in der bürgerlichen Sphäre allenfalls in Andeutungen, Codes und Chiffren verbalisiert wurde, ist der Antisemitismus ungebrochen ein ideologisches Grundmerkmal des Rechtsextremismus. Obwohl auch dieser Phänomenbereich durch unterschiedliche Akteure, Organisationsformen sowie Verbreitungswege gekennzeichnet ist und folglich diverse Ausdrucksformen des antisemitischen Ideologems aufweist, fungiert jedoch gerade der Antisemitismus als multidimensionale Klammer für die einzelnen Strömungen.

Durch die negative Abgrenzung vom Feindbild wird in altbewährter Manier die Gruppenidentität gestärkt; zugleich werden durch die ebenso bewährten Verschwörungserzählungen über „den ewigen Juden“ als Strippenzieher hinter dem komplexen Weltenlauf die eigenen weltanschaulichen Orientierungshilfen stabilisiert. Dies legt wiederum den Grundstein für die Agitation gegen das bestehende politische System, das angeblich – durch dunkle jüdische Machenschaften korrumpiert und fehlgeleitet – die Interessen des eigenen Volkes sabotiere. Im letzten Schritt empfiehlt man sich entsprechend beim bürgerlichen Wähler als wütendes Sprachrohr und vorgeblich einzig legitime Repräsentanz des verratenen Volkskörpers, verbunden mit der Hoffnung, latente judenfeindliche Einstellungen innerhalb der Bevölkerung aktivieren zu können.


Doppelfunktion des Antisemitismus

In der konkreten Praxis beobachten wir im gewaltorientieren Rechtsextremismus, dass offen artikulierter Antisemitismus auf breite Zustimmung stößt. Insbesondere im Internet besitzt er zentrale Bedeutung bei der Definition der Zielfläche im Rahmen von Anschlagsabsichten. Neben der Bejahung, Verharmlosung oder gar Leugnung des Holocaust werden Verschwörungsideologien verbreitet oder ihre Versatzstücke kombiniert, um vermeintlich von Juden gelenkte globale Eliten beispielsweise mit der Zuwanderung von Geflüchteten in Verbindung zu bringen. Auch die COVID-19-Pandemie ist von rechtsextremistischen Agitatoren in einschlägigen Medien in den uralten Mythos einer jüdischen Weltverschwörung eingebettet worden.

Derartig konnotierte Verschwörungserzählungen – etwa vom sogenannten „Großen Austausch“ der einheimischen Bevölkerung – werden ebenfalls von rechtsextremistischen Parteien rezipiert und verbreitet. Hier findet sich anschaulich die genannte Doppelfunktion des Antisemitismus wieder, Deutungsmuster für gesellschaftspolitische Entwicklungen zu stiften und diese ideologisch gehärteten Narrative in fundamentale Gegnerschaft zur bestehenden Ordnung zu positionieren. Gleichwohl üben sich Parteien wie „Die Heimat“ – bis Juni 2023 unter dem Namen „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) – oder „Der III. Weg“ oftmals in strategischer Zurückhaltung. Antijüdische Argumentationsmuster und Codes dominieren gegenüber der direkten Verbalisierung von Judenhass. Ähnlich verhält es sich bei dem heterogenen und vorwiegend informellen Netzwerk der Neuen Rechten, dessen Protagonisten rechtskonservative bis rechtsextremistische Positionen vertreten, und teilweise antidemokratische Motive sowie verfassungsfeindliche Zielsetzungen verfolgen. Offener Antisemitismus zählt zwar nicht zu den Kernbotschaften dieser uneinheitlichen Strömung. Doch auch hier werden codierte antisemitische Anspielungen in Verschwörungserzählungen platziert, die Gründungsgeschichte Israels bewusst entstellt sowie Krisenszenarien mit angeblicher jüdisch-israelischer Urheberschaft heraufbeschworen, um den Forderungen nach Maßnahmen zur „Remigration“ oder zur Überwindung der bestehenden Erinnerungskultur Nachdruck zu verleihen.


Digitalisierter Ideologietransfer

Eine unverkennbar antisemitische Gesinnung ist hingegen integraler Bestandteil der völkisch-neonazistischen Organisationen und rechtsextremistischen Siedlungsbestrebungen. Durch die Annahme einer homogen imaginierten Kultur des deutschen Volkes werden jüdische Menschen nicht nur als „Fremdkörper“, sondern explizit als Feinde gewertet und behandelt.

Während derartige Gruppierungen zum Teil recht abgeschottet agieren, beunruhigt zweifellos die enorme Präsenz des Antisemitismus im digitalen Raum. In hochdynamischen Gruppen auf einschlägigen Plattformen wird die gesamte ideologische Bandbreite des Rechtsextremismus mit den jeweiligen Ausprägungen des Antisemitismus in Musik, Texten, Bildern oder Videos bedient – von codierten Andeutungen bis hin zu brachialem und strafrechtlich relevantem Judenhass. Auch sogenannte unkonventionelle Plattformen, am bekanntesten der Mikrobloggingdienst Gab, die Imageboards Kohlchan und 4chan, das Videoportal Bit Chute und Gamingplattformen wie Steam und Discord, sind dazuzuzählen.

Einmal mehr erweisen sich die sogenannten sozialen Medien und digitalen Kommunikationsplattformen als Nährboden für die giftige Saat von Hass und Verschwörungstheorien. Das Netz steigert nachweislich die Reichweite derartiger Propaganda, die Anzahl ihrer Rezipienten, die Verrohung der Sprache und Radikalisierungsprozesse. Erinnert sei in diesem Kontext an den Anschlag am 9. Oktober 2019 auf eine Synagoge in Halle zu Jom Kippur, als ein deutscher Rechtsextremist mit Schusswaffen und Sprengstoff möglichst viele Gottesdienstbesucher ermorden wollte. Die Tat von Halle kann als ein Musterbeispiel für eine globalisierte Form des Antisemitismus und einen digitalisierten Ideologietransfer angesehen werden.


Verantwortung für die Sicherheit jüdischen Lebens

Unser Grundgesetz – das dieses Jahr sein 75-jähriges Bestehen feiern durfte –, ist das unverrückbare Versprechen, dass alle Staatsgewalt nie mehr gleichgültig gegenüber Verbrechen an der Menschlichkeit sein darf! Denn davon, welches Unheil Antisemiten mit ungezügelter Machtfülle bewirken können, legt bekanntlich die deutsche Geschichte ein bitteres Zeugnis ab. Die Vernichtungslager des sogenannten Dritten Reiches stehen für den bodenlosen moralischen Abgrund, in den antisemitischer Rassismus und Völkermord einst führten. Und im Oktober 2023 entsetzten die Weltöffentlichkeit die Terrorakte der Hamas auf israelischem Boden, die auf verstörende wie empörende Weise erneut einen barbarischen antisemitischen Vernichtungswillen manifestierten und ganze Landstriche mit hundertfachem Mord und Totschlag überzogen. Ebenso empörend ist die Tatsache, dass seither sowohl auf den Straßen als auch auf den virtuellen Marktplätzen des Internet neben ehrlicher Bestürzung auch unverhohlene Freude über das Leid dieser Opfer Ausdruck findet.

Das Gefühl der Verstörung und Empörung darf jedoch nur der erste Impuls sein, der uns zu weiteren Handlungen bewegt, denn der Antisemitismus wird in seinen mannigfaltigen Ausdrucksformen weiter bestehen, solange seine menschenfeindlichen Narrative durch Antisemiten genährt und verbreitet werden. Wir müssen Angriffe auf unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger auch als Angriff auf uns selbst begreifen – auf unsere Freiheit und auf die Würde unserer gemeinsamen freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Deshalb stehen alle Demokratinnen und Demokraten besonders in der Pflicht, sie mit allen Mitteln der wehrhaften Demokratie zu schützen – sowie aktiv Verantwortung für die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland zu übernehmen, anstatt sie nur zu beschwören. Dies ist die Lehre aus unserer Geschichte – und die Maxime für unsere Gegenwart.

Thomas Haldenwang, geboren 1960 in Wuppertal, Jurist, seit 2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
 

1 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 9. Auflage, München 2003, S. 38.
2 Jan Philipp Reemtsma: „Antisemitismus – Was gibt es da zu erklären?“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Nr. 25-26/2024, S. 4–10, S. 8; vgl. dazu auch ebd., S. 5.
3 Siehe dazu im Folgenden: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): Lagebild Antisemitismus, Köln, Juli 2020, sowie Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): Lagebild Antisemitismus 2022/23, Köln, Mai 2024.


Anmerkung der Redaktion:
Dies ist der dritte Teil einer Reihe von Beiträgen zum Thema „Antisemitismus“. Verfasser des ersten Teils dieser Reihe war Marko Martin: „Im Gewand der Moral. Über die nicht zuletzt linken Wurzeln des gegenwärtigen Judenhasses“, in: Die Politische Meinung, Nr. 584, PoM 24/I, Februar 2024, S. 99–102. Der zweite Teil der Reihe stammt von Andreas Jacobs: „Importiert, islamisiert, integriert. Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus unter Muslimen“, in: Die Politische Meinung, Nr. 585, PoM 24/II, Mai 2024, S. 103–107.