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von Thomas Volk

Steigende Preise und sinkende Stabilität im nördlichen Afrika

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Das Wort für „Brot“ lautet im Ägyptischen „Aisch“, das bedeutet auch „Leben“. Dieses arabische Wort ist in dem bevölkerungsreichsten arabischen Land mit seinen mehr als 100 Millionen Einwohnern also Synonym für das Brot und das Leben.

Seit Jahrzehnten gilt in Ägypten ebenso wie andernorts in den südlichen Mittelmeeranrainerstaaten: Steigt der Brotpreis, wird das Leben für Millionen Menschen härter. Russlands völkerrechtswidrige Invasion der Ukraine hat erhebliche Auswirkungen auf die Lebensmittelsicherheit in Europas südlicher Nachbarschaft. Die Tatsache, dass allein 2021 über siebzig Prozent der russischen Weizenexporte in die Länder der Region Nahost und Nordafrika erfolgten, verdeutlicht die Tragweite der nunmehr ausbleibenden Importe dieses Grundnahrungsmittels. Die zurückhaltende Positionierung arabischer Länder gegenüber der russischen Aggression lässt sich somit neben den sicherheitspolitischen auch durch starke wirtschaftliche Abhängigkeiten erklären. Da Russland und die Ukraine für zahlreiche Länder vom Maghreb bis zur Levante wichtige Lieferanten von Weizen, Speiseöl und Mais gewesen sind, verteuern sich nun die Preise für Hauptnahrungsmittel genau dort, wo noch nicht einmal die Folgen der Corona-Pandemie ökonomisch überwunden sind.

Die spürbaren Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel könnten insbesondere in den Ursprungsländern des sogenannten Arabischen Frühlings, in Tunesien und Ägypten, mittelfristig für neue Unruhen sorgen. Auch nach über einem Jahrzehnt seit Beginn der Aufstände in zahlreichen Ländern der arabischen Welt ist die Arbeitslosenquote und die Frustration der jungen Generation hoch, fehlen grundlegende Reformen und bleibt das Verhältnis zwischen Bürger und Staat äußerst angespannt. Vergegenwärtigt man sich die Parolen auf den Straßen von Tunis über Kairo bis Damaskus nach der Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 mit den Forderungen nach Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass steigende Lebensmittelpreise erneut zu Protesten führen könnten.

Ägypten ist als weltgrößter Weizenimporteur direkt von dem Ukraine-Krieg und den Sanktionen gegen Russland betroffen. 2021 bezog das nordafrikanische Land über achtzig Prozent seiner Weizenimporte aus Russland und der Ukraine; seit Kriegsbeginn taumelt Ägypten einer akuten Lebensmittelkrise entgegen. Mindestens die Hälfte der 102 Millionen Ägypter ist auf staatlich subventioniertes Brot angewiesen, das seit den 1980er-Jahren pro Laib unverändert fünf Piaster, umgerechnet etwa 0,6 Cent, kostet. Die im August 2021 von Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi angekündigte Streichung der jährlichen Brotsubventionen in Höhe von drei Milliarden US-Dollar dürfte vorerst ausgesetzt bleiben, da sonst der Preis für das wichtigste Grundnahrungsmittel für Millionen Ägypter bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von lediglich 220 Euro deutlich ansteigen würde.

Die Brotrevolten, die 1977 in Ägypten bei der Ankündigung des damaligen Machthabers Anwar al-Sadat, Subventionen für Brot und Reis streichen zu wollen, ausbrachen oder die von 1983 in Tunesien bei dem Versuch des damaligen Präsidenten Habib Bourguiba, staatliche Brotpreise auf Druck des Internationalen Währungsfonds (International Monetary Fund, IMF) zu liberalisieren, dürften den heutigen Herrschenden ebenso präsent sein wie die Ausschreitungen im Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling.

Ägypten bezuschusst, um den nationalen Frieden nicht zu gefährden, weiter Weizen und Mehl, wobei die Preise für nicht subventioniertes Brot seit Februar um bis zu fünfzig Prozent angestiegen sind. Die Inflation, die laut Prognosen der Weltbank 2022 rund zehn Prozent betragen dürfte, verschärft die ökonomische Lage Ägyptens ebenso wie die ausbleibenden Touristen aus Russland und der Ukraine in der anstehenden Sommersaison. Sie machten in der Vergangenheit ein Drittel der Touristenzahlen des wichtigsten ägyptischen Wirtschaftssektors aus.

Die ägyptische Regierung sah sich infolge des Kriegsausbruchs in der Ukraine zu besonderen Maßnahmen gezwungen. Im März wurde die Währung abgewertet und die Zinssätze wurden angehoben; beides dürfte die Kaufkraft des Mittelstands weiter beeinträchtigen und zu neuen Verstimmungen führen. Ferner wurde die Ausfuhr von Speiseöl, Mais und grünem Weizen für drei Monate unter Androhung von Haftstrafen verboten; einheimische Landwirte wurden zu Sonderabgaben von sechzig Prozent der Weizenerträge an den Staat verpflichtet, wobei der ägyptische Agrarsektor nur die Hälfte der inländischen Nachfrage nach Getreide abdecken kann. Es überrascht daher wenig, dass Präsident al-Sisi Anfang März nach Riad reiste, um sich finanzielle Unterstützung von Saudi-Arabien zu sichern. Bereits im April zahlte das Königreich fünf Milliarden US-Dollar an die ägyptische Zentralbank und sagte Investitionen in Höhe von zehn Milliarden US-Dollar zu. Katar bot Investitionen in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar an, und die Vereinigten Arabischen Emirate kündigten den Kauf von inländischen börsennotierten Unternehmen im Wert von zwei Milliarden US-Dollar an. Das starke Engagement der Golfstaaten für die Stabilität Ägyptens durch finanzielle Zuwendungen offenbart die fragile Lage des geostrategisch wichtigen Landes infolge ausbleibender Weizenimporte. Die Golfstaaten befürchten ebenso wie die Militärmachthaber in Ägypten selbst, dass die islamistische Muslimbruderschaft durch ihr weit verzweigtes karitatives Netzwerk die Preissteigerungen für sich instrumentalisieren und den damit einhergehenden zunehmenden Frust ähnlich wie 2012 als Vehikel für neue Mobilisierungsbestrebungen nutzen könnte.

Die Situation in Tunesien, dem Ursprungsland der arabischen Umbrüche des letzten Jahrzehnts, ist ebenfalls angespannt. Politisch befindet sich das Land spätestens seit dem 25. Juli 2021 in einem offenen Transformationsprozess, der zunehmend autoritäre Bestrebungen des 2019 gewählten Staatspräsidenten Kais Saied erkennen lässt. Wirtschaftlich wird das Land von einer enormen Staatsverschuldung von neunzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts, einem unregulierten informellen Sektor und einer steigenden Jugendarbeitslosigkeit geprägt. Die Inflationsrate für 2022 liegt laut Prognosen des Internationalen Währungsfonds nach dem Stand von Juni 2022 bei 7,7 Prozent und bringt erhebliche Preissteigerungen für Güter des täglichen Bedarfs mit sich. Nicht subventioniertes Brot wurde im Schnitt dreißig Prozent teurer, Obst- und Gemüsepreise stiegen durchschnittlich um zehn Prozent.

Seit März ist Tunesien von einer Mehl- und Speiseölkrise betroffen, die vor dem Ramadan zu leeren Supermarktregalen und frühzeitig geschlossenen Bäckereien führte. Tunesien ist ebenso wie Ägypten besonders abhängig von Weizenimporten, vor allem aus der Ukraine. 2021 kamen 47,7 Prozent der tunesischen Weizenimporte von dort, 34,2 Prozent aus der Europäischen Union und vier Prozent aus Russland. Der tunesische Gewerkschaftsverband warnt bereits vor einer „sozialen Explosion“, sollten die Preise weiter ansteigen.

Das tunesische Sozialministerium veröffentlichte Anfang März Zahlen, wonach vier der zwölf Millionen Einwohner von Armut betroffen seien; eine Million Tunesier lebten bereits unterhalb der Armutsgrenze.

Russlands Krieg in der Ukraine hat dramatische Auswirkungen auf die Lebensmittelversorgung und die Preisentwicklung in Europas südlicher Nachbarschaft. Ägypten, Tunesien, Marokko und Libanon dürften dauerhaft große Teile ihrer bisherigen zuverlässigen Weizenimporte verlieren. Eine Diversifizierung der Importe oder die Steigerung der Selbstversorgungsquote wird Zeit in Anspruch nehmen. Die damit einhergehenden Preissteigerungen bergen für viele Länder der Region erhebliche soziale Sprengkraft.

Laut den Vereinten Nationen sind die Lebensmittelpreise im April 2022 in der Region bereits um 34 Prozent höher als im Vorjahr und dürften laut Internationalem Währungsfonds in diesem Jahr um weitere vierzehn Prozent ansteigen. Der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit und Brot – als Synonym für ein menschenwürdiges Leben – könnte daher nur ein Jahrzehnt nach dem Arabischen Frühling in Nordafrika erneut lauter werden. Die Bäckereien in Kairo und Tunis sind dafür beunruhigende Gradmesser der öffentlichen Stimmung.

 

Thomas Volk, geboren 1986 in Waldkirch, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog und Regionale Integration im Südlichen Mittelmeerraum der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Tunis.

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