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von Rebecca Schröder

Ein Europäer auf dem Weg zur Seligsprechung

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„Im Übrigen werden die Heiligen unseres Jahrhunderts einen Straßenanzug tragen“: Dies schrieb Henri Eschbach seinem Freund Robert Schuman im Jahr 1911. Zu diesem Zeitpunkt war Schuman so schwer von dem plötzlichen Unfalltod seiner Mutter getroffen, dass er mit der Absicht spielte, katholischer Priester zu werden. Schuman folgte aber dem freundschaftlichen Rat Eschbachs und entschied sich für ein Leben als aktiver Laienkatholik, als dessen grundlegenden Bestandteil er sein politisches Engagement betrachtete. Seiner Berufung als „Heiliger im Straßenanzug“ ist der französische Außenminister, Gründervater der Europäischen Union und Pionier der deutsch-französischen Aussöhnung am 19. Juni 2021 einen großen Schritt näher gekommen: Papst Franziskus verlieh ihm den „heroischen Tugendgrad“ als eine erste wichtige Stufe auf dem Weg zur Selig- und somit auch Heiligsprechung.

Christlicher Glaube und politisches Handelns bildeten in Robert Schumans Biographie eine untrennbare Einheit: Als eine Ausnahme in der französischen Politik fühlte er sich weniger einer politischen Partei als seinem Glauben verpflichtet. Während seiner politischen Karriere stand er den Mitte-Rechts- und den christlich-demokratischen Parteien nahe, da diese seine Werte am ehesten widerspiegelten. Schuman war davon überzeugt, dass die Demokratie ihre Existenz dem Christentum verdanke und der Mensch daher verpflichtet sei, „im täglichen Engagement die Würde der menschlichen Person in ihrer individuellen Freiheit umzusetzen, unter Achtung der Rechte eines jeden und in der Ausübung der brüderlichen Liebe zu allen“.

Europa war für Robert Schuman nach den beiden verheerenden Weltkriegen die Konstruktion einer verallgemeinerten Demokratie im christlichen Sinne, weniger eines bestimmten Systems der Vertretung oder Regierung. Für ihn war die Beteiligung an der Gründung der Europäischen Union ein Akt des Glaubens. In einer Rede vor dem Europäischen Parlament 1958 betonte Schuman: „Alle Länder Europas sind von einer christlichen Kultur durchdrungen. Sie ist die Seele Europas, die ihm wiedergegeben werden muss.“ Und in seinem politischen Vermächtnis, dem Buch Pour l’Europe, heißt es: „Europa wird nicht leben, wird sich nicht retten, wenn nicht in dem Maß, in dem es sich seiner selbst und seiner Verantwortung bewusst ist, zu den christlichen Prinzipien der Solidarität und Brüderlichkeit zurückzukehren.“

Diese christlichen Wurzeln Europas wirken bis heute – daran erinnerte etwa Papst Johannes Paul II. (1920–2005), der Schuman 1988 vor dem Europäischen Parlament als ein „ewiges Vorbild für alle Verantwortlichen am Aufbau Europas“ bezeichnete.

 

Verehrung als „Volksheiliger“

 

Schumans spirituelle Ausstrahlung und der Einfluss christlicher Werte auf seine politischen Handlungen führten dazu, dass er bereits kurz nach seinem Tod 1963 als „Heiliger“ betrachtet und verehrt wurde: Nur wenige Monate nach seinem Ableben äußerte sich Konrad Adenauer (1876–1967) in einer kleinen abendlichen Gesprächsrunde über Schuman: „Dat is’ ne heiligmäßige Mann.“ Auch sein enger Freund, der große Gelehrte, Theologe und Philosoph Romano Guardini (1885–1968), bestätigte: „Ja, ich halte Robert Schuman für einen Heiligen in unserer Welt.“

Spätestens seit Mitte der 1970er-Jahre wurde Schuman auch von der katholischen Volksfrömmigkeit in den Heiligenkanon der römischen Kirche aufgenommen. So findet sich Schumans Porträt unter den zwölf kolorierten Bildtafeln von Heiligen aus den Ländern Westeuropas in der Pilgerkathedrale in Kevelaer. Auch in den Medien wird Schuman entsprechend präsentiert: Ende der 1980er-Jahre ehrte das Erste Deutsche Fernsehen (ARD) den französischen Staatsmann mit dem 45-minütigen Dokumentarfilm „Robert Schuman – ein heiliger Politiker?“, den der Journalist Peter Scholl-Latour (1924–2014) mit den Worten beendete: „Früher hätte man diesen Mann heiliggesprochen.“

Die Initiative zur Einleitung eines offiziellen kirchlichen Untersuchungsverfahrens zur Seligsprechung ging vom Institut Saint Benoît, Patron de l’Europe aus, gegründet am 15. August 1988 in Metz von einer Gruppe christlicher Laien, bestehend aus Franzosen, Deutschen und Italienern. Treibender Motor auf deutscher Seite war Schumans langjähriger Wegbegleiter und Mitbegründer des Europäischen Parlaments, Hans August Lücker (1915–2007). Seine Dokumentensammlung lässt sich heute im Archiv der Europäischen Union in Florenz einsehen.

 

Verleihung des „Heroischen Tugendgrads“

 

Offiziell eingeleitet wurde der Seligsprechungsprozess in Metz am 9. Juni 1990. Nach Anhörung von etwa 200 Zeugen, die Robert Schuman persönlich gekannt hatten, und nach einer kritischen Analyse aller öffentlichen und privaten Schriftstücke des Politikers wurde die Anfrage einer Theologenkommission übergeben, die die Unterlagen auf Schumans geistige Haltung hin untersuchte. Nach Abschluss bestätigte der Dominikaner und damalige Metzer Bischof Pierre Raffin OP, dass Schuman von Anfang an anhaltend im Ruf der Heiligkeit („fama sanctitatis“) gestanden hatte. So konnte das diözesane Untersuchungsverfahren am 29. Mai 2004 beendet und die Untersuchung auf weltkirchlicher Ebene fortgeführt werden.

Die 50.000 Seiten starke und 500 Kilogramm schwere Akte wurde an die Vatikanische Kongregation für Selig- und Heiligsprechungsprozesse übergeben, wo theologische Zensoren die Echtheit der Unterlagen und Zeugenaussagen prüften und Gutachten einholten. Die Heiligsprechungskongregation kam zu dem Ergebnis, dass Robert Schuman seine politische Karriere „als Mission und Verpflichtung zum Apostolat auf sich nahm“ und als „Vater, Apostel des geeinten Europas, Pilger, Architekt und Wegbereiter der europäischen Einheit“ zu würdigen sei. Die Tugend des Glaubens präge sein ganzes Leben: „Die Entscheidung, sich politisch zu engagieren, wurde von ihm als Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes betrachtet.“ Auf diese Empfehlung hin entschied Papst Franziskus per Dekret, Schuman den heroischen Tugendgrad („heroicitas virtutum“) zuzusprechen.

Der heroische Tugendgrad drückt aus, dass ein Mensch die christlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe in seinem Leben in vorbildlicher Weise gelebt hat. Mit der feierlichen Verleihung gilt Schuman als besonderes Glaubensvorbild, das heißt, die Nachahmung seines Lebenswandels wird von der katholischen Kirche offiziell gutgeheißen und empfohlen. Als sogenannter „ehrwürdiger Diener Gottes“ („venerabilis Dei servus“) verfügt Schuman über die sogenannte „Ehre der Altäre“. Es darf zwar noch kein öffentlicher Verehrungskult um den französischen Politiker und Staatsmann ausgeübt werden, er darf jedoch in Gebeten und Gottesdiensten der Kirche genannt und von den Gläubigen öffentlich um Fürbitte angerufen werden.

Um Schuman seligsprechen zu können, muss ihm in einem gesonderten Prozess ein gewirktes Wunder nachgewiesen werden. Dieses sollte auf seine persönliche Fürsprache hin zurückzuführen sein. Viele der Befürworter einer Seligsprechung sind der Ansicht, allein schon sein Verdienst, die Vision eines geeinten und friedlichen Europas nach Zeiten des „totalen Kriegs“ in die politische Realität umgesetzt zu haben, sei Wunder genug. Allerdings zählt allein eine „medizinisch unerklärbare und definitive Heilung eines Menschen“, die die katholische Kirche als Wunder anerkennen könne. Mit dem Nachweis eines Wunders würde nicht nur der Seligsprechung durch den Papst nichts mehr im Wege stehen, es könnte auch ein Heiligsprechungsverfahren initiiert werden.

 

„Vater Europas“

 

Auch wenn ein solches Wunder bisher nicht nachgewiesen wurde, wirkt die Anerkennung des heroischen Tugendgrads an den „Vater Europas“ wie ein eindringlicher Appell, Europa nicht ausschließlich als wirtschaftliche Einheit zu betrachten, sondern als Gemeinschaft von Nationen, in die das Fundament der religiös-sittlichen Werte des Christentums eingeflossen ist und die auch Personen anderer Religionen und Weltanschauungen offensteht.

Vor dem Hintergrund aktueller nationalistischer Tendenzen und antieuropäischer Ressentiments in einigen Ländern der Europäischen Union sollte Robert Schumans Ideal der geteilten Verantwortung und Brüderlichkeit zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union verstärkte Beachtung finden. Als Vorbild und Christ, der sich in den Dienst der Gesellschaft und in das politische Leben stellte, mahnt uns der „Architekt der europäischen Versöhnung“, politisches Handeln stets am Wohl des Menschen auszurichten.

 

Rebecca Schröder, geboren 1991 in Waldshut-Tiengen, promovierte Historikerin, Referentin Schriftgutarchiv, Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

Literatur

Benning, Hermann J.: Robert Schuman. Leben und Vermächtnis, München 2013.

Lücker, Hans August: Robert Schuman. Europäer aus christlicher Verantwortung, Vallendar 1992.

Seitlinger, Jean / Lücker, Hans August: Robert Schuman und die Einigung Europas, Bonn 2000.

Schuman, Robert: Für Europa. Vorwort von Konrad Adenauer, Hamburg 1963.

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