Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist in aller Munde. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung aus SPD, FDP und Grünen erscheint er im Untertitel und wird mit dem Gedanken des Fortschritts in Verbindung gebracht. Zudem ist Nachhaltigkeit von Beginn an im Kontext der internationalen Bemühungen um die Bewältigung der Corona-Pandemie thematisiert worden. Schließlich wird Nachhaltigkeit als Schlüsselbegriff in Debatten über die Klimakrise verwendet, verbunden mit Forderungen nach umfassender Transformation unserer Lebensverhältnisse.
Immer erscheint der Begriff als etwas Erstrebenswertes, das noch nicht in ausreichendem Maße vorhanden ist. Das liegt auch an der Komplexität der Nachhaltigkeitsidee, die als systemische Balance ökologischer, ökonomischer und sozialer Entwicklungen verstanden wird und dafür sorgen soll, dass das Leben auf der Erde nicht allein für derzeitige, sondern auch für künftige Generationen lebenswert bleibt und weiterhin in Ausübung ihrer Grundrechte gestaltet werden kann – ein Erfordernis, das das Bundesverfassungsgericht am 24. März 2021 in seiner viel beachteten Entscheidung zum Klimaschutzgesetz der Politik ins Stammbuch geschrieben hat.
Dieses Verständnis von Nachhaltigkeit, das der 2015 verabschiedeten Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen mit ihren siebzehn Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) zugrunde liegt, prägt die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie (DNS)1 sowie den European Green Deal der Europäischen Union (EU) als neue europäische Wachstums- und Zukunftsstrategie, der nun durch zahlreiche EU-Rechtsetzungsinitiativen ausgestaltet wird. In diesen Dokumenten kommt zum Ausdruck, dass es sich bei Nachhaltigkeit um ein Querschnittsthema handelt – auch hinsichtlich der Akteure, die an ihrer Verwirklichung mitwirken. Bürgerinnen und Bürger sind in ihrem alltäglichen Konsumverhalten gefragt. Die Wissenschaft muss durch transdisziplinäre Forschung Zusammenhänge ergründen und erklären, etwa bezüglich der Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Natur und ihre Folgen.
Gefordert ist jedoch auch der Staat, der die Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung schaffen muss. Dass er sich derzeit einer Vielzahl von Herausforderungen ausgesetzt sieht – neben Klimawandel und Corona-Pandemie auch Migration, Digitalisierung und geostrategischem Systemwettbewerb – vergrößert den Handlungsdruck und das Bedürfnis nach Lösungsorientiertheit, denn alle Herausforderungen verlangen, dass Stellschrauben justiert werden und verstärkt wie Zahnräder ineinandergreifen.
Nachhaltigkeit ins Grundgesetz
Je existenzieller die Herausforderung, desto eindringlicher werden Forderungen nach grundsätzlichen Regelungen, so etwa die, Nachhaltigkeit oder zumindest Klima- und Umweltschutz in der Verfassung zu verankern. Auf internationaler Ebene ist dies ein wichtiges Thema. Das gilt etwa für die derzeitige Erarbeitung einer neuen Verfassung in Chile. Viele lateinamerikanische Verfassungen enthalten bereits – nicht zuletzt angesichts von Forderungen der indigenen Bevölkerung – ein Recht auf eine saubere Umwelt, das vielfach bereits Gegenstand der Rechtsprechung ist.
In Frankreich hatte die von Staatspräsident Emmanuel Macron 2019 einberufene Convention Citoyenne pour le Climat („Bürgerrat für Klimafragen“) vorgeschlagen, Garantien für Umwelt- und Klimaschutz in Artikel 1 der französischen Verfassung aufzunehmen. Ein entsprechender Gesetzentwurf scheiterte nach Zustimmung in der Nationalversammlung an der Ablehnung im Senat. Die 2005 verabschiedete Umweltcharta (Charte de l’Environnement) hat jedoch Verfassungsrang und erkennt die grundlegenden Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit dem Umweltschutz an.
In Deutschland fordern Stimmen in Rechtswissenschaft und Politik, Nachhaltigkeit ausdrücklich als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Dieses soll über den Schutzauftrag des Artikel 20a Grundgesetz (GG) bezüglich der natürlichen Lebensgrundlagen hinausgehen, der sich nach allgemeiner Lesart auf den Schutz der Umwelt und des Klimas bezieht, also auf die ökologische Komponente der Nachhaltigkeit. Die ökonomische Dimension sehen viele durch die Schuldenbremse des Grundgesetzes abgedeckt (Artikel 109 Absatz 2 GG). Ein Staatsziel Nachhaltigkeit sollte demgegenüber den Aspekt der Generationengerechtigkeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts umfassend in den Blick nehmen und dem Staat eine über die jeweilige Legislaturperiode hinausgehende Langzeitverantwortung zuweisen.
Nachhaltige Entwicklung ist bereits jetzt als Leitprinzip für das Handeln der Bundesregierung in sämtlichen Politikfeldern zu beachten. So formuliert es die 2002 erstmals aufgelegte Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (DNS), die hierfür langfristig Orientierung bieten soll. Sie wurde 2016 an die siebzehn SDGs der Agenda 2030 gekoppelt. Die jüngste Fortschreibung aus dem Frühjahr 2021 definiert sechs Transformationsbereiche, in denen Fortschritte für das Erreichen der SDGs als besonders relevant erachtet werden, darunter soziale Gerechtigkeit, Energiewende und Klimaschutz, Kreislaufwirtschaft, Bauen und Verkehr, Agrar- und Ernährungssysteme sowie Umweltschutz.
Potenziale nutzen
Die federführende Zuständigkeit für die Weiterentwicklung der DNS sowie für die Überwachung ihrer Umsetzung liegt im Bundeskanzleramt beim Staatssekretärsausschuss für Nachhaltige Entwicklung unter Leitung des Chefs des Bundeskanzleramts, um ihre Bedeutung für alle Politikbereiche zu unterstreichen und eine ressortübergreifende Steuerung dieser umfassenden Transitionsaufgabe sicherzustellen.
Dennoch wird immer wieder der Ruf laut, die Potenziale der DNS besser zu nutzen, indem der Leitung des Kanzleramts ein Staatsminister für nachhaltige Entwicklung nebst einer Steuerungs- oder Koordinierungseinheit mit klarem Mandat und ausreichenden Ressourcen zur Seite gestellt wird. Für Klimaschutz, Verkehr und Ressourcen sowie für die Abstimmung der deutschen Positionen in internationalen Nachhaltigkeitsfragen sollten jeweils ressortübergreifende Kabinetts- oder Staatssekretärsausschüsse geschaffen werden. Diese Ausschüsse sollten die Ziele aus dem Koalitionsvertrag, der DNS und von Gesetzen, die ebenso wie das Klimaschutzgesetz der Nachhaltigkeitstransformation dienen, durch die verbindliche Vereinbarung konkreter Beiträge gemeinsam voranbringen und deren Umsetzung überprüfen. Ein solches Monitoring entspräche einer wiederholt vom Bundesrechnungshof aufgestellten Forderung, der durch die Überprüfung finanzwirksamer Entscheidungen der Regierung ebenfalls einen Beitrag zur Umsetzung der DNS leistet.
Auf Arbeitsebene sollten sodann Projektgruppen für die Transformationsbereiche zwischen den involvierten Bundesministerien eingerichtet werden. Ihre Aufgabe wäre die Umsetzung von Beschlüssen der Kabinetts- oder Staatssekretärsausschüsse in ihren jeweiligen Ressorts, aber umgekehrt auch das Einspeisen von Ideen auf der politischen Ebene dieser Ausschüsse.2 So könnten sich die Bundesministerien frühzeitig in der Erarbeitungsphase von Gesetzentwürfen, Programmen und Strategien in Bezug auf Nachhaltigkeitsaspekte abstimmen.
Grundsätzliche Reformen
Diese Vorschläge werfen ein Schlaglicht auf einen grundsätzlichen Reformbedarf in den Strukturen und Abläufen insbesondere der Bundesverwaltung: die Überwindung des Silo-Denkens zugunsten einer Kultur der Zusammenarbeit und des Möglichmachens, die für eine Querschnittsaufgabe wie die Nachhaltigkeitstransformation elementar ist. Damit einhergehen muss die Flexibilisierung der Personalstrukturen in der öffentlichen Verwaltung, um durch die Einbeziehung externer Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft interdisziplinäre Problemlösungskompetenz aufzubauen.
Vielversprechend klingt ein Beispiel aus Schweden, wo im Rahmen eines von der staatlichen Innovationsagentur Vinnova finanzierten Pilotprojekts die Entwicklung und Erprobung von Co-Working für den öffentlichen Sektor gefördert wird. Samverket („Zusammenarbeit“) will Fachwissen über Verwaltungsgrenzen hinweg zusammenbringen, das Netzwerken zwischen öffentlichem und privatem Sektor ermöglichen und über hybrides Arbeiten, den variablen Mix aus der Arbeit im Büro mit hauptsächlich Face-to-Face-Kontakten und mobiler Arbeit mit primär digitaler Kommunikation, zu kreativen Problemlösungen und gemeinschaftlichem Lernen anregen.
Auch der Bereich der Vergabe bedarf einer Optimierung und Beschleunigung durch die Nutzung technologischer Hilfsmittel (e-Vergabe) sowie der fachlichen Weiterbildung des Verwaltungspersonals. Vor allem im Bereich der öffentlichen Beschaffung müssen auftragsbezogen Klima- und Umweltaspekte eine zentrale Rolle bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung spielen. In Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden spielt etwa im Bau-, Transport- und Abfall- sowie Abwassermanagementsektor der Gesichtspunkt des circular procurement eine wichtige Rolle: Die Förderung von Kreislaufwirtschaft soll bereits bei der Vergabe als wichtiges Kriterium berücksichtigt werden.
Ferner muss – auch zwecks Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz – das Planungs- und Genehmigungsrecht reformiert werden, vor allem durch Straffung der zuständigen Instanzen und Beschleunigung, auch unter Nutzung von Möglichkeiten der Digitalisierung, etwa für eine frühzeitige Bürgerbeteiligung bei der Planung klimarelevanter Infrastrukturprojekte zum Ausbau erneuerbarer Energien. Dies kann Zeit sparen, weil Bedenken ausgeräumt werden können, die anderenfalls in Gerichtsverfahren zu einem späteren Zeitpunkt geäußert würden und solche Vorhaben über Jahre blockieren können.
Ein Nachhaltigkeitskontrollrat?
Auf legislativer Ebene hat der fraktionsübergreifende Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung (PBnE) derartige Rechtsreformen und insgesamt die Nachhaltigkeitsarbeit der Bundesregierung im Blick. Er wird seit 2004 zu Beginn jeder Legislaturperiode neu eingesetzt, kontrolliert formal die durch die Ministerien erstellten Nachhaltigkeitsprüfungen von Gesetzentwürfen und fordert gegebenenfalls Korrekturen und Ergänzungen bei den betroffenen Ressorts.
Die Nachhaltigkeitsprüfung soll sicherstellen, dass die Langfristwirkung von Gesetzentwürfen und Verordnungen transparent dargestellt, mögliche Zielkonflikte und Alternativen sichtbar gemacht und damit Prioritäten abgewogen werden können. Allerdings fordert der Parlamentarische Beirat, sie zu einer umfassenden Nachhaltigkeitsgesetzesfolgenabschätzung durch einen Nachhaltigkeitskontrollrat in Analogie zum Normenkontrollrat weiterzuentwickeln. Dann würden Regelungsentwürfe überhaupt nur mit einer Stellungnahme des Nachhaltigkeitskontrollrats Kabinettreife erhalten, während gegenwärtig die Einbeziehung des Beirates erst nach dem Kabinettsbeschluss erfolgt, was eine substanzielle Kontrolle unmöglich macht.
Um dieser Forderung des Parlamentarischen Beirates Gewicht zu verleihen, bedürfte es einer Aufwertung seiner Rolle zu einem Ausschuss für nachhaltige Entwicklung mit entsprechender Verankerung in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Ein solcher Ausschuss könnte den Bundeshaushalt mitberaten und dabei auf die Beachtung von Nachhaltigkeitskriterien im Sinne der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie achten.
Denn die Aufstellung des Bundeshaushalts lässt Prioritäten der Bundesregierung erkennen. Klimaschutzziele wurden bisher in den Ressorts aus allgemeinen Haushaltsmitteln jeglicher Art finanziert. Speziell ausgewiesene, zweckgebundene Klimabeziehungsweise Nachhaltigkeitshaushalte würden demgegenüber die Definition messbarer Ziele, Kosten-Nutzen-Analysen und projektübergreifende Planung für eine nachhaltigkeitsorientierte Verwaltungstätigkeit begünstigen. Bei der Verausgabung müssen Nachhaltigkeitskriterien neben die Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit treten. Die Nachhaltigkeitsziele könnten entweder – wie im EU-Haushalt – etwa in Form einer Klimaquote für den Bundeshaushalt zum Maßstab werden oder, wie es die Ampel-Koalition gemäß ihres Koalitionsvertrags plant, mittels eines Klimachecks, indem das jeweils federführende Ressort seine Gesetzentwürfe auf ihre Klimawirkung und Vereinbarkeit mit den nationalen Klimaschutzzielen hin prüft und mit einer entsprechenden Begründung versieht. Für die Kernthemen der Transformationsbereiche der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie sollten ressortübergreifende Budgets für gebotene Maßnahmen bereitgestellt werden, die die Bundesministerien gemeinsam umsetzen.
In Frankreich hat Staatspräsident Emmanuel Macron im Oktober 2021 einen haushaltspolitischen Hebel angesetzt und das Investitionspaket „France 2030“ auf den Weg gebracht, einen Zehn-Punkte-Plan mit Investitionen in die Bereiche Energie, Verkehr, Ernährung, Gesundheit und Kultur. Der darin erwähnte, international umstrittene Ausbau der Atomkraft zeigt, dass innerhalb Europas unterschiedliche Wege gegangen werden, um die Erreichung von Nachhaltigkeitszielen anzuvisieren.
Politischer Wille zur Verantwortung
Letztlich bedarf es auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene des politischen Willens, Verantwortung für ein besseres Leben der gegenwärtigen und künftigen Generationen zu übernehmen. Dieser muss sich in der Ausgestaltung institutioneller Strukturen mit entsprechenden Kompetenzen und Haushaltsmitteln manifestieren. Dabei muss die Anpassungsfähigkeit staatlichen Handelns an neue Herausforderungen zum selbstverständlichen Teil des Systems gemacht und – wie in Skandinavien – der Mut aufgebracht werden, im Behördenalltag neue Wege zu beschreiten.
Auf europäischer Ebene werden angesichts der Anforderungen des European Green Deal alle Mitgliedstaaten für eine angemessene Umsetzbarkeit von Nachhaltigkeitsvorgaben Sorge tragen müssen – nicht zuletzt, um in den Genuss von Fördermitteln des Aufbauinstruments Next Generation EU zur Bewältigung der Pandemiefolgen zu kommen.
In der globalen Perspektive sind internationale Allianzen von Staaten anzustreben, die für die Einhaltung hoher Nachhaltigkeitsstandards im In- und Ausland werben und dies zur Priorität ihrer internationalen (Entwicklungs-)Zusammenarbeit erheben.
Gisela Elsner, geboren 1972 bei Bonn, Juristin, Referentin Grundsatzfragen Nachhaltigkeit, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.
1 Bundesregierung: Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie, Weiterentwicklung 2021, Berlin, März 2021, www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/nachhaltigkeitsstrategie-2021-1873560 [letzter Zugriff: 06.12.2021].
2 Stellungnahme des Rates für Nachhaltige Entwicklung: „Empfehlungen zur Reform der Regierungsarbeit – Bessere Governance für die Nachhaltige Entwicklung“, 04.10.2021, www.nachhaltigkeitsrat.de/wp-content/uploads/2021/10/20211004_RNE-Stellungnahme_ Reform-der-Regierungsarbeit-Bessere-Governance-fuer-die-Nachhaltige-Entwicklung.pdf [letzter Zugriff: 06.12.2021].