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Russlands Politik fordert den Westen heraus

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Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat in Europa ein Land gewagt, sein Territorium unrechtmäßig und zulasten eines anderen souveränen Staates zu vergrößern. Insofern markiert die Annexion der Krim durch Russland einen zeithistorischen Einschnitt. Machtpolitische Hebel hatte Präsident Wladimir Putin allerdings schon früher ohne Rücksicht gegen den ukrainischen Nachbarn zur Anwendung gebracht: 2009 zwang er die damalige Ministerpräsidentin Timoschenko zur Unterzeichnung eines energiepolitischen Knebelvertrages, was – angesichts der Abhängigkeit Kiews von russischer Energie – einer Erpressung glich.

Auf die russische Annexion der Krim, die im Handstreich erfolgte, folgt nun der Umsturz im Osten der Ukraine, der von (pro-)russischen Milizen vorangetrieben wird. Nach dem völkerrechtswidrigen, aber propagandistisch wirksamen „Unabhängigkeitsreferendum“ im Osten droht nicht nur die Spaltung des Landes. Man kann sogar die Annexion des ukrainischen Ostens durch Russland befürchten.

 

Abschied von der „strategischen Partnerschaft“

Inzwischen wird deutlich, dass Brüssel, Washington und andere europäische Hauptstädte zu lange an der Zielsetzung einer „strategischen Partnerschaft“ festgehalten haben. Die Hoffnung auf ein „Reset“ der Beziehungen mit Moskau hat sich als weltfremd erwiesen. Überall hat Putin die Politik des Westens zu durchkreuzen versucht. Im Syrien-Konflikt gerierte er sich geschickt als Ankläger der USA und als Verteidiger des Völkerrechts. Die Snowden-Enthüllungen ließen ihn gut und die Regierung Obama schlecht aussehen. Auch Europas Schwäche, wie sie in der schweren Wirtschafts- und Eurokrise der vergangenen Jahre zutage trat, beförderte Putins Angriffslust.

Bereits 2008 kam Putins Revisionspolitik in Georgien zum Tragen, als es ihm gelang, verlorene Einflusszonen des alten Sowjetimperiums zurückzuerobern. Der Untergang der Sowjetunion ist in den Augen Putins „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Sein Hauptziel ist eine neue „Eurasische Union“ unter russischer Führung. In der Ukraine-Krise prallen konsequenterweise zwei Visionen kompromisslos aufeinander: das freiheitliche Integrationsmodell der Europäischen Union und das der Eurasischen Union im Sinnes Moskaus, dessen autokratische Vorstellungen sich immer mehr abzeichnen. Die Krise und der Krieg in der Ukraine sind Zeichen einer drohenden Kraftlosigkeit der EU und der NATO sowie Ausdruck der zunehmend ratlos erscheinenden, stärker isolationistisch orientierten Vereinigten Staaten. Es ist an der Zeit, vor massiven geostrategischen Verschiebungen in Europa zu warnen, wenn der Westen nicht zu einer gemeinsamen und deutlichen Antwort findet.

 

Nach Muster des NATO-Doppelbeschlusses?

Obwohl die Ukraine kein NATO-Mitglied ist und militärische Verteidigung aufgrund der Eskalationsgefahr nicht angesagt war, ist es doch bedrückend, wie wenig Folgen Russlands Aggression bislang ausgelöst hat. Putins Rechnung, dass die NATO nicht erneut – wie im Kosovo oder in Afghanistan – eingreifen würde, ist aufgegangen. Im demokratischen Europa ist man heute offensichtlich immer weniger bereit, für Freiheit und die internationale Ordnung Truppen bereitzustellen und das Leben von Soldaten zu riskieren. Wenn das so ist, dann gehört die Logik der Abschreckung, die im Kalten Krieg die zentrale Voraussetzung für Frieden in Europa gewesen ist, der Vergangenheit an. Welche Konsequenzen hat das?

Chancen für eine Revision russischer Politik und die Rückkehr zu Recht und Ordnung könnte eine Diplomatie des Westens entwickeln, die Druck und Verhandlungsbereitschaft klug miteinander zu verbinden weiß. Sanktionen sind kein Wundermittel, sie könnten Putins Machtambitionen aber empfindlich stören. Nur die Rohstoffeinnahmen aus dem Westen halten den Staatsapparat am Laufen. Mit steigenden wirtschaftlichen Engpässen drohen dem russischen Scheinriesen ökonomische Engpässe, politische Unruhen und weitere außenpolitische Isolierung.

Am Ende könnte Putins geopolitisches Abenteuer ähnlich scheitern wie die massive Aufrüstung der Sowjetunion seit den 1970er-Jahren. Verzögert reagierte der Westen mit dem NATO-Doppelbeschluss. Heute könnten bestimmte Sanktionen dem Schritt der „Nachrüstung“ in ihrer Wirkung gleichkommen. Intelligente Sanktionen, gekoppelt mit einer unabhängigeren Energiepolitik und einer klugen, das heißt auch koordinierten westlichen Diplomatie, könnten Russland auf lange Sicht zum Einlenken zwingen.

Die Europäische Union wird nur dann diese Chance nachhaltiger Beeinflussung ergreifen können, wenn sie mit Entschlossenheit, Ausdauer und Kompromissfähigkeit weiter auf Russland einwirkt. „Intelligenter Realismus“ als Maxime für die Russlandpolitik bedeutet, die eigenen Mittel und Fähigkeiten nüchtern einzuschätzen. Es wäre unsinnig, militärische Möglichkeiten gegenüber der Atommacht Russland in Betracht zu ziehen. Sanktionen werden Putin nicht sofort zum Einlenken zwingen, ihr Ausbleiben aber würde Putin als Einladung verstehen, seine expansive Politik leichtfertig fortzusetzen. Auch deshalb muss der diplomatische Druck aufrechterhalten werden, um Putins Interesse, sobald wie möglich wieder zum normalen diplomatischen Alltag zurückzukehren, zu durchkreuzen. Selbstbewusste Beharrlichkeit ist notwendig, denn dem Westen fehlen bislang Möglichkeiten der direkten und schnellen Einflussnahme.

Präsident Putin steht vor der Wahl, entweder seine geostrategischen Gewinne durch eine Annexion der Ost-Ukraine zu erweitern oder auf Drängen des Westens, insbesondere Deutschlands, eine neutrale Ukraine-Lösung mit zu unterstützen. Eine Annexion würde das Ziel einer Eurasischen Union beflügeln. Aber langfristig könnte sich das Blatt wenden, falls der Westen härter reagieren und die Sanktionen verschärfen sollte. Die schnellen Landgewinne könnten sich so als Pyrrhussieg erweisen. Zudem droht Russland eine anhaltende Isolierung und Konfrontation. Eine erhöhte Wachsamkeit des Westens sowie eine Erneuerung der NATO und anderer Bündnissysteme werden zu möglichen Perspektiven. War die Vorstellung einer Einkreisung Russlands bislang eher Einbildung, so könnte Putin durch seine aggressive Politik deren Verwirklichung geradezu provozieren.

Wie schon Ende der 1970er-Jahre reagiert der Westen auch jetzt langsam. Aber Schritt für Schritt entsteht eine Doppelstrategie, die für Putin nicht ohne Tücken ist: Einerseits sucht der Westen Putin durch Gesprächsangebot und leichte Sanktionsmaßnahmen von weiterer Landnahme abzuhalten, andererseits macht er unmissverständlich klar, dass Russland bei weiteren Annexionen anhaltend ins Mark getroffen werden soll.

Zwar zeigt die Geschichte der Wirtschaftssanktionen, dass dieses Instrument durchaus seine Lücken hat, aber geschlossen, konsequent und auf lange Sicht angewandt können sie für Russlands Wirtschaft und Staatsapparat verheerende Folgen nach sich ziehen. Ohnehin wirkt Putins Außenpolitik selbstisolierend, denn sie ist ohne zivilisatorische Anziehungskraft und allein auf die „Eurasische Union“ ausgerichtet. Keiner der Nachbarn will dieser Eurasischen Union freiwillig beitreten. Auch innenpolitisch könnte Putin zum Gefangenen seines Erfolges werden: Die nationalistisch aufgeputschten Russen im In- und Ausland erwarten von ihm weitere Siege, sprich Annexionen, und erschweren so eine Kompromisslösung. Bei Fortsetzung seiner rücksichtslosen Linie könnte sich Putin deshalb in eine Sackgasse manövrieren, die in sozialer und politischer Destabilisierung des autoritären Russland münden und deshalb auch Opposition und Zivilgesellschaft neue Chancen eröffnen könnten. Putins Annexionspolitik verschärft also die sozialen und ethnischen Konflikte, anstatt sie zu abzumildern oder gar zu lösen. Dazu führt sie in neue Abhängigkeiten. Russland und dem gesamten post-sowjetischen Raum fehlt die stabilisierende Wirkung des Wohlstandes. Weitere Unruheherde sind also vorprogrammiert, wenn neue Minderheiten wider Willen in das russische Imperium eingegliedert werden. Der Fall Tschetschenien hat dies deutlich gezeigt.

 

Deutsche Sisyphos-Diplomatie

Der Konflikt in und um die Ukraine wirkt in der deutschen Öffentlichkeit polarisierend. Die Deutschen scheinen hin- und hergerissen: Einerseits schätzen sie den Wert der Westintegration für Sicherheit und Wohlfahrt, andererseits scheint sich die überwunden geglaubte Vorstellung von Deutschland als „Brücke zwischen Ost und West“ neu zu etablieren, wobei auch anti-amerikanische Affekte eine wachsende Rolle spielen. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier die Krise nach allen Seiten zu begrenzen suchen. Auch deshalb bleibt Deutschland der entscheidende Gesprächspartner für Russland. Kein anderes Land scheint derzeit in der Lage, in Kooperation mit den Partnern und zugleich im Dialog mit Moskau die Krise kontrollieren zu können. Die Regierung Merkel steht dabei auch in der Kritik. Die Opposition im Bundestag unterstellt ihr – je nach Couleur – Feigheit gegenüber den USA oder Buckelei vor der deutschen Wirtschaft. Gleichzeitig drängen die USA gemeinsam mit Polen und anderen mitteleuropäischen Staaten Berlin zu mehr Härte gegenüber Putin. Der wiederum wünscht sich von Berlin mehr Distanz zu den USA. Berlin aber sollte sich nicht vor den Karren anderer Interessen spannen lassen.

Angesichts der virulenten Probleme des Westens – Europa ächzt unter der Eurokrise, Präsident Obama handelt mit Rücksicht auf die Innenpolitik teils schroff und undiplomatisch – ist eine umsichtige Interessenpolitik nicht einfach. Merkels Abneigung vor außenpolitischen Schnellschüssen, ihre Neigung zu Umsicht und Vorsicht bewähren sich, wie schon in der Euro- auch in der Ukraine-Krise. Die Sisyphos-Diplomatie der Bundesregierung sollte fortgesetzt werden, selbst wenn sie angesichts der imperialen Entschlossenheit Wladimir Putins, aber auch angesichts der westlichen Uneinheitlichkeit mit enormen Widrigkeiten konfrontiert ist. Dabei sind einige klare Linien bereits sichtbar.

 

Neuer Kalter Krieg?

Wenn der Bruch des Völkerrechts durch Putin einfach nur hingenommen wird, ist die Rechtsgrundlage der europäischen Friedensordnung in Gefahr. Berechtigte Kritik an westlichen Fehlern und Versäumnissen gegenüber Russland kann Putins aggressive Politik nicht rechtfertigen. Politische Versäumnisse lassen sich nicht gegen massives Unrecht aufrechnen! Die Beziehungen Russlands zur westlichen Welt bleiben deshalb vorerst durch tiefe Verunsicherung geprägt. Glaubte der Westen, insbesondere auch Deutschland, an die friedensstiftende und kooperationsfördernde Wirkung einer strategischen Partnerschaft mit Russland, so muss der Westen nun erkennen, dass er die „Stärke des Rechts“ nicht einfach zugunsten des „Rechts des Stärkeren“ aufgeben darf. Deshalb wird der Westen vermutlich wieder stärker zusammenrücken müssen, wozu gehört, dass auch die mangelnde Handlungsfähigkeit der westlichen Gemeinschaftsinstitutionen thematisiert werden müsste.

Sollte Russland trotz aller westlichen Warnungen den Ostteil der Ukraine annektieren, ist eine Wiederauflage des Kalten Krieges nicht mehr auszuschließen. Dann würden vor allem die Ängste der mitteleuropäischen Staaten, insbesondere Polens, wachsen: Die Polen haben schon seit Jahren vor der neo-imperialen Aggressivität Putins gewarnt und fühlen sich in ihrer Einschätzung bestätigt. Nicht zu überblicken, aber auf keinen Fall zu unterschätzen, sind die Folgen der Ukraine-Krise für die Grenzkonflikte in der Welt: etwa in Zentralasien, im Kaukasus und auf dem Balkan.

Deutschlands Rolle wird nicht an Bedeutung verlieren, hat Berlin sich doch mit allen Mitteln um Ausgleich mit Russland bemüht – bis an den Rand der Selbstverleugnung. Die Autorität der Kanzlerin und ihres Außenministers und der Respekt vor ihnen sind im Verlaufe der Krisenbewältigung bestätigt worden, denn ihr kooperatives Handeln hat mitgeholfen, die Krise nicht eskalieren zu lassen. Trotzdem wird Deutschland jetzt stärker zu umfassenden Sanktionen und weiteren Maßnahmen gedrängt werden. Diese würden den wirtschaftlichen Sektor der Ost-West-Beziehungen besonders belasten. Gerade Deutschland wird als engster Wirtschaftspartner Russlands dabei erhebliche Kosten in Kauf nehmen müssen. Deshalb trifft Angela Merkel mit ihrem Plädoyer für eine gemeinsame und von Russland unabhängigere Energiepolitik in der EU und im Westen auf offene Ohren. Weil Deutschland aber in den Augen seiner Partner mit seinen privilegierten energiepolitischen Verbindungen zu Moskau, aber auch mit seinem plötzlichen Atomausstieg den Gemeinschaftsgeist auf die Probe gestellt hat, stößt seine Politik nicht ohne Weiteres auf Zustimmung. Beispielsweise erklärte Polens Ministerpräsident Donald Tusk jüngst, dass Deutschlands Gasabhängigkeit die Souveränität Europas ernsthaft einschränke.

 

Renaissance der NATO?

War der NATO in den vergangenen Jahren ihre Hauptaufgabe, die Verteidigung der atlantischen Welt, abhandengekommen, so wird man in den europäischen Hauptstädten wieder ernsthafter die Landesverteidigung und die europäische Sicherheit ins Visier nehmen müssen. Die NATO könnte eine Renaissance erleben. Im Zuge der zahlreichen, teils fragwürdigen westlichen Interventionen hat der Westen seine Kräfte und Fähigkeiten überschätzt und sogar unfreiwillig den anti-demokratischen Kräften Auftrieb verschafft. Russland hat die Fehler des Westens kalt kalkulierend zum eigenen Vorteil zu nutzen gesucht. Der europäische Teil des westlichen Bündnisses wird also nachdrücklicher für seine eigene Sicherheit sorgen müssen, denn die USA scheinen geschwächt. Noch ist das weltweite Bündnissystem der USA intakt, aber es bröckelt an vielen Stellen. Die globalen Abrüstungsbemühungen erfahren durch die russische Annexionspolitik einen herben Rückschlag. Das hat auch Auswirkungen auf die Bemühungen um nukleare Nichtweiterverbreitung. 1994 unterzeichnete die Ukraine mit Russland, den USA und Großbritannien das „Budapester Memorandum“, in dem Kiew auf die im Land stationierten sowjetischen Nuklearwaffen verzichtete. Im Gegenzug verpflichteten sich die Unterzeichner, die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren. Nach der russischen Annexion der Krim wird nun kein Staat mehr bereit sein, freiwillig Nuklearwaffen zu vernichten, auch dann, wenn er vertragliche Garantien erhalten sollte. Überhaupt droht die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen Auftrieb zu erhalten. Unter diesen Bedingungen scheint nur ein eigenes Nuklearpotenzial glaubwürdige Sicherheit zu gewähren.

Macht und Prestige werden im Westen gern nach der Maßgabe von „Soft Power“ gemessen: Good Governance und zivilisatorische Attraktivität sind hier im postmodernen Selbstverständnis richtungsweisend. Aber im Rest der Welt gehört zum Ansehen eines Landes oder einer Staatengemeinschaft auch die Fähigkeit von „Hard Power“ – politische Entschlossenheit, militärische Stärke und die Bereitschaft, angesichts eklatanter Rechtsbrüche einem Bedrohten oder Schwächeren beizustehen. Rücksichtslose Machtpolitik ist leider Gottes kein Relikt der Steinzeit, sondern bleibt Teil der internationalen Realität. Wer sich nicht auf diese Realitäten einstellt, wird sich weder selbst behaupten noch die Völkerrechtsordnung wahren oder gar wiederherstellen können.


Christian Hacke, geboren 1943 in Clausenhof, emeritierter Professor für Politische Wissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.