In seiner Antrittsrede nach seiner Wiederwahl zum Bundestagspräsidenten vor etwa einem Jahr hat Norbert Lammert den Bundestag aufgefordert, rechtzeitig vor der nächsten Wahl einen gemeinsamen sorgfältigen Blick auf das Wahlrecht zu werfen. Die für die Wahl des jetzigen Bundestags beschlossenen neuen Berechnungsmechanismen würden zwei elementare Schwächen aufweisen: Erstens seien sie für die meisten Wahlberechtigten ziemlich undurchsichtig, und zweitens hätten sie zwar zu einer Vergrößerung des Bundestags um nur 29 Ausgleichsmandate geführt, aber bei einem anderen, knapperen Wahlausgang könnte sich künftig eine wesentliche Vergrößerung des Bundestags ergeben.
Die Mahnung des Bundestagspräsidenten wirft ein Licht darauf, dass bei aller Bewährung unserer Verfassung eine zentrale Frage der demokratischen Ordnung, das Wahlrecht für das Parlament, schon im Parlamentarischen Rat und später im Bundestag immer wieder strittig war. Deshalb befasste sich auch das Bundesverfassungsgericht wiederholt mit diesem Thema, zuletzt 2008 und 2012. Der hundertste Geburtstag von Paul Lücke (1914–1976) am 13. November 2014 ist ein weiterer Anlass, über das Wahlrecht nachzudenken. Paul Lücke trat 1968 als Bundesinnenminister zurück, als die SPD die in den Vereinbarungen der Großen Koalition von 1966–1969 erwogene Einführung des relativen Mehrheitswahlrechts aus parteitaktischen Gründen aufgab und damit die Chance für ein eindeutiges Bundestagswahlrecht vertat.
Frankfurt, Weimar, Bonn
Die seit 1849 (!) in Deutschland geführte Auseinandersetzung um Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht und seine Varianten ist letztlich immer wieder nur emotional oder taktisch entschieden worden. Das am 12. April 1849 von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossene Wahlrecht, die absolute Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen mit eventueller Stichwahl zwischen den zwei Kandidaten mit der höchsten Stimmenzahl im ersten Wahlgang, war zur Zeit seiner Einführung das vorherrschende System auf dem europäischen Kontinent. Es wurde 1871 auf den neuen Deutschen Reichstag übertragen, weil Bismarck die Popularität, die die einstige Frankfurter Nationalversammlung als erster Versuch einer deutschen Einigung immer noch genoss, für die Reichsgründung nutzen und eine Wahlrechtsdebatte vermeiden wollte, die bei der Vielschichtigkeit der politischen Verhältnisse und Anschauungen in den deutschen Bundesstaaten vermutlich ziemlich schwierig geworden wäre. Dass dieses Wahlrecht später am Ende des Kaiserreichs weitgehend diskreditiert war, lag vor allem daran, dass Reichsregierung und Reichstagsmehrheit eine Revision der Wahlkreiseinteilung entsprechend der Bevölkerungsverschiebung über Jahrzehnte verschleppt hatten.
Der Rat der Volksbeauftragten verfügte für die Nationalversammlung 1919 ein reines Verhältniswahlrecht, das mit geringen Modifikationen bis 1933 beibehalten wurde. Es entsprach den Forderungen der Sozialdemokratischen Partei, die sich durch das alte Wahlrecht benachteiligt glaubte. Tatsächlich unterlag sie dabei einem Irrtum. Die unterbliebene Anpassung der Wahlkreiseinteilung im Kaiserreich verlangsamte zwar den Aufstieg der SPD, verhinderte aber nicht, dass sie bei den Reichstagswahlen von 1912 die stärkste Reichstagsfraktion wurde. Nach 1919 hätten das bisherige absolute Mehrheitswahlrecht und erst recht das relative Mehrheitswahlrecht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Dominanz der SPD und des Zentrums bewirkt und den Aufstieg der extremen Parteien NSDAP und KPD verhindert. Aus dem einst aus taktischen Erwägungen von den sozialistischen Funktionären befürworteten Verhältniswahlrecht machten ihre Nachfolger nach 1918 ein politisches Dogma. Die zersplitterten bürgerlichen Parteien hatten allerdings dagegen keine Einwendungen, weil sie bei einem Mehrheitswahlrecht eine Majorisierung durch die sozialistischen Wählermassen befürchteten. So gab es zunächst nur wenige warnende Stimmen zu den mit dem reinen Verhältniswahlrecht verbundenen Gefährdungen der parlamentarischen Demokratie.
Der Parlamentarische Rat konnte sich 1948/49 über das Wahlrecht nicht einigen. Aufgrund der erwähnten Interpretationen des absoluten Mehrheitswahlrechts und der Erfahrungen in der Weimarer Zeit mit dem reinen Verhältniswahlrecht wurden beide Systeme von der großen Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt. Die CDU/CSU befürwortete das relative Mehrheitswahlrecht, von dem sie sich eine klare Regierungsmehrheit sowie die Personalisierung und Dezentralisierung der Kandidatenaufstellung versprach. SPD und FDP lehnten dies ab, weil die Zahl der „verlorenen“ Stimmen dabei zu groß sei. Sie schlugen ein modifiziertes Verhältniswahlrecht mit Sperrklausel vor, das dann mangels Einigung im Parlamentarischen Rat auf Weisung der Alliierten von den Länderregierungen für die Wahl zum Ersten Deutschen Bundestag erlassen wurde. Die damit verbundenen „Überhangmandate“ konnten zu einer Prämie für die stärkste Partei führen, wurden aber nach und nach immer mehr
„ausgeglichen“. Betrug das Verhältnis von Direkt- zu Listenmandaten für die Wahl zum ersten Deutschen Bundestag noch 60:40 ohne jeden Ausgleich, wurde es schon für den zweiten auf 50:50 geändert. Dazu kamen im Lauf der Jahrzehnte der Ausgleich für die Überhangmandate innerhalb der Bundesländer und eine Verrechnung zwischen ihnen.
Faktisch ein Verhältniswahlrecht
So hat heute, im Jahr 2014, die Bundesrepublik Deutschland de facto erneut ein fast reines Verhältniswahlrecht. Der sogenannte Personalisierungseffekt durch die Erststimme bringt allenfalls einen beschränkten Statusgewinn für die direkt Gewählten, der mit einer zeitlichen Belastung für die Wahlkreisarbeit und den Wahlkampf erarbeitet werden muss. Der Bonus für die großen Parteien durch Überhangmandate ist weggefallen, ihre Verrechnung birgt je nach Wahlergebnis das Risiko einer starken Vergrößerung des Bundestags. Die Sperrklausel hat den gleichen Effekt wie nicht verrechnete Überhangmandate: Sie kann zu vielen „verlorenen“ Stimmen führen, bei der zurückliegenden Bundestagswahl immerhin 15,8 Prozent der abgegebenen Stimmen. Auch ihre Wirkung für die Regierungsbildung wäre begrenzt, wenn etwa bei künftigen Wahlen FDP und AfD die Fünf-Prozent-Hürde überspringen sollten. Dann wäre zwar die Zahl der verlorenen Stimmen niedriger, aber die Mehrheitsbildung für die Regierungsbildung unter sechs Parteien könnte zu einem Ergebnis führen, das nicht dem Wählerwillen entspricht. Die 1949 für die Sperrklausel gegebene Begründung, dass sie extremistische Parteien verhindere, die Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien reduziere und die Regierungsbildung erleichtere, ist kaum mehr relevant. Dazu kommt, dass die Fixierung der Sperrklausel auf fünf Prozent nicht unanfechtbar ist. Sie könnte das Bundesverfassungsgericht erneut ebenso beschäftigen wie bei der Wahl für das Europäische Parlament. Das derzeitige Wahlsystem ist nur traditionell durch seine 65-jährige Bewährung zu rechtfertigen, eine Eigenschaft, die allerdings durch die Änderungen der letzten Jahre bedauerlicherweise geschwächt wurde.
Im Interesse der Zukunft unserer Demokratie sind bei künftigen Entscheidungen über das Wahlrecht ein Verzicht auf kurzfristige wahltaktische Überlegungen und eine grundsätzliche Diskussion daher geboten. Dabei geht es im Kern um die alte, grundsätzliche Frage, ob sich aus der Wahl eine klare Regierungsmehrheit und eine starke Opposition ergeben sollen, welche die Vielzahl der zu entscheidenden Fragen in „Richtungen“ bündeln, oder ob das Wahlergebnis mathematisch möglichst genau die Meinung der Wähler am Wahltag widerspiegeln soll. Die bisherigen Änderungen des Bundestagswahlrechts und die unterschiedlichen, ebenfalls immer wieder korrigierten Wahlrechtssysteme der Bundesländer zeigen jedenfalls, dass es unmöglich ist, die Widersprüchlichkeit des Systems der personalisierten Verhältniswahl aufzulösen.
Abschied vom Proporzdenken
Die beste Option wäre, vom Proporzdenken gänzlich Abschied zu nehmen. Dafür bietet sich in erster Linie das relative Mehrheitswahlrecht an, das aber – trotz seiner nach wie vor gegebenen Vorteile für die Regierungs- und Oppositionsbildung – inzwischen wohl so sehr der politischen Mentalität der deutschen Bürger widerspricht, dass es kaum mehr vermittelbar wäre. Ähnliches gilt auch für das „Grabenwahlrecht“, bei dem es keine Verrechnung zwischen der Erst- und Zweitstimme, das heißt zwischen den Direktmandaten und den Listen, gibt. Erwägenswert ist aber das absolute Mehrheitswahlrecht mit Stichwahl, nicht wegen seiner Historie, sondern weil es zu klaren Mehrheiten führen kann, bei der Entscheidung über künftige Koalitionen dem Wähler ein Mitspracherecht gibt und das Argument der „verlorenen“ Stimmen relativiert. Aus Bürgermeister- und Landratswahlen ist es dem Wähler vertraut. Durch die Auflösung der sozialen Milieus und die zunehmende Mobilität hat sich auch die Problematik des Wahlkreiszuschnitts verringert.
Auf jeden Fall wäre es wünschenswert, wenn der Bundestag die Grundsätze der Gestaltung des Wahlrechts – detaillierter als gegenwärtig im Artikel 38 GG – so regeln würde, dass die Bildung einer stabilen Regierungsmehrheit und einer starken Opposition als „alternative government“ begünstigt werden und dies im Grundgesetz mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit verankert würde. Die erneute Beschäftigung mit dem Wahlrecht ist dringlich, weil, wie der Bundestagspräsident sagte, es immer besser ist, „sich mit solchen Entwicklungen dann auseinanderzusetzen, wenn die Probleme noch nicht eingetreten sind“.
Peter Molt, geboren 1929 in Stuttgart, Honorarprofessor an der Universität Trier, wurde 2004 für seine jahrzehntelange ehrenamtliche Tätigkeit in entwicklungspolitischen Institutionen das Bundesverdienstkreuz verliehen.