Ein Klassenkampf findet nicht statt. Das könnte die erfreuliche Botschaft der Kommunalwahl im September 2025 in Nordrhein-Westfalen sein. Denn sie bestätigte einen Trend: Die Polarisierung nimmt zu, das politische Bild aber bestimmt sie, jedenfalls in Westdeutschland, nicht. Wieder ging die CDU als stärkste Kraft aus der Wahl hervor, die SPD wurde Zweite. Die beruhigende Kraft der Mitte wurde auch als Bestätigung der Regierungspolitik in Berlin gelesen. Nicht ganz zu Recht. In den funktionierenden Regionen des Landes wird moderat gewählt. In den anderen Regionen aber verschiebt sich gerade vieles, wenn nicht gar alles.
In den wirtschaftlichen Krisengebieten Nordrhein-Westfalens schneidet die AfD besonders gut ab, in Gelsenkirchen wurde sie nahezu gleichauf mit der SPD in den Stadtrat gewählt. In den Studentenvierteln der Großstädte hat die Linkspartei gute Karten. Klassenkampf ist das zwar nicht, es sind jedoch gravierende Verschiebungen. Sie verändern nicht nur die politische Landschaft, sondern auch den Charakter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.
Das Ziel des Klassenkampfes traditioneller Art war, die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal zu verändern. In der Transformationsgesellschaft von heute geht der Kampf um das, was bewahrt werden kann. Je größer der Transformationsdruck, desto verbissener wird der Widerstand gegen die Veränderung, desto stärker die Sehnsucht nach dem Gestern.
Kein Klassenkampf, aber heftige Verteilungskämpfe
Klassenkampf kann nur da stattfinden, wo es Klassen gibt. Das Dortmunder Marktforschungsinstitut Sinus hat die traditionelle Arbeiterklasse das letzte Mal in der Mitte der 1990er-Jahre lokalisiert. Danach ist sie verschwunden. Sie ging teilweise in bürgerlichen Milieus auf, die heute mehr oder weniger unzufrieden sind. Teilweise verlor sie sich in prekären Lebenswelten. Facharbeiter stiegen gesellschaftlich auf. Ein Klassenbewusstsein entwickelten diese Milieus jedoch nicht. Die Zugehörigkeit ist fluide, sie hängt von Einkommen, Bildung, Konsumgewohnheiten und Lebensstil ab. Beruf, Bezahlung und Betriebszugehörigkeit sind nur ein Element von vielen und haben bei Weitem nicht die identitäts- und weltanschauungsprägende Kraft der früheren Arbeiterklasse. Die neuen Identitäten sind vielschichtig, sie überlagern einander.
Die Verteilungskonflikte sind nicht weniger heftig. Sie verlaufen nur diffuser. Sie entwickeln sich vertikal zwischen den Generationen und horizontal innerhalb einer Generation. Sie werden zwischen Erben und Nichterben ausgetragen, es wird um den sozialen Status und die Privilegien von Beamten, Angestellten und Selbstständigen gestritten. Kinderlose und kinderreiche Haushalte müssen die Interessengegensätze aushandeln, es knirscht zwischen Geringverdienern und Transferempfängern, zwischen Vermögenden und weniger Vermögenden, Akademikerinnen und Facharbeitern, zwischen Stadt und Land, Wachstumsregionen und Schrumpfgebieten.
Abschied von der Solidargemeinschaft
Die erfolgreiche deutsche Antwort auf den Klassenkampf war in den vergangenen achtzig Jahren ebenso in West- wie in Ostdeutschland die Solidargemeinschaft. Dieses Modell deckte die elementaren Risiken für nahezu alle Bürgerinnen und Bürger des Landes, sorgte für die Armen, Alten und Schwachen und für diejenigen, die sich selbst nicht helfen konnten. Das Subsidiaritätsprinzip, wonach jeder zunächst die eigenen Reserven mobilisieren sollte, sollte die Allgemeinheit in Westdeutschland vor der Plünderung bewahren. Interessenkonflikte wurden – sorgfältig moderiert, bis auf wenige Ausnahmen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften – in den Parlamenten und Regierungskoalitionen ausgetragen. In der DDR galt der Klassenkampf ohnehin als überwunden.
Nun aber gelangt das Konzept des Ausgleichs an sein Ende. Der Gesellschaftsvertrag wird nicht gekündigt, er läuft aus. Die Allgemeinheit, die bis vor Kurzem noch überwiegend aus Menschen in Stadt und Land bestand, die einer geregelten Arbeit nachgingen, irgendwann eine Familie gründen, möglichst ein Haus bauen und in der Regel ein ganzes Leben in diesem Land verbringen wollten, existiert nicht mehr. Sie fächert sich auf.
Ältere haben andere Interessen und Bedürfnisse als die Jüngeren. Die öffentliche Kritik am egoistischen Verhalten der „Boomer“ in den Sozialversicherungen ist nur ein Ausdruck dafür, dass sich der neue Konflikt um Rentenhöhe und Lebensarbeitszeit offenbar nicht mehr im Rahmen der eingeübten Institutionen befrieden lässt. Dasselbe gilt für den Kampf gegen den Klimawandel. Die Klima-Aktivistinnen ließen sich vom Bundesverfassungsgericht legitimieren, einen größeren Anteil der Verschmutzungsrechte für die Zukunft zu verlangen. Die parlamentarischen Aushandlungsmechanismen hatten einen solchen generationenübergreifenden Beschluss nicht mehr zustande gebracht. Die Älteren bestimmen durch ihre schiere Zahl die Wahlen und die Politik, die Jüngeren suchen Umwege, um ihre Interessen durchzusetzen.
Die Interessen der neuen Alten
Doch auch innerhalb der Generationen verblassen die „Normalbiographien“, deren Vorhandensein die Solidargemeinschaft begründete. Die erste Generation der kinderarmen oder kinderlosen Bevölkerungsgruppe geht in den kommenden Jahren in den Ruhestand. Vielen der neuen Alten fehlt eine größere Familie, die man im schlimmsten Fall um Hilfe und Unterstützung bitten würde. Sie sind stärker als bisher auf sich selbst und auf die Sozialkassen angewiesen und weniger bereit, individuelle Zumutungen auszuhalten. Einem Kind, das man nicht bekommen hat, schuldet man auch nichts. Und den Kindern anderer gibt man eher keinen Kredit. Das verändert mehr als die Generationenbilanz. Es verändert die Menschen.
Für viele in der jüngeren Generation ist Familiengründung an sich überhaupt kein Ziel mehr. Ohne Kinder zu leben, ist für sie ein gleichwertiger Entwurf für ein schönes Leben. Sie fühlen sich nicht kinderlos, sie fühlen sich kinderfrei. Für die Sozialversicherungen heißt das: Die Probleme werden bleiben, die Umlageverfahren trocknen weiter aus. Die Wirkungen innerhalb dieser Alterskohorte sind nicht weniger dramatisch.
Immer mehr Erwerbspersonen sind mal sozialversicherungspflichtig beschäftigt, mal arbeiten sie auf Rechnung, mal sind sie im Sabbatical oder auf einer Teilzeitstelle, manche werden zwischendurch arbeitslos oder gehen ins Ausland. Das fordert die Sozialversicherungen heraus. Je inhomogener die Lebensentscheidungen ausfallen, desto schärfer werden die latenten Verteilungskonflikte. Nichterben verlangen nach einer hohen Erbschaftsteuer, Vermögende agitieren gegen die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Kinderfreie haben wenig Interesse an Bildungsinvestitionen und an der Familienmitversicherung. Städter verlangen Mietendeckel und Mietpreisbremsen, Landbewohner fragen aufgebracht, wer ihnen denn hilft, ihre Immobilie klimafest zu machen. „Wo bleibe ich?“ Der neue Verteilungskampf bezeichnet auch ein verändertes Gerechtigkeitsempfinden. Man möchte schon wissen, wie die Bilanz am Ende eines Lebens aussieht. Hat man den Verdacht, mehr einzuzahlen und weniger herauszubekommen als viele andere, wird man ärgerlich.
Kündigung für den Sozialabgabenstaat
Nur Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum könnte diese Konflikte mittelfristig entschärfen. Kurzfristig hilft Migration jedoch nur bedingt. Seit zehn Jahren verlegen mehr Deutsche ihren Wohnsitz ins Ausland, als dass umgekehrt deutsche Staatsbürger ins Land zurückkommen. Wenn aber mehr als 260.000 eher jüngere Staatsbürger pro Jahr auswandern, ist das nicht nur die neue Weltläufigkeit. Es ist offenbar auch die Kündigung für den Sozialabgabenstaat. Denn die Leute gehen ja nicht überwiegend nach Asien, Kanada oder Australien, sondern in Nachbarländer wie die Schweiz und Österreich.
Die Einwanderung aus europäischen Ländern ist ebenfalls seit Kurzem negativ. Legale Einwanderer aus Ländern außerhalb Europas sind zwar „gute“ Risiken für die Sozialversicherungen, weil die meisten von ihnen jung und gut ausgebildet sind und meist einen Arbeitsvertrag in der Tasche haben, wenn sie ins Land kommen. Doch wie allen anderen versprechen die deutschen Sozialversicherungen auch ihnen hohe Leistungen, sodass sie das System am Ende nicht stabilisieren.
Flüchtlinge und Asylbewerber fürchten ohnehin, dass sie vermutlich bald wieder gehen müssen. Es ist nur logisch, sich „die Zähne machen zu lassen“, wie Bundeskanzler Olaf Scholz im Jahr 2023 einmal polemisiert hat. Warum sollten sich Menschen mit sehr begrenzter Bleibeperspektive einschränken oder auf Leistungen verzichten, um ein Sozialsystem in einer Gesellschaft zu stabilisieren, der sie nicht angehören werden? Sie würden von einem verantwortungsbewussteren Gebrauch beispielsweise der Gesundheitsinfrastruktur nicht einmal profitieren.
All das bedeutet: Die persönliche Gewinn- und Verlustrechnung wird in allen Bevölkerungsgruppen wichtiger, die gesellschaftliche dagegen verblasst. Ökonomen würden sagen, dass die Gewinne energisch internalisiert, die Verluste mindestens genauso temperamentvoll anderen zugewiesen werden. Alle Trends spielen gegen das Team „Solidargemeinschaft-Alt“.
Nicht die Gesellschaft, ihre Art zu denken, zu wirtschaften und zu verteilen, wird sich auf die Dauer dem Bedarf der Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung anpassen. Das System muss den Menschen von heute und ihren Präferenzen gerecht werden. Wahlmöglichkeiten und kurzfristige Kosten-Nutzen-Rechnungen müssen einerseits zulässig sein, andererseits werden persönliche Risiken bei der Bemessung der Beiträge eine größere Rolle spielen. Man kann die Karenzzeiten für Kurzzeitversicherte in der Renten- und Pflegeversicherung ausdehnen oder den Leistungskatalog einschränken. Der Zugang in späteren Lebensjahren wird deutlicher reglementiert werden. Bei der Rente wird es ohne den Aufbau einer kapitalgedeckten Säule und eine längere Lebensarbeitszeit nicht gehen.
Dieser Weg ist notwendig. Denn die Hoffnung, irgendwann wieder genug Wirtschaftswachstum generiert zu haben, um die Verteilungskämpfe zu mildern, schwindet mit jedem Jahr. Gesellschaften, die älter werden, verlieren ohnehin an Energie und Potenzial für mehr Wachstum. Sie sollten ihre Kraft nicht an sinnlose Klassenkämpfe verschwenden.
Ursula Weidenfeld, geboren 1962 in Mechernich, war unter anderem Berlin-Korrespondentin der „Wirtschaftswoche“ sowie Ressortleiterin Wirtschaft und stellvertretende Chefredakteurin des Berliner „Tagesspiegels“, freie Journalistin, Kolumnistin und Kommentatorin für Verlage, Fernseh- und Hörfunksender.