Politik und Literatur unterscheidet mehr, als sie verbindet, aber was sie verbindet, kettet sie geradezu aneinander: Sprache. Sprache ist das Medium der Literatur wie der Politik. Sie ist ein Instrument der Unterdrückung wie des Widerstandes und der Selbstbehauptung. Sie ist ein Mittel der Verschleierung, der Propaganda, der Denunziation und ein Instrument der Aufklärung und der Befreiung.
Herta Müller ist die Autorin dieser oft verzweifelten Zusammenhänge. Eher unfreiwillig im Übrigen, getrieben von Erfahrungen, die sie lieber nicht gemacht hätte: „Ich habe mir nie vorgenommen zu schreiben. Ich habe damit angefangen, als ich mir nicht anders zu helfen wusste.“
Herta Müllers Bücher, die Essays wie die Romane, sind eine ebenso aufregende wie deprimierende Chronik des Alltags in einer Diktatur beziehungsweise, in ihren Worten, über das „amputierte Leben in der Diktatur“.
„Erinnern gegen meinen Willen“
Als Herta Müller 2004 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung erhielt, war sie gewiss nicht das, was man gemeinhin eine populäre Schriftstellerin nennt. Damals waren ihre Lesungen, die nur selten kurzfristig in größere Hörsäle oder Veranstaltungsräume wegen der riesigen Teilnehmerzahlen verlegt werden mussten, häufig von Zwischenrufen und Fußtrampeln empörter Landsleute begleitet. Bernhard Vogel, der seinerzeit Herta Müller den Preis überreichte, hat ihre „konsequent unnachgiebige Sprache“ gewürdigt, „die aus lebendig gewordenen Erinnerungen besteht und deren poetische Wahrheit aus Todesangst und Überlebenswut geradezu hervorbricht“. Todesangst und Überlebenswut beziehungsweise „Lebenshunger“, genauer kann man es kaum sagen – und wenn, dann wohl so wie Herta Müller in ihrer Atemschaukel: „Ich muss mich erinnern gegen meinen Willen. Und auch wenn ich nicht muss, sondern will, würde ich es lieber nicht wollen müssen.“
Der Roman Atemschaukel schlägt ein bislang vernachlässigtes Kapitel der europäischen Diktaturgeschichte auf. Nach dem Ende des rumänischen Faschismus und der Kapitulation Rumäniens im Januar 1945, wurden auf Geheiß Stalins viele in Rumänien lebende Deutsche zu Zwangsarbeit in russische Lager deportiert. Es waren vor allem junge und ältere Deutsche, keine Soldaten, die ja noch im Krieg waren. Mit einem dieser Deportierten war Herta Müller gut befreundet, mit dem aus Hermannstadt stammenden Oskar Pastior. Eine andere deportierte Person stand ihr noch näher: Ihre Mutter kam als Neunzehnjährige in ein ukrainisches Zwangsarbeiterlager.
Mit einer lapidaren Präzision beschreibt Herta Müller den physisch und psychisch zermürbenden Lageralltag aus dem Blickwinkel eines jungen Mannes: „Kälte schneidet, Hunger betrügt, Müdigkeit lastet, Heimweh zehrt, Wanzen und Läuse beißen.“ Wer gelegentlich Hunger hat, aber nie Hunger leiden musste, bekommt in der Atemschaukel eine quälende Vorstellung von diesem unerträglichen Zustand zwischen Hysterie und Resignation und von dem „Hungerengel“ als ständigem Begleiter, der in verschiedenen Gestalten als Würge- und als Racheengel, als Bedrohung wie als Hoffnung, als Obsession und als Erlösung auftritt. Diese Erfahrung kann man nicht teilen, wenn man sie nicht selbst gemacht hat, aber wenn man sie gemacht hat, bleibt sie für immer.
Lektionen zu Demut und Glück
Die Lektüre des preisgekrönten Romans befördert das Bewusstsein, was Menschen erspart geblieben ist, die wie ich in einem der glücklicheren Zeitabschnitte der deutschen Geschichte geboren und aufgewachsen sind, dazu in einer begünstigten Region, die von den historischen Turbulenzen nicht oder deutlich weniger betroffen war. Und die deshalb Verleumdungen, Verfolgungen, Vertreibungen und Demütigungen nur vom Hörensagen kennt, aus historischen Dokumenten oder literarischen Texten wie denen Herta Müllers. Deshalb ist für mich persönlich Herta Müllers großes Buch nicht zuletzt eine Lektion zum Thema Glück. Und zum Thema Demut. Und darüber, was das eine mit dem anderen zu tun hat.
Als Herta Müller vor vier Jahren den Nobelpreis für Literatur erhielt, sagte Jurysprecher Anders Olsson: „Sie haben großen Mut gehabt und provinzieller Unterdrückung und politischem Terror kompromisslos Widerstand geleistet. Es ist der künstlerische Gehalt dieses Widerstands, für den Sie diesen Preis verdienen.“ Sechzig Jahre sind noch kein Alter, in dem Gratulanten sich anschicken, ein „Lebenswerk“ zu würdigen – aber von einer künstlerischen und politischen Mission, die zugleich Passion im ursprüngliche Wortsinne ist, wird man bei Herta Müller sprechen dürfen.
Ihre literarische Sprache, voller Gestaltungswucht und virtuos, hebt die persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen weit ins Exemplarische, und dadurch wird sie zu einem Instrument der Aufklärung und der Befreiung. Ihre Bücher sind gegen das Vergessen der traumatischen Diktaturerfahrungen in Europa geschrieben, sie vergegenwärtigen die Folgen von Unterdrückung, Erniedrigung und Isolierung des Menschen durch Menschen, sie sind ein grandioses Zeugnis für Würde und Freiheit und den Wert der Demokratie. Für das Zusammenwachsen Europas sind sie ein manchmal unangenehmer, aber notwendiger Beitrag kultureller Selbstvergewisserung über nationale Grenzen hinweg. Poesie und Politik, meinte einmal Hans Magnus Enzensberger, seien „historische Prozesse, der eine im Medium der Sprache, der andere im Medium der Macht“. Herta Müller führt den erfolgreichen Beweis, dass die Freiheit des poetischen Wortes ihre eigene Macht hat.
Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, von 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, seit Oktober 2005 Präsident des Deutschen Bundestages.