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Über Streitlust und Streitmüdigkeit in Deutschland

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Es wird in diesem Land gerade zu wenig und zu viel gestritten. Der Streit ist unser ständiger Begleiter und versteckt sich doch hinter dem Gartenzaun. Vielleicht ist diese eigenartige Gleichzeitigkeit eines der prägenden Merkmale unseres nationalen Bewusstseins: Wir wollen streiten, aber trauen uns nicht recht – deshalb wirkt unser Streit oft verdruckst und hinterhältig. Im Grunde bildet der Streit eine entscheidende Ausgangsbedingung für die bürgerliche Gesellschaft. Das Aufeinandertreffen von Menschen mit unterschiedlichen Ansichten und Interessen fordert erst die Konfrontation und dann den Kompromiss. Der moderne Staat, der sich seine Gesellschaft etwa durch Steuergesetzgebung oder Erinnerungspolitik ja immer auch ein Stück weit selbst schafft, prozessualisiert den Streit, lenkt ihn in institutionelle Bahnen, bietet das Verfahren als Möglichkeit der geordneten Auseinandersetzung an. Es gibt in Deutschland viele Mediatoren, um den Streit zwischen seinen Bürgern nicht handgreiflich werden zu lassen. Das fängt bei Verkehrsampeln an und hört beim Bundesverfassungsgericht auf.

Die Frage ist gerade nur: Hilft die Mediation uns noch, und wird der Kompromiss weiterhin als Ergebnis akzeptiert? Oder erleben wir eine Transformation des Streitgedankens: weg von der Vorstellung eines konfrontativen Austauschs, der – durch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments verführt – in eine rational verständliche Entscheidung mündet? Hin zu der Idee einer möglichst chaotischen und polarisierten Kommunikationssituation, in der Vielstimmigkeit zwar noch als Ideal proklamiert wird, aber in Wahrheit damit vor allem die Durchsetzung der eigenen lauten Stimme gemeint ist?

Die Transformation des Streitparadigmas geht einher mit der Transformation des Politikbegriffs: Wir beobachten die Durchsetzungskraft einer Politik, die im Streit ein Geschäftsmodell erkannt hat, das bei jeder Gelegenheit nach Ansätzen und Anlässen sucht, Gegnerschaft und Zwietracht breitenwirksam zu inszenieren. Die digitale Kolonisierungsmacht, die inzwischen alle Sonnenplatzträume der Vergangenheit in den Schatten zu stellen scheint, sorgt dafür, dass vornehmlich jene Gehör finden, die sich durch entschiedene Abfälligkeit hervortun. Und diese Abfälligkeit als Streitlustigkeit tarnen. Tarnen ist das richtige Wort, denn gegen jemanden zu sticheln oder zu hetzen, heißt noch lange nicht, mit ihm zu streiten. Das Wort erfüllt sich erst durch die Nähe zu einem Gegenüber. Das bedeutet nicht zwangsläufig durch Augenkontakt, aber doch durch den direkten Bezug auf das, was der Kontrahent sagt und meint.

Om285, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Sir Stephen Fry anlässlich der Debatte „This House Would Disestablish the Church of England“ am 11. November 2016 in der „Cambridge Union“.

Streiten ist eine Kulturtechnik, die erlernt, aber eben auch verlernt werden kann. In den britischen Debattierclubs zum Beispiel, dort, wo zu einer Streitfrage unterschiedliche Sichtweisen ausgetauscht werden, der Streit als verbales Duell inszeniert wird und Zwischenrufe aus dem Publikum ausdrücklich erwünscht sind, wird diese Technik seit Jahrhunderten trainiert. Wer je in der Cambridge Union, im ältesten Debattierclub der Welt, zu Gast war und auf den bordeauxrot gepolsterten Bänken sitzend eine ihrer hitzigen Debatten verfolgen durfte, wird den Respekt vor dem Wort Streit nicht so schnell verlieren und nicht jede ehrabschneidende X-Beliebigkeit damit adeln wollen.

 

Inflationärer Gebrauch des Wortes Streit

Genau daran krankt unser Bewusstsein gerade: dass wir das Wort Streit inflationär gebrauchen und es auf jede ausgetauschte Abfälligkeit anwenden. Deshalb haben wir das Gefühl, wir würden in Zeiten leben, in denen besonders viel gestritten würde. In Wahrheit wird gerade nur besonders viel Abfälligkeit ausgeteilt. Der echte politische Streit, der keineswegs ein „gesitteter“ sein muss, um als solcher zu gelten, basiert auf zwei Kriterien: Es muss ein streitlustiges Gegenüber geben, und es muss um eine streitbare Sache gehen. So wie der britische Journalist Walter Bagehot an der englischen Verfassung ihre Mischung aus dignity und efficiency lobte, so muss auch der produktive politische Streit vom Geist dieser zwei Kategorien geprägt sein: Würde und Effizienz. Also von einem gewissen Maß an Anerkennung, die man dem Gegenüber zuteil werden lässt, und einer Konzentration, die eine abstrakte Problemlage auf Thesen verknappt und zum Austragungsort verbaler Konfrontation erklärt. Mit diesen beiden Kriterien im Kopf lässt sich die Frage stellen: Wer sollte gerade in Deutschland streiten und vor allem worüber?

Beginnen wir mit der zweiten Frage: Es scheint, als ob die allermeisten unserer gegenwärtigen Streitfragen sich in der Leitdifferenz Liberalismus versus Autoritarismus spiegeln ließen, also dem Umstand Rechnung tragen, dass die liberale Fortschrittserzählung an ein Ende gekommen zu sein scheint und die narrativen Kräfte der Ordnung und Sicherheit wieder deutlich an Anziehung gewinnen. Dass die Veränderungsdynamik auch in Deutschland aktuell eher von rechts als von links ausgeht, ist keine perhorreszierende Prophezeiung mehr. Rechte Veränderung, das heißt: geschlossene statt offene Gesellschaft, hierarchische statt konsensuale Entscheidungsfindung. Der Streit, den das linksliberale Politikverständnis immer als sein kommunikatives Ideal proklamiert, aber durch den Ausschluss abweichender Ansichten in Wirklichkeit nie ernsthaft eingelöst hat, wird nun zum Tarnbegriff einer Strategie politischer Verächtlichmachung, in dem politische Kontrahenten als Aussätzige behandelt und Sachfragen allein auf ihr ideologisierbares Provokationspotenzial abgeklopft werden.

Es scheint, als ginge es diesem zerstrittenen Deutschland gar nicht (mehr) darum, sich zu streiten. Nicht mehr um das Wechselspiel aus Kontroverse und Kompromiss. Stattdessen ist es, als ginge es unter dem Druck der digitalen Kolonisierungsmächte vornehmlich darum, Abnehmer für seine politische Geschäftsidee zu gewinnen. Die Rechte pitcht in diesem Sinne mehr, als dass sie an Umsetzung denkt. Das heißt, es geht ihr nicht um den Eintritt in die Sphäre des zwanglosen Austauschs, sie will gar nicht – wie die bereits erwähnte Cambridge Union – auf den bordeauxfarbenen Polstern sitzen, sondern lieber draußen vor der Tür stehen und ein Reel aufnehmen. Das ist kein Streit um die Frage repräsentative oder direkte Demokratie. Das ist ein Wetteifern um das bessere Geschäftsmodell. Erfolgreiche Politiker sind jetzt Medienunternehmer, sie produzieren Inhalte für die eigene Sache und verkaufen sie als Massenware für die politische Unterhaltung.

Wer sollte also in diesem Land gerade streiten? Nicht links mit rechts, nicht konservativ mit sozialdemokratisch, sondern das republikanische Wir mit dem politisierten Unternehmerego. Mit jener Kraft, die personenvergessen nur die Masse Mensch vor Augen hat, von der getragen sie Veränderungen durchsetzen kann. Denn das kann sie! Nicht nur der Streit, der zwanglose Zwang von Argumenten, kann Veränderung durchsetzen, sondern auch ein digitalrevolutionärer Imperativ, der davon zehrt, die Menschen künstlich voneinander zu entfernen, ihnen das Vertrauen ins Gegenüber zu nehmen und dafür Angst vor der Welt zu machen.

 

Streit als subversive Überlebenstechnik

Es kann daher nicht nur darum gehen, „die Probleme der Bürger zu lösen“ (als wäre die Politik eine Sanitärfirma, die ein verstopftes Abflussrohr säubert). Es muss auch darum gehen, ihnen wieder den Respekt vor dem politischen Streit nahezubringen – und die Skepsis gegenüber dem Geschäft mit der politischen Abfälligkeit. Wer heute politisch streitet, der streitet nicht nur miteinander, der streitet auch für etwas: für einen bindenden, nicht chaotischen Begriff von Gesellschaft. Für den Stolz auf die gegenseitige Anwesenheit. Früher hätte man gesagt: für die Idee von Brüderlichkeit.

Warum eigentlich früher? Wenn die Weltmacht sich im Ego zeigt, bietet das nicht die Chance auf einen Widerstand durch das Wir? Und ist so gesehen der Streit am Ende nicht auch eine subversive Überlebenstechnik, weil er den Sinn für die Gemeinschaft stärkt? Streiten kann man nicht allein. Die strahlende Souveränität des Begriffs Brüderlichkeit rührt genau daher, dass man sich Brüder eben nicht ohne Streit vorstellen kann. Und doch ist sicher, dass sie einander für immer genau das bleiben: Brüder. Die Bürgerschaft als Geschwisterpaar – das wäre der gegenwärtigen politischen Rhetorik wahrscheinlich zu pathetisch. Und doch braucht unser angeschlagenes politisches Selbstbewusstsein wahrscheinlich genau solche Pathosformeln des Republikanischen dringender denn je. Denn es gilt, was Schiller schon an seinen streitlustigen Bürgerbruder Goethe schrieb: „Nun kann ich nur hoffen, dass wir, soviel von dem Wege noch übrig sein mag, in Gemeinschaft durchwandeln werden, und mit umso größerem Gewinn, da die letzten Gefährten auf einer langen Reise sich immer am meisten zu sagen haben.“
 

Simon Strauß, geboren 1988 in Berlin, Historiker, Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und Begründer der Initiative „Arbeit an Europa e. V.“.


Zum Weiterlesen

Strauß, Simon: In der Nähe. Vom politischen Wert einer ostdeutschen Sehnsucht, Klett-Cotta-Verlag (Tropen), Stuttgart 2025.

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