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Effiziente Bildungsinvestitionen stabilisieren die Mittelschicht

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Es gibt ein hässliches Bild von Deutschland. Demnach ist die Gesellschaft zunehmend in Arm und Reich gespalten. Die Mittelschicht wird immer dünner und fürchtet den Abstieg. Und der Sozialstaat ist ausgezehrt und kraftlos. Mit der Realität hat diese von Sozialverbänden, Gewerkschaftern und Oppositionspolitikern gebetsmühlenartig vorgetragene Kritik an den hiesigen Verhältnissen zwar nichts zu tun. Es ist ein Zerrbild. Doch fatalerweise halten es viele Bürger inzwischen dank der steten Wiederholungen für die Wirklichkeit. So kommt es zu der absurden Situation, dass zwar mehr Bundesbürger als je zuvor in Umfragen ihre persönliche Einkommenssituation und ihre für die nächsten Jahre erwartete wirtschaftliche Lage positiv einschätzen. Und dennoch ein großer Bevölkerungsteil meint, in der Gesellschaft gehe es immer unfairer zu.

Bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr wird das Thema „Soziale Gerechtigkeit“ deshalb wohl eine große Rolle spielen. Denn die Bundesrepublik hängt seit ihrem Bestehen am Ideal einer möglichst homogenen Gesellschaft mit schmalen Rändern und einer stabilen breiten Mitte. Nicht nur die Konservativen fühlen sich Ludwig Erhards Versprechen vom „Wohlstand für alle“ verpflichtet.

Doch schon bei der Definition der Mittelschicht gehen die Meinungen auseinander. Ökonomen blicken meist auf die Einkommen, um die Gesellschaft in oben, unten und Mitte aufzuteilen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zählt zur Mittelschicht Personen, die zwischen 67 und 200 Prozent des mittleren Bruttoeinkommens zur Verfügung haben. Nach Berechnungen des Instituts schrumpfte die gesellschaftliche Mitte seit Anfang der 1990er-Jahre von 66 Prozent der Bevölkerung auf nur noch 61 Prozent. Zählte nach der Wiedervereinigung laut DIW knapp jeder Vierte zur Gruppe der Einkommensschwachen, so gilt dies mittlerweile für 27 Prozent. Die Oberschicht wuchs im gleichen Zeitraum um drei Prozentpunkte auf dreizehn Prozent. Beide Ränder der Gesellschaft wurden somit etwas stärker. Doch nach wie vor bildet die Mittelschicht die mit Abstand größte Gruppe. Blickt man auf den Zeitverlauf, wird zudem deutlich, dass die Mittelschicht zwar in den zehn Jahren bis 2005 parallel zur Ausbreitung der Arbeitslosigkeit abnahm. In den Folgejahren jedoch stabilisierte sie sich dank des Beschäftigungsbooms wieder. Es gibt somit keineswegs einen stetigen Trend der Auszehrung.

 

Kaum ein Industrieland korrigiert so stark wie Deutschland

Die Dominanz der Mittelschicht wird noch offensichtlicher, wenn man die wirtschaftliche Lage der Haushalte betrachtet, nachdem der Staat über Steuern, Sozialabgaben und Transfers eine beträchtliche Umverteilung vorgenommen hat. Denn einen Großteil der staatlichen Einnahmen finanzieren die Gutverdienenden: So zahlen die oberen zehn Prozent der Haushalte fast die Hälfte der gesamten Einkommensteuer, während die unteren fünfzig Prozent lediglich fünf Prozent tragen. Kaum ein anderes Industrieland korrigiert die Markteinkommen ähnlich stark wie Deutschland. Allein das Kindergeld sorgt dafür, dass der Anteil armutsgefährdeter Minderjähriger mehr als halbiert wird. Besonders bei Familien gewährleistet somit der gut ausgebaute Umverteilungsmechanismus, dass sich viele Menschen in der Mitte halten, die dies allein mit ihren am Markt erzielten Einkommen nicht könnten. Ohne Abgaben und Transfers wäre die Mittelschicht seit Anfang der 1990er-Jahre deutlich stärker geschrumpft, als sie dies tatsächlich tat. Und so kommen die fünf Wirtschaftsweisen in ihrem Gutachten 2015 für die Bundesregierung zu dem Schluss, dass Deutschland „nach wie vor eine stabile Mittelschichtsgesellschaft“ sei. Denn lege man die Einkommensschwelle – wie dies international üblich sei – schon mit sechzig Prozent des mittleren Einkommens an, so zählten mehr als drei von vier Bundesbürgern zur gesellschaftlichen Mitte.

Für die Finanzkraft der Bürger spielt indes nicht nur das Einkommen eine Rolle, sondern auch das Vermögen. Hierzu zählen neben dem Geldvermögen auch Immobilien, Finanzanlagen, Wertgegenstände und Betriebsvermögen. DIW-Präsident Marcel Fratzscher beklagt in seinem Buch Verteilungskampf, dass in keinem anderen Land der Eurozone die Vermögens- ungleichheit höher sei als in Deutschland. Bei den ärmsten zwanzig Prozent der Bundesbürger seien die Schulden sogar größer als die Vermögenswerte. Umgekehrt besäßen die oberen zehn Prozent rund 63 Prozent des gesamten Reichtums. Damit sei Deutschlands Vermögen fast so ungleich verteilt wie in den USA, während es fast überall in Europa gerechter zugehe. Bei näherer Betrachtung zeigt Fratzschers Analyse allerdings gravierende Schwächen. Denn nach den von der Europäischen Zentralbank veröffentlichten Statistiken, auf denen Fratzschers Befund basiert, zählen die Deutschen trotz ihrer enormen wirtschaftlichen Stärke innerhalb Europas zu den Habenichtsen. Danach besitzt ein EU-Bürger im Durchschnitt ein Vermögen von 110.000 Euro. Hierzulande kommen die Menschen hingegen gerade einmal auf 50.000 Euro. Spanier und Italiener besitzen nach diesen Berechnungen im Mittel mehr als das Dreifache der Deutschen, und selbst die krisengebeutelten Griechen verfügen immerhin noch über das Doppelte.

 

Fragwürdige Berechnungsgrundlagen

Man muss nicht Wirtschaftswissenschaften studieren, sondern nur durch diese Länder reisen, um zu wissen, dass diese Statistiken den tatsächlichen Wohlstand in keiner Weise widerspiegeln. Zum einen beruhen die Zahlen auf Selbsteinschätzungen der Bürger, sind also nicht objektiv. Zum anderen ergibt sich ein schiefes Bild, weil zwar private Alterssicherungssysteme wie Lebensversicherungen einbezogen wurden, nicht aber die in Deutschland viel bedeutenderen Ansprüche an das staatliche Rentensystem. Relevant ist zudem, dass die Deutschen im Gegensatz zu den anderen Europäern mehrheitlich nicht im Eigenheim wohnen, was sich entsprechend in den Besitzverhältnissen niederschlägt. Denn bei einem Großteil der privaten Vermögen in Europa handelt es sich um Immobilien. Die Einschätzung der Bürger, wie viel ihr Häuschen wert ist, dürfte indes nicht selten weit vom realistischen Marktwert abweichen.

Eine erhebliche Rolle für die hiesige Vermögensverteilung spielt darüber hinaus die besondere Wirtschaftsstruktur. Der Deutschland prägende Mittelstand besteht zum großen Teil aus Familienunternehmen, während in anderen Ländern meist Kapitalgesellschaften dominieren. Wer eine stärkere Umverteilung der Vermögen in Deutschland fordert, zielt somit in erster Linie auf Familienunternehmer und nimmt – wissentlich oder nicht – erhebliche wirtschaftliche Folgen in Kauf. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung (Christian Arndt: Das Vermögen der mittleren Einkommensschicht in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Was wissen wir über die Mittelschicht in Deutschland?, abrufbar unter www.kas.de/wf/de/33.43692/) zeigt überdies, dass auch mit Blick auf die Vermögensverteilung von der oft beschworenen Erosion der Mittelschicht keine Rede sein kann. Vielmehr hat sich deren Position in den letzten Jahren sogar verbessert. Denn die Mitte konnte ihren Anteil am Gesamtvermögen in den Jahren nach der Finanzkrise vergrößern, während die Oberschicht Einbußen hinnehmen musste.

 

Auch Bildung definiert die Stellung

Die Mittelschicht definiert sich indes nicht allein über das Geld. Denn neben Einkommen und Vermögen ist es vor allem die Bildung, die über die Stellung in der Gesellschaft entscheidet. Das Gros der Studenten zählt zu den Einkommensschwachen. Doch dank ihres überdurchschnittlichen Humankapitals mit entsprechend guten Zukunftsaussichten gelten sie keineswegs als der Unterschicht zugehörig. Das Gleiche gilt für Auszubildende, die einen krisenfesten Beruf erlernen und zunächst mit einem bescheidenden Lehrlingsgehalt auskommen müssen. Armutsgefährdet sind auch viele Geschiedene. So lebt fast jede zweite Alleinerziehende von staatlicher Unterstützung. Doch zumindest den gut Qualifizierten unter ihnen gelingt meist rasch der Ausstieg aus der finanziellen Notlage.

Bildung stellt in einer Wissensgesellschaft ein wesentliches, vielleicht sogar das entscheidende Kriterium für die gesellschaftliche Stellung dar. Viele Berufseinsteiger, die mit einer Geschäftsidee ein vielversprechendes Startup-Unternehmen gründen, besitzen oft nichts außer Schulden. Doch zählen sie zweifellos zur Mitte, die sich schließlich auch durch die Fähigkeit auszeichnet, ohne Hilfe von Vater Staat das Leben in die Hand zu nehmen und die Chancen, die eine Marktwirtschaft bietet, zu nutzen.

Die Verteilung der Bildungschancen ist hierzulande ungleicher als in anderen Ländern. Die Mittelschicht ist überaus erfolgreich darin, ihren Nachwuchs in der Mitte zu halten. Anders als häufig behauptet kommt ein Bildungsabstieg in Mittelschichtsfamilien selten vor. Dies ist nicht zuletzt dem Engagement der Eltern zu verdanken, die viel Zeit und Geld investieren, um ihren Kindern trotz mancher Defizite im hiesigen Bildungssystem einen guten Start ins Berufsleben zu ermöglichen. Über solche Ressourcen verfügen die Einkommensschwachen nicht. Und seltener als in anderen Ländern gelingt Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern in Deutschland der soziale Aufstieg. Vor allem Migranten schaffen es häufig nicht, die soziale Leiter emporzusteigen. Somit lebt nicht nur die erste Generation der Zuwanderer überproportional häufig am unteren Rand der Gesellschaft. Auch der zweiten Generation gelingt der Anschluss an die einheimische Bevölkerung oft nicht. Die Qualität der Krippen, Kindergärten und Grundschulen muss verbessert werden, damit in Zukunft auch mehr Zuwanderer einen Platz in der Mittelschicht finden. Nicht immer neue Sozialleistungen und noch mehr Umverteilung, sondern hohe und effiziente Bildungsinvestitionen stabilisieren die Mitte.
 

Dorothea Siems, geboren 1963 in Berlin, promovierte Volkswirtin, seit September 2010 Chefkorrespondentin für Wirtschaftspolitik, „Die Welt / Welt am Sonntag / N24“.

 

Literatur

Anger, Christina / Orth, Anja Kathrin: Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Eine Analyse der Entwicklung seit dem Jahr 2000, Studie im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung,

Sankt Augustin/Berlin 2016, online abrufbar unter http://www.kas.de/wf/de/33.45395.

 

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