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Christliche Sozialethik in Gesellschaft und Wissenschaft

Markus Vogt (Hrsg.): „Christliche Sozialethik – Architektur einer jungen Disziplin“. Akademischer Festakt zum 85. Geburtstag von Wilhelm Korff, Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität, LMUniversum, Band 12, Verlag Lutz Garmies, München 2012, 94 Seiten, 16,90 Euro. || André Habisch, Hanns Jürgen Küsters, Rudolf Uertz (Hrsg.): Tradition und Erneuerung der christlichen Sozialethik in Zeiten der Modernisierung, Herder Verlag, Freiburg 2012, 324 Seiten, 18,00 Euro.

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Soziale Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema in der politischen Diskussion – es geht um eine soziale Ordnung, in der Menschen aus weniger privilegierten Schichten dennoch ein ausreichendes Einkommen erzielen und am gesellschaftlichen Leben wie am allgemeinen Fortschritt teilhaben können. Strittig sind dabei die Wege zum Ziel: Wird es mit einer besseren Verteilung von Gütern und Geld erreicht oder eher durch bessere Chancen und sozialen Aufstieg?

Die Frage nach der Qualität der Strukturen und Institutionen einer Ordnung ist auch eine Frage der Sozialethik. Sicherlich geht es in der Ethik um das Handeln des Einzelnen, aber dies ist immer auch im Rahmen seiner strukturellen Möglichkeiten zu sehen; und der Kontext kann moralisches Handeln behindern oder unterstützen und prägt es mit seinen Konventionen und Normen. Es ist eine Erkenntnis der Neuzeit, dass zu den normierenden Strukturen maßgeblich auch die sozialen Verhältnisse gehören, ja dass sie sogar maßgeblich sein können. Daher sind sie ethisch zu prüfen, ob sie den Menschen Lebenschancen eröffnen und ihr moralisches Handeln fördern oder hemmen. In der Umbruchszeit des 19. Jahrhunderts entwickelte die christliche Soziallehre Grundsätze, mit denen kritisch nach der ethischen Qualität der sozialen Strukturen gefragt werden kann.

Christliche oder Katholische Soziallehre bezeichnet zum einen oft die Lehre des Kirchenamtes, vor allem die bahnbrechenden Enzykliken der Päpste Leo XIII. bis Johannes Paul II. zu sozialen Fragen. Zum anderen meint dieses Stichwort das Denken, das dem vielfältigen Engagement der christlichen Vereine, Verbände und karitativen Organisationen zugrunde liegt und das nicht zuletzt den politischen Katholizismus prägt. Zum Dritten heißt so die theoretische Fundierung und wissenschaftliche Disziplin in der Theologie. Dass in der katholischen Theologie das Fach „Christliche Sozialethik“ heißt, ist das Verdienst seines großen Vertreters Wilhelm Korff. Die Universität München ehrte den 85-Jährigen mit einer Festschrift Christliche Sozialethik – Architektur einer jungen Disziplin, in der Kollegen und Schüler wie der Jubilar selbst die grundlegende Systematik des Fachs als eigenständige, christlich fundierte Ethik reflektieren.

Eine Vielzahl von Bereichsethiken hat sich etabliert – Umwelt-, Bio- und Wirtschaftsethik –, sodass sich die Frage stelle, welches spezifische Thema die Sozialethik für sich beanspruchen könne, so Korff. Es gehe um das Fundament für die Anwendungsfragen, und dies biete die soziale Struktur des Sittlichen selbst. Dass der Mensch ein „soziales Wesen“ ist, sei banal – der soziale Zusammenhang bedeutet nach Korffs Analyse eine Trias von Instrumentalisierung, Selbstbehauptung und Fürsorge, und dieser fundamentalen Struktur müssten Ethikmodelle gerecht werden. Das Ethische werde nicht erst an das Soziale herangetragen, sondern aus der sozialen Struktur des Handelns selbst abgeleitet. Umgekehrt müsse sich die soziale Struktur in ihrer ethischen Qualität daran messen lassen, dass und wie sie diese dreiteilige Grundstruktur aufgreife. Ordnungen und Normen seien nicht gottgegeben, sondern unterlägen dem kritischen sozialethischen Urteil auf ihre Menschendienlichkeit hin. Sicherlich seien für den Einzelnen die Normen, die er sich in einer Gemeinschaft aneignet, verbindlich, aber wir trügen als Menschen auch Verantwortung für die Normen. Der Mensch folge Normen, aber er gestalte sie auch – dies ist Korffs Kernbotschaft. Genau hier steckt eine entscheidende Motivation für die Politik und gerade auch für Politiker mit christlichem Hintergrund – die Verhältnisse so zu verbessern, dass sie den Menschen dienen und ein moralisch gutes Leben ermöglichen.

Wie nun die angemessenen Normen zu finden und Strukturen einzurichten sind, sei nicht zwingend, sondern Gegenstand der Diskussion, betont Korff. Sachanalysen seien dabei stets der erste Schritt. So ergäben sich konkrete Normen aus der Sache selbst, keinesfalls als bloß schematische Anwendung. Werde es konkret, zeigten sich aber immer unaufhebbare Konflikte, und Kompromisse erwiesen sich letztendlich als die bestmöglichen Lösungsvorschläge. Normfindung ist stets Güterabwägung, mahnt Korff: Der gescholtene Kompromiss sei daher kein Übel, sondern notwendiges Ergebnis einer ernsthaften Abwägung.

 

Moralisches Gelingen und menschliches Glück

Die Menschenfreundlichkeit des sozialethischen Modells von Korff zeigt sich auch daran, dass er das moralische Gelingen nicht vom Glück des Menschen trennen will. Deshalb ist ihm eine Tugendethik sympathisch, die den ganzen Menschen und sein gelingendes Leben in den Blick nimmt. Sein Blick in die Geschichte zeigt allerdings, dass die Tugendethik der Antike und des Thomas von Aquin durch die Entwicklung einer engmaschigen Beichtpraxis seit dem Mittelalter verdrängt wurde. Stattdessen habe eine Gebotsethik dominiert, die sich vom Heilsversprechen des Dekalogs abgekoppelt und einen quasi rechtsgültigen Sündenkatalog aufgestellt habe – mehr Belastung als Erlösung für die Christen. Demgegenüber setze die Pflichtethik der Aufklärung auf die Eigenverantwortung des Menschen gegenüber sich selbst wie gegenüber der Mitwelt. Spezifikum der christlichen Sozialethik im 19. Jahrhundert sei der Bezug auf die entstehenden neuen Wissenschaften; sie nehme die empirischen Erkenntnisse der Soziologie bewusst auf, um sie moralisch einzuordnen. Die Bezeichnung des Fachs als „christliche Sozialwissenschaft“ wäre dennoch missverständlich, da Ethik nicht auf Empirie zu reduzieren sei. Die erarbeiteten Grundsätze Personalität, Solidarität und Subsidiarität seien überall anwendbar und ausbaufähig, ergänzt um das moderne Prinzip der Nachhaltigkeit. Wie die Sozialethik in ihrer Geschichte jeweils strukturiert und fundiert wurde, ist für Korff allerdings ein Desiderat und Gegenstand seines neuen umfassenden Forschungsprojekts. Damit ergibt sich eine veränderte Sicht auf die christliche Sozialethik, die von den Vertretern des Fachs und den Interessenten daran zur Kenntnis genommen und weiter diskutiert werden sollte.

 

Gestaltung der Ordnung im Blick

Umfassende Gedanken über die Aufgabe der christlichen Sozialethik formuliert ebenfalls der aktuelle und lesenswerte Sammelband Tradition und Erneuerung der christlichen Sozialethik in Zeiten der Modernisierung. Die Charakteristik des Fachs sieht Martin Honecker als evangelischer Sozialethiker wie sein katholisches Pendant Wilhelm Korff als Ethik der Sozialstrukturen jenseits der einzelnen Bereichsethiken. Denn „in den Prozessen der Modernisierung, der Industrialisierung und Technisierung zeigt sich, dass […] die Gestaltung der Ordnung der Strukturen als solche zum Thema wird“ (Seite 178). Spezifisch christlich sei dabei nicht ein bestimmtes Gesellschaftsmodell, sondern die Perspektive, nämlich das christliche Ethos, das sich aus der biblischen Tradition und reformatorischen Deutung ergebe, aber jeweils erst konkret angewandt werden müsse. Sowohl Honecker als auch weitere Autoren des Bandes stellen heraus, dass nicht ungefesselter Kapitalismus und Industrialisierung Ursachen allen sozialen Elends waren, sondern bereits Teil der Lösung im Zuge des tief greifenden Umwälzungsprozesses seit Ende des 18. Jahrhunderts sind.

 

„Gefüge offener Sätze“

André Habisch unterstreicht die Reaktionsfähigkeit der Kirche, angesichts völlig veränderter Rahmenbedingungen dennoch die eigene ethische Tradition mit der „Soziallehre“ weiterentwickelt zu haben. Die Kirche sei nicht mehr automatische Stütze des Systems wie im Alten Reich gewesen, die katholische Arbeiterschaft im Gegenteil eine benachteiligte Minderheit. Katholische Verbände engagierten sich in der Zivilgesellschaft; ihre praktische politische Erfahrung habe die Soziallehre als „Gefüge offener Sätze“ geprägt, nicht als Normengerüst“, so Habisch (Seite 25). Allerdings stehe diese – sehr deutsche – Tradition kurz vor dem Vergessen, beklagt der Herausgeber, zumal der kirchliche Einfluss auf die politische Debatte insgesamt stark geschwunden sei. Welche enorme Bedeutung das sozialethische Denken für die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft in der jungen Bundesrepublik Deutschland hatte, stellen Nils Goldschmidt und Jörg Althammer heraus – auch hier drohe allerdings ein Vergessen der christlichen Wurzeln und damit der ethischen Qualität dieses Ordnungsmodells. Rudolf Uertz schildert, dass erst mit dem Zweiten Vatikanum 1965 die katholische Kirche auch die Menschenrechte in die Soziallehre integrierte: Erst damit sei das Lehramt endlich an die Prinzipien des demokratischen Staates und der Sozialen Marktwirtschaft herangerückt. Christliche Sozialethik liefere mithin nun die „Prinzipien und sachgerechte Normen zur Gestaltung einer demokratisch-rechtsstaatlichen und sozialstaatlichen Ordnung“ (Seite 141). Die Kurzformel dafür bilde der Begriff „Christliches Menschenbild“, der die christdemokratische Programmatik maßgeblich präge.

Dass von der christlichen Sozialethik in den aktuellen öffentlichen Debatten wenig vernehmbar zu hören ist, ist umso bedauerlicher angesichts ihrer Bedeutung, die beide Bücher plastisch vor Augen führen. Eine fundierte Ethik der sozialen Strukturen in christlicher Tradition könnte bei mancher begrifflichen Verwirrung in den politischen Debatten Klarheit schaffen. Die Sozialethik kann und muss politische Entscheidungsträger in ihrer großen Verantwortung für eine Ordnung unterstützen, die auch dem ethischen Urteil standhält, und sie zu Kompromiss und Güterabwägung ermutigen – im Dienste an einer Gesellschaft, in der menschliches Leben glückt.

Donate Kluxen-Pyta, geboren 1961 in Köln, Promotion in Philosophie zu einem Thema der politischen Ethik, stellvertretende Leiterin der Abteilung Bildung/Berufliche Bildung, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).


Anmerkung der Redaktion:
In ähnlicher Weise thematisiert auch Bernhard Sutor mit „Katholische Soziallehre als politische Ethik. Leistung und Defizite“ (Paderborn 2013) den Übergang von einer katholisch-konfessionellen Soziallehre zu einer christlichen Sozialethik. Er zeigt dies vor allem für das Teilgebiet der politischen Ethik.

 

 

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