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Der Schriftsteller Utz Rachowski im Gespräch mit Axel Reitel über ein Leben voller „Rausschmisse“

Dieses Interview ist der dritte Teil einer Serie, in der der einstige DDR-Oppositionelle Axel Reitel seine Gesprächspartner – wie er ebenfalls politische Häftlinge – zu ihren Hafterfahrungen und den daraus erwachsenden Konsequenzen befragt. Reitel, geboren 1961 in Plauen (Vogtland), wurde 1982 von der Bundesrepublik Deutschland „freigekauft“. Heute arbeitet er als Journalist und Schriftsteller.

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„Ich lasse mich nicht manipulieren“, hast Du auf ein Plakat in Deinem Jugendzimmer geschrieben. Woher kam dieser frühe Widerwille gegen die staatliche Indoktrination?

 

Utz Rachowski: Schon in der Grundschule hatte ich Schwierigkeiten mit einer ideologisch aggressiven Lehrerin – meiner Deutschlehrerin und leider auch Klassenlehrerin. Wäre sie nicht schwanger geworden und durch eine andere Lehrerin ersetzt worden, hätte ich nie eine Chance gehabt, an die Oberschule zu kommen. In Klasse neun, der ersten Klasse der Oberschule, hat man gesagt: Wäre ich zwei Jahre älter, wäre mein Aufsatz ein Fall für den Staatsanwalt geworden. Dabei hatte ich nur die Realität eines Klassenausflugs beschrieben.

Aber das eigentliche Grunderlebnis für mich – ich denke, für meine ganze Generation – war die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Den Durchmarsch von Truppen des Warschauer Pakts durch das Vogtland habe ich im Alter von vierzehn Jahren erlebt. Wenige Tage später, am 1. September 1968, kam ich auf die Erweiterte Oberschule und sah in der ersten Minute einen Typen in NVA-Uniform, der neben dem Fahnenmast stand und uns Schülern Kommandos gab: „Stillgestanden!“, „Augen zur Fahne!“. Trommeln wirbelten und Schalmeien dröhnten – so wurde die DDR-Fahne um 7.00 Uhr morgens hochgezerrt. Das war der Anfang, und so ging es weiter. Unser neuer Direktor – zu allem Überfluss hieß er auch noch „Übel“ – verwandelte die Schule in ein Militärlager.

 

Welchen Einfluss hatte Jürgen Fuchs, der auf dieselbe Schule ging?

 

Utz Rachowski: Drei Wochen nach dem ersten Schultag gab es ein Volleyball-Turnier. Als ich am Spielfeldrand auf meinen nächsten Einsatz wartete, kam ich neben Jürgen Fuchs zu sitzen, der ein paar Jahre älter war als ich. Sofort hat er Klartext mit mir gesprochen: „Sei vorsichtig, der Übel hat rote Armbinden ausgegeben und führt die Schule wie eine Kaserne!“

Danach haben wir uns bei ihm getroffen. Er wohnte in einem Industrieviertel, ein stinkiges Flüsschen zog an seinem Fenster vorbei, aber er hatte schon als Siebzehnjähriger die Wände voller Bücher. Er gab mir die Texte, die er für mich für gut befand, und ich las sie. Die große und enge Freundschaft, die uns bis zu seinem Tod 1999 verband, begann aber erst nach seinem Abitur, als er zur Armee musste.

 

Du wurdest dann auf Veranlassung des Direktors wegen der Gründung eines „Philosophie-Clubs“ von der Erweiterten Oberschule verwiesen …

 

Utz Rachowski: Im „Philosophie-Club“, wie ihn der Direktor, die Schulleitung und auch die Stasi nannten, haben wir uns mit Philosophie und vor allem mit Literatur beschäftigt – mit Büchern, die wir in den Regalen der Großeltern, der Eltern oder in der Stadtbücherei gefunden hatten. Und dann kamen Texte von Heinrich Böll dazu, der seine Jugenderinnerungen an seine Schulzeit unter den Nazis beschrieb. Das war das absolute Aha-Erlebnis – eine Parallele zu dem, was ich jeden Tag durch die Militarisierung der Schule vor Augen hatte.

Die Jungen wurden in den Februarferien in Militärlager außerhalb der Stadt gezwungen, und die Mädchen lernten, in der Turnhalle eingeschlossen und in Uniformen des Roten Kreuzes gesteckt, wie man eine Atombombe mit einer Stoffdecke bekämpft. Gegen all das wehrten wir uns – worauf die gleichgeschalteten Elternvertreter an den Direktor schrieben, sie wollten ihre Kinder nicht länger von mir ideologisch verseuchen lassen. Die Stasi erhob unsere Gruppe zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit und schickte Telegramme an die Armee, um Jürgen Fuchs unter Kontrolle zu bringen, der als Folge meiner Relegierung seinen Studienplatz verlor.

 

Reiner Kunze hat Deine Relegation von der Schule unter dem Titel „Fahnenappell“ und Dich als „Schüler N.“ in „Die wunderbaren Jahre“ aufgenommen. Wie kam es dazu?

 

Utz Rachowski: Jürgen Fuchs hatte Reiner Kunze besucht und brachte mir Fotokopien seiner Gedichte mit. Kennengelernt habe ich ihn Weihnachten 1974. Über Freunde gab es eine Verbindung zur jungen evangelischen Gemeinde Bitterfeld, die wusste, dass Reiner Kunze für sein Buch, das später „Die wunderbaren Jahre“ werden sollte, nach „Stoffen“ suchte, wie ich sie an meiner Schule erlebt hatte. So wurde ein Termin mit Reiner Kunze ausgemacht, und er gab mir später das Pseudonym „Schüler N. aus X.“ Niemals hat die Stasi rausgekriegt, dass ich das war.

 

Was hat der Besuch bei Dir selbst ausgelöst?

 

Utz Rachowski: Etwas Lustiges! Ich schleppte dem Kunze eine kleine Akte an, in der ich alles über meinen Rausschmiss dokumentiert hatte: Kreisschulrat, Ausschlussverfahren und so weiter, das Abstimmungsverfahren – alle Schüler mussten darüber abstimmen, ob ich würdig sei, in der FDJ zu bleiben. Das war gut abgeheftet, und Kunze fragte mich, ob ich nicht statt Schriftsteller lieber Bürokrat werden wollte. Das hat mir nicht sehr gefallen, aber ich habe es ihm verziehen, weil er mir zum Abschied seinen damals neuen Gedichtband „Brief mit blauem Siegel“ geschenkt hat.

 

Du wolltest Schriftsteller werden, aber machtest zunächst eine Lehre als Elektriker …

 

Utz Rachowski: … sie begann zwei Tage nach meinem Rauswurf – in Glauchau. Dort war nicht viel los. Aber ich hatte Zeit, dicke Wälzer – Thomas Mann, Klaus Mann, Hermann Hesse – intensiv zu lesen.

 

Das Abitur holtest Du an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) in Freiberg nach. Zwei Semester Medizinstudium schlossen sich an, aber dann kam der nächste Rauswurf.

 

Utz Rachowski: 1977, nachdem ich in Leipzig zwei Semester Medizin studiert hatte, wollte ich zu Germanistik wechseln und wurde im Aufnahmegespräch gefragt: „Welche DDR-Autoren bevorzugen Sie?“ Ich nannte Volker Braun, Sarah Kirsch und Christa Wolf und habe noch angemerkt, dass Jürgen Fuchs die einzige gültige Prosa für mich schriebe, aber der sitze ja leider gerade im Gefängnis und müsse demnächst nach West-Berlin gehen. Da ist Professor Walfried Hartinger, der Vorsitzende des Auswahlkomitees, explodiert und schrie mich an, was ich von der Kulturpolitik unserer Partei hielte. Und das war es dann: Ich wurde exmatrikuliert und musste als Heizer arbeiten.

 

Du hast Literatur mit verbotenen Inhalten beziehungsweise von verbotenen Künstlern verteilt – Reiner Kunze, Jürgen Fuchs, Wolf Biermann, auch eigene Gedichte. Hattest Du Angst vor dem Gefängnis?

 

Utz Rachowski: Wir hatten sogar eine Druckmaschine. Mit ihr haben wir unter anderem Biermann- und Kunze-Texte vervielfältigt und verbreitet, indem wir sie verteilt haben – manchmal in Briefkästen, manchmal an ein paar andere Leute, von denen wir dachten, dass sie dichthalten und uns nicht anzeigen würden.

Angst hatte ich nicht. Auch meine Freunde in Reichenbach oder Leipzig waren eigentlich angstfrei. Besonders vorsichtig haben wir uns nicht verhalten. Ich dachte, die hätten uns vergessen. Aber am Ende reichte es dann doch, um mich zu verhaften und die „zweite Reihe“ der Biermann- und Kunze-Freunde aufzureiben.

 

Im November 1979 – mit 25 Jahren – wurdest Du in der Wohnung Deiner Mutter verhaftet. Ein Jahr später dann wieder ein „Rausschmiss“, dieses Mal in den Westen.

 

Utz Rachowski: Meine Freundin und ich haben nie ans Weggehen gedacht. Aber vom ersten Stasi-Verhör angefangen wollten die Stasi-Leute mich auf diesen Weg zwingen. Nach einem Dreivierteljahr Inhaftierung habe ich beschlossen, dem nachzugeben – wesentlich bestärkt dadurch, dass meine Tochter geboren wurde, während ich im Knast saß. Das hat mich total getroffen, und ich musste eine Entscheidung treffen. Ich musste unterschreiben, dass ich die Staatsbürgerschaft abgenommen bekomme, im Gefängnis gut behandelt wurde und so weiter – und das war es dann.

 

Dazwischen aber die Zelle, die Verhandlung, die Drehscheibe für das Verteilen der Verurteilten in die Knäste, dann die Vollzugsanstalt Cottbus mit ihrem berüchtigten Personal …

 

Utz Rachowski: Vierzehn Monate waren es insgesamt, sieben im Untersuchungsgefängnis der Stasi in Karl-Marx-Stadt und sieben im Zuchthaus Cottbus. In der Stasi-U-Haft gab es rote Teppiche auf dem Flur, die nicht für fürstliche Empfänge dienten – sondern dazu, dass sich die Schließer ungehört heranschleichen konnten. Kein Sonnenlicht, keine Fenster! In Cottbus dann Aufnahme durch den Schließer, den alle „RT“ – Roten Terror – nannten, den wohl übelsten Menschen, dem ich je gegenübergestanden hatte: unberechenbar, höchst gefährlich, brutal mit dem Gummiknüppel. Untergebracht war ich in einer Achtzehn-Mann-Zelle – mit zwei Waschstellen und zwei Toiletten, alles offen natürlich. Tagsüber wurden wir zum Arbeitskommando „Sprela“ geschickt – zur Herstellung irgendwelcher Buchsen. Winzige Stäubchen, aber auch größere Späne flogen da herum, und man atmete alles ein. Je nach Material kamen wir grün oder gelb aus der Schicht raus.

 

Nach dem Freikauf begann Dein Leben in West-Berlin, wenige Minuten Fußweg zu Jürgen und Lilo Fuchs. Wie hast Du dieses Leben empfunden?

 

Utz Rachowski: Ich habe West-Berlin ungefähr ein Jahr lang als Urlaub empfunden. Den Fuchsens und Sarah Kirsch bin ich bis heute dankbar, dass ich nicht länger als anderthalb Tage im Aufnahmelager Marienfelde bleiben musste. Dort war ich mit hochkarätigen Knackis, die die DDR dem Westen untergejubelt hatte, untergebracht. In der Nacht, bevor ich Jürgen Fuchs anrief und er sagte: „Komm her, wir machen ein Zimmer für Dich frei“, hatten sie mir bereits die Schuhe und die Winterjacke geklaut, die ich zuvor im Gießener Aufnahmelager bekommen hatte.

 

Du hast Dich in Berlin und später in Göttingen für Kunstgeschichte und Philosophie eingeschrieben. Begann so für Dich ein schönes, freies, neues Leben?

 

Utz Rachowski: Kunstgeschichte hat mich sehr interessiert, aber in der Philosophie merkte ich, dass viele Professoren absolut marxistisch drauf waren. Anders als früher in Leipzig kam ich nicht richtig ins Gespräch. Die Leute waren natürlich jünger als ich. Aber wohl nicht nur deshalb habe ich von meinen Erfahrungen im Osten überhaupt nichts mitteilen können. Diese Verständnisschwierigkeiten waren für mich eine schlimme Sache. So traf ich ehemalige DDR-Bürger, Polen, Ungarn, Tschechen, war nahe dran an der polnischen Exilzeitschrift „Archipelag“ und hatte engste Verbindung zum „Solidarność“-Büro in West-Berlin.

 

1982 bist Du während des Kriegsrechts als Kunststudent verkleidet nach Polen gereist, um selbst Hilfe zu leisten.

 

Utz Rachowski: Als dort der Kriegszustand ausgerufen wurde, mussten wir einfach etwas tun. Über Jürgen Fuchs kannte ich Adam Zagajewski. Er gab mir einige Adressen in Polen, die ich besuchte, um mich nach inhaftierten und internierten Schriftstellern und Intellektuellen zu erkundigen. Auf dem Rückweg nahm ich Texte von Autoren mit, die ich später übersetzen ließ und im RIAS gelesen habe.

 

Seit 1983 wurden Deine Bücher veröffentlicht und mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet. Als anerkannter Schriftsteller kehrtest Du 1989 – als 35-Jähriger – ins Vogtland zurück. Doch diese Rückkehr war nicht frei von Überraschungen, oder?

 

Utz Rachowski: Im Grunde genommen war es eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens. Meine Mutter und meinen Bruder durfte ich nach zehn Jahren wiedersehen – ich hatte ja Einreiseverbot in die DDR. Ich kam zurück ins Vogtland und genoss alles – eigentlich das ganz normale Leben. Du und ich haben einen Job bekommen und durften später Redakteure der Zeitschrift „Ostragehege“ werden, die heute noch existiert. Zwar hat es da irgendwann geknallt, aber das, was wir dort „reindrücken“ konnten, war uns sehr wichtig. Ein langer Essay von Jürgen Fuchs, „Poesie und Zersetzung“, war der Auftakt – ein absoluter Hammer an Erkenntnis und tiefer Durchforschung von Geschichte und Vorausblick.

 

Gab es auch weniger erfreuliche Wiederbegegnungen?

 

Utz Rachowski: In meiner überschaubaren Stadt Reichenbach hatte ich eine nicht sehr bedeutende Erbschaftsangelegenheit zu regeln und fand mich im Hinterzimmer einer kleinen Anwaltskanzlei mit dem ehemaligen Staatsanwalt von Karl-Marx-Stadt wieder. Sofort erinnerte er sich an den Fall meiner Freundin, die mit mir einige Zeit inhaftiert war. Da hätte ich sofort gehen sollen. Aber ich dachte, der Hund ist mir noch was schuldig.

Einer meiner Lehrer in der Oberschule – er hatte mit mir 1968 dort begonnen – war 1990 ihr Direktor. Als seine Akten gefunden wurden, stellte sich heraus, dass er von Anfang an bei der Stasi gewesen war. Es folgte seine Entlassung, gegen die er eine große Protestaktion auslöste, indem er seine Schüler aufforderte, vor dem Kultusministerium in Dresden zu demonstrieren. Er und seinesgleichen haben keinerlei Einsicht, bis zum Jüngsten Tag leugnen und lügen sie.

 

Unter den politischen Gefangenen jener Zeit gibt es nicht wenige, die unter den Eindrücken weiterhin derart leiden, als ob sie bis heute wirklich nicht da rausgekommen wären. Wie fällt Dein Blick zurück aus?

 

Utz Rachowski: Bereits als ich bei Familie Fuchs in Berlin unterkam, habe ich angefangen, alles aufzuschreiben. Das habe ich einige Jahre lang gemacht. Inzwischen fühle ich mich vom Gefängnis als Bedrückungserlebnis relativ frei, obwohl es tief in mir verankert ist und ich immer wieder darauf zu sprechen komme. Ein zweiter Zugang zu Deiner Frage setzt bei meiner Bürger- und Rechtsberatung an, die ich seit siebzehn Jahren meist in mittleren Städte Sachsens mache. Anfangs kamen 500 Menschen im Jahr, inzwischen sind es bis zu 1.200. Man sieht daran, dass diese Leute, die für Freiheit und Demokratie einstanden und nicht selten mit ihrer Gesundheit dafür bezahlt haben, unversöhnt sind. Das ist eine schlimme Nachricht aus siebzehn Jahren Beratungsarbeit. Die Gesetze, der Wille des Staates sind nicht schlecht. Es scheitert an Behörden wie Sozial-und Arbeitsämtern, wo man diese Menschen allzu oft wie Bittsteller behandelt.

 

Utz Rachowski, geboren 1954 in Plauen (Vogtland), schrieb mit seiner Erzählung „Der letzte Tag der Kindheit“ das schönste Stück deutscher Prosa über die Niederschlagung des Prager Frühlings aus der Sicht eines Heranwachsenden. Das Thema ist aus mehrfacher Erfahrung gespeist. 1971 wurde Rachowski wegen Gründung eines Philosophieclubs von der Erweiterten Oberschule relegiert. Reiner Kunze hielt den Vorgang im Beitrag „Fahnenappell“ in seiner 1976 in der Bundesrepublik erschienenen Prosasammlung „Die wunderbaren Jahre“ fest. 1979 wegen Verbreitung eigener und anderer kritischer Literatur zu 27 Monaten Haft verurteilt, setzten sich Kunze und Amnesty International für Rachowskis Freilassung ein, die 1980 mit seinem Freikauf durch die Bundesrepublik erfolgte. Bereits mit seinen 1983 erschienenen „Erzählungen, so traurig wie Sie“ leistete Rachowski einen unverkennbaren Beitrag für die deutsche Sprache.

 

Rachowski wird im September 2020 für sein 2019 erschienenes Buch „Die Lichter, die wir selbst entzünden. Essays. Reden. Porträts. Briefe aus dem Gefängnis“ mit dem „Alfred-Müller-Felsenburg-Preis für aufrechte Literatur“ ausgezeichnet.

 

 

Das Gespräch fand am 20. September 2019 in Berlin-Kreuzberg statt.

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