Vom 5. bis 19. Oktober 2014 tagte im Vatikan die „Dritte außerordentliche Generalversammlung der Bischofssynode“. Sie befasste sich mit dem Thema „Die pastoralen Herausforderungen der Familie im Rahmen der Evangelisierung“. Das klingt erst einmal sehr katholisch und ziemlich harmlos. War es aber nicht. Es könnte gut sein, dass diese Versammlung den entscheidenden Schritt zu jener „pastoralen Umkehr“[1] darstellt, die das Programm von Papst Franziskus ausmacht und die, wenn sie gelingen sollte, nicht nur die römischkatholische Kirche, sondern auch die politische Situation in vielen Gegenden der globalisierten Weltgesellschaft verändern dürfte. Warum?
Weil es im Kern um die Frage geht, ob die katholische Kirche sich immer weiter herausnimmt aus dem Spiel des Lebens und seinen spezifischen Lebensformen in spätmodernen Zeiten oder wieder zurückkommt aufs Spielfeld. Das gilt nicht nur für die hoch entwickelten Länder des Westens, sondern weltweit. Denn dies hat sich auf der Synode auch gezeigt: Die Probleme mit den gewandelten Lebensformen sind keineswegs nur die Probleme des Westens, wie oft behauptet wurde. Es sind – wie in einer medial, ökonomisch, politisch und verkehrstechnisch globalisierten Welt nicht anders zu erwarten – Probleme, die weitgehend in der ganzen Welt auftauchen, wenn sie auch in verschiedenen Gesellschaften recht unterschiedlich gelöst werden. Theologisch gesehen geht es um die Kernfrage, wie die katholische Kirche auf Menschen zugehen soll: indem sie ihre Schwächen verurteilt oder ihnen in ihrer Schwäche beisteht.
Barmherzig ist gerecht
„Wir spüren ja“, so der Trierer Bischof Stephan Ackermann im Februar 2011, „dass die Kirche hier auf breiter Fläche nicht mehr gefragt ist, dass Menschen da keine Orientierung mehr von ihr erwarten.“[2] Ackermann resümiert in erfreulicher Ehrlichkeit, worauf die wissenschaftlichen Daten seit Längerem hinweisen: In kaum einem Bereich hat sich die katholische Kirche diskursiv tiefer ins Abseits der Irrelevanz manövriert denn in jenem prekären Feld menschlicher Existenz, das im kirchlichen Jargon mit den Stichworten „Ehe und Familie“ umschrieben wird und ja tatsächlich im Leben jedes Menschen eine intime Realität anvisiert: wie zusammenleben, frei und doch auf Dauer respektvoll, kooperativ und solidarisch, Kinder gebärend und Eltern ehrend?
Die „offizielle Theologie“, so die Grazer Religionswissenschaftlerin Theresia Heimerl, „bewegt sich in Sachen Körper und Sexualität in einem Paralleluniversum. Wer die Enzyklika Pauls VI. Humanae vitae […] einerseits und den 2008 veröffentlichten Bestseller Feuchtgebiete andererseits liest, bekommt eine Ahnung von der Entfernung der beiden Universen. Hier der spiritualisierte Leib und eine ins Irreale gehobene Sexualität, dort Blut, Sperma und andere Körperflüssigkeiten eimerweise.“[3]
Der kirchliche Herrschafts- und Autoritätsdiskurs, der über lange Jahrhunderte das private wie öffentliche Leben und eben auch das Sexualleben der Christen beherrschen wollte und weitgehend beherrscht hat – er läuft heute ins Leere. Die Kluft zwischen strikter Doktrin und kirchlichen Rechtsvorschriften einerseits und real davon weit abweichender Praxis andererseits wirkt zudem, wie alle allzu breiten Theorie-Praxis-Klüfte, destruierend auf die Plausibilität der kirchlichen Lehre überhaupt. Offenbaren dann noch Missbrauchsskandale diese Norm-Praxis-Kluft im innersten (klerikalen) Bereich und an den sensibelsten Individuen aller Beziehungsrealitäten, den Kindern, dann verdunstet die kirchliche Normierungsautorität gegenüber laikalem Sexualleben endgültig und irreversibel.
Das hat vielfältige Gründe und Folgen. In der lehramtlichen Ehe- und Familienlehre herrscht offiziell weitgehend noch die alte statisch-idealistische, dabei stark juridisch geformte Auffassung sexueller und ehelicher Beziehungen, die früheren sozialen Formationen durchaus entsprach, aber mit heutiger Lebenswirklichkeit nicht mehr korrespondiert. Aus der Perspektive der Betroffenen erscheint solch eine Lehre dann als idealistische Überhöhung, die den komplexen und oft hochproblematischen Realitäten von Ehe, Familie und anderen partnerschaftlichen Beziehungsstrukturen nicht gerecht wird.
Gerade die personalistische Aufladung der alten, primär juridisch verfassten Ehelehre, wie sie die nachvatikanischen Diskurse im innerkirchlichen Raum beherrschte, erweist sich dabei keineswegs als ein wirklich weiterführender Weg. Denn die alten rechtlich-institutionellen Regelungen galten und gelten, von der hohen Bedeutung der Würde der einzelnen Person unberührt, weiter, ja wurden durch ihre personalistische Interpretation sogar eindringlicher und zugleich härter. Diese Entwicklung markierte den Abschluss sich immer weiter aufladender normativer Ehe- und Familiendiskurse innerhalb der Kirche. Seit dem 19. Jahrhundert war die katholische Kirche verstärkt als Anwältin von Ehe und Familie aufgetreten und hatte dabei „mit semantischen Beständen der Spätantike, mit kirchenrechtlichen Figuren des Mittelalters, der Gegenreformation und der ‚institutionalistischen‘ Überformung, die all das im 19. Jahrhundert erfahren hatte“[4], gearbeitet. Die Umstellung auf den bürgerlichen Personalitäts- und Intimitätsdiskurs zeigte sich aber spätestens mit Humanae vitae nicht als grundsätzlicher Neuansatz, vielmehr als Intensivierung, ja Intimisierung aller bisherigen kirchlichen Ehe- und Familiendiskurse.
Die traditionelle katholische Sexual- und Ehelehre berührt zudem auch den Sakramenten- und Gottesbegriff in problematischer Weise. Sie stellt etwa das Leben wiederverheirateter Geschiedener oder auch nichtverheiratet Zusammenlebender unter das Verdikt dauernder Sündhaftigkeit. Obwohl die katholische Ehetheologie die Ehe als Sakrament, also als wirksames Zeichen der Gnade Gottes, bestimmt, Gottes Gnadenwirksamkeit also gerade in diesem Sakrament bis in die mühsame Alltäglichkeit hinein zuspricht, wird das Scheitern einer Ehe von Gottes Zuwendung – so zumindest die Lehre – nicht noch einmal umfangen. „Gottes Barmherzigkeit ist“ aber, so der Tübinger Pastoraltheologe Ottmar Fuchs, „nicht ein Kompromiß mit der Gerechtigkeit, sondern manifestiert seine Gerechtigkeit“.[5]
Leben und Lehre gehören zusammen
Vor allem aber: In der klassischen katholischen Ehetheologie zeigt sich eine problematische Verhältnisbestimmung von Pastoral und Dogma – Pastoral erscheint als (bestenfalls gnädigerer) Anwendungsort dogmatischer Prinzipien. Demgegenüber gilt seit dem Zweiten Vatikanum: Die Pastoral ist selbst ein Entdeckungsort der kirchlichen Lehre und steht mit ihr in einem wechselseitigen Erschließungs- und Entdeckungsverhältnis. „Pastoral“ meint nach dem Zweiten Vatikanum ein dem Evangelium gemäßes Handlungsverhältnis der Kirche zur Welt im Ganzen.[6] Sie umfasst die gesamte Handlungs- und Erfahrungsseite der Kirche und ist selbst ein theologischer Ort und für die Kirche konstitutiv. Pastoral ist keine äußerliche Erscheinung der Kirche, sondern ihre Handlungsmacht und ihr Gestaltungsort in der Zeit. Der Gegensatz von Leben und Lehre „kann nur auftauchen“, so der Konzilstheologe Marie-Dominique Chénu 1968, „wenn man in der ‚Lehre‘ ein Begriffssystem sieht, das in einer Reihe abstrakter Aussagen außerhalb von Raum und Zeit besteht“.[7]
Im Umgang mit den völlig neuen Beziehungskonstellationen unserer Gesellschaft zeigt sich, welche Relation zwischen Dogma und Pastoral angesetzt wird: Hat die pastorale Erfahrung selbst dogmatisches Gewicht oder ist sie unerheblich gegenüber der Lehre? Hat die Kirche in ihrer Geschichte auch etwas zu lernen oder nur zu lehren? Haben die Menschen ihr etwas zu sagen, oder braucht sie nicht auf sie zu hören? Das Konzil entschied sich grundsätzlich für die erste Alternative, die nachkonziliare katholische Ehe- und Familienlehre aber nahm das vor allem in ihren kirchenrechtlichen Konsequenzen weitgehend zurück. Sie billigte der pastoralen Wirklichkeit de facto keine Erschließungskraft für die Lehre zu. Das scheint sich mit der Außerordentlichen Bischofssynode im Herbst 2014 geändert zu haben – so ist zumindest zu hoffen.
Der Welt helfen
Im Oktober 2015 wird es eine zweite Bischofssynode geben, nach ihr wird der Papst definitive Beschlüsse treffen. Noch ist nichts entschieden – und doch sind Türen geöffnet, die kaum mehr zu schließen sein werden: Es sind die Türen zur „pastoralen Umkehr“, die Franziskus will, hin zu einer Kirche, die nicht mehr der Welt aus erhabener Perspektive predigt, was sie zu tun und zu lassen habe, sondern die Kirche umgekehrt auf die Frage umformatiert, wie sie der Welt geben könne, was diese braucht.
Schon das Zweite Vatikanum hatte eigentlich vom Modus der urteilenden Moral auf jenen der helfenden Pastoral umgestellt und die Kirche als das „allumfassende Sakrament des Heiles“ definiert, „welches das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht“ (Gaudium et Spes 45). Nachkonziliar hat man dem nicht so ganz getraut; Papst Franziskus setzt hier einen entschiedenen Neuanfang. Er will eine Kirche, die der Welt wirklich hilft, eine andere Welt zu werden, gerade dafür aber von der Welt ausgehen muss, wie sie wirklich ist.
Eine Kirche aber, die sich nicht in die Sicherheit scheinbar unverletzbarer Räume und Gewissheiten zurückzieht, die nicht meint, sie könne ängstlich und verschreckt im privaten Rettungsboot die Stürme der Gegenwart überstehen, die vielmehr dem Ruf Jesu folgt und aussteigt und sich aufs Meer des Risikos und der Hingabe wagt, eine solche Kirche wird überraschen. Eine Kirche mit einer neuen Kultur der Aufmerksamkeit und der Ehrlichkeit, auch sich selbst gegenüber, eine Kirche, die sich verstören lässt durch die Wirklichkeit, die bereit ist zu Demut und Einsatz, die sich auf die Welt einlässt, wie Jesus sich auf die Welt eingelassen hat, wird nicht einfach alles lassen, wie es ist. Eine Kirche, die sich nicht in erhabene Wahrheiten flüchtet und an den konkreten Existenzproblemen der Menschen von heute vorbeidrückt, sondern ihren dienenden Charakter realisiert, die ihrer Botschaft und allen Menschen dient, weil genau dies ihre Botschaft von ihr fordert, eine Kirche, die auf Gottes Gnade vertraut, nicht ausgrenzt, beschimpft und denunziert, sondern Hoffnungen bereithält, an die niemand mehr zu glauben wagte, wird ein Faktor der Weltgesellschaft werden.
Solch eine Kirche hält auch Lerneffekte für den aufgeklärten Konservativismus bereit: Er kann erkennen, dass er verspielt, wofür er sich einsetzt, wenn er sich in Ressentiment und Nostalgie, Gegenwartsverachtung und einen Überlegenheitshabitus verkapselt; dass er eine Chance hat, wenn er an die Nöte und Sehnsüchte, an die Freuden und Zweifel der Menschen heute anschließt und in gelebten Vorbildern auf etwas verweisen kann, dessen man heute für ein menschenwürdiges Leben bedarf: Treue zum Beispiel oder Leistungsbereitschaft, aber auch Demut, Hingabe und Achtung gegenüber jedermann. Das Christentum lehrt einen realistischen Blick auf den Menschen: dass der Mensch weder so gut ist, wie säkulare Utopien ihn gerne denken, noch so egoistisch und selbstbezüglich, wie ihn der Kapitalismus konstruiert.[8] Solch eine Einsicht ist in den intimsten wie den öffentlichsten Feldern überaus nützlich.
Rainer Bucher, geboren 1956 in Nürnberg, seit 2000 Vorstand des Instituts für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie an der Fakultät Katholische Theologie der Universität Graz (Österreich).
[1] Vgl. dazu Rainer Bucher: „Zuerst die Barmherzigkeit. Programmatisch Neues im Pontifikat des Franziskus“, in: Die Politische Meinung 59 (2014) 1, S. 112–115.
[2] www.kath.net/detail.php?id=30170 (17.02.2011).
[3] Theresia Heimerl: „Himmlische Körper – irdisches Begehren. Aktuelle Herausforderungen zu einem christlichen Sprechen über Körper und Sexualität – (nicht nur) für Frauen“, in: Lebendige Seelsorge 60 (2009), S. 74–78, 75.
[4] Hartmann Tyrell: „Die Familienrhetorik des Zweiten Vatikanums und die gegenwärtige Deinstitutionalisierung von ‚Ehe und Familie‘“, in: Franz-Xaver Kaufmann / Arnold Zingerle (Hrsg.), Vatikanum II und Modernisierung, Paderborn 1996, S. 353–373, 367.
[5] Ottmar Fuchs: „Nicht pastoraler Kompromiß, sondern kompromißlose Pastoral“, in: Theodor Schneider (Hrsg.), Geschieden, wiederverheiratet, abgewiesen? Antworten der Theologie, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1995, S. 322–341, 328.
[6] Zum Pastoralbegriff des Zweiten Vatikanums siehe Rainer Bucher: „Nur ein Pastoralkonzil? Zum Eigenwert des Zweiten Vatikanischen Konzils“, in: Herder-Korrespondenz Spezial, „Konzil im Konflikt. 50 Jahre Zweites Vatikanum“, S. 9–13.
[7] Marie-Dominique Chénu: Volk Gottes in der Welt, Paderborn 1968, S. 18 f.
[8] Vgl. dazu Rainer Bucher: „Wie leben im hegemonialen Kapitalismus? Perspektiven des deutschen politischen Katholizismus“, in: Wort und Antwort 54 (2013), S. 149–156.