Asset-Herausgeber

von Joachim Krause

Russlands sicherheits- und verteidigungspolitische Strategie

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Seit 2014 stimmen alle seriösen Beobachter darin überein, dass Russland die strategische Konfrontation mit dem Westen sucht. Das Weißbuch zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Bundesregierung 2016 wählt den Terminus „strategische Rivalität“. Unklar ist in der politischen Debatte bis heute, was das konkret bedeutet. Wo liegen vor allem in Europa die damit verbundenen militärischen Bedrohungen? Die letztgenannte Frage an­ zusprechen, gilt in weiten Kreisen von Politik und Medien noch als Tabubruch, läuft sie doch darauf hinaus, dass man wieder in Kategorien militärischer Abschreckung denkt. Abschreckungsdenken wiederum wird in einem gedanklichen Kurzschluss dann dafür verantwortlich gemacht, dass ein neues Wettrüsten entsteht. Jedes Wettrüsten gilt bei Linkspartei, den Grünen und in weiten Teilen der Sozialdemokratie als derart schlimm, dass man alles unternehmen müsse, um es zu verhindern. Von daher wird mehr Dialog und größeres Verständnis für Russland gefordert, um einen drohenden neuen Ost-West-Konflikt zu vermeiden.

Es ist im Prinzip sinnvoll, zu versuchen, eine Konfliktlage mit Dialog und Vertrauensbildung abzuwenden.  Nach fünf Jahren des weitgehend ergebnislos gebliebenen Dialogs mit Russland ist es jedoch an der Zeit, sich Gedanken zu machen, welche Bedrohungen und Risiken existieren und wie man auf sie reagiert. Ausgangslage sollten der Stand der wissenschaftlichen Osteuropa­ und Russlandforschung sowie die Analysen aus dem Bereich der Strategieforschung zur Rolle militärischer und nicht militärischer Instrumente in der Politik Russlands sein. Auf dieser Basis lassen sich Einschätzungen gewinnen, die eine realistische Anpassung an die Politik Russlands erlauben.

Leider werden die Befunde sowohl der einen als auch der anderen Wissenschaft in der deutschen Politik weitgehend nicht wahrgenommen. Von Linkspartei, der Alternative für Deutschland (AfD) so­ wie großen Teilen von Grünen und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) werden sie ignoriert, weil sie nicht zu den jeweiligen ideologischen Vorstellungen passen. In der Union und bei der Freien Demokratischen Partei (FDP) findet sich zumindest eine Handvoll Politiker und Politikerinnen, die den Kontakt zur Wissenschaft suchen und sich mit deren Befunden auseinandersetzen.

In der Russlandforschung gibt es zwar unterschiedliche Einschätzungen, aber es ist erkennbar, dass die große Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon ausgeht, dass die von Moskau gesuchte strategische Konfrontation mit dem Westen primär innenpolitisch motiviert ist. Nach dem katastrophalen Scheitern der ambitionierten Reformpolitik Boris Jelzins in den frühen 1990er­-Jahren hat es eine Gegenbewegung gegeben, die das Scheitern der Reform als Werk dunkler Kreise des Westens hinstellte und die seit 1996 den Ton vorgibt.

 

Putins Machtvertikale

Ziel war es, die politische Kontrolle über den russischen Staat und seine Wirtschaft zu erringen, um somit den weiteren Zer­fall und den internationalen Machtverlust aufzuhalten. Der seit 1999 abwechselnd als Ministerpräsident und Präsident amtierende Wladimir Putin hat daraus ein System der zentralisierten Kontrolle von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft geschaffen, welches heute als eigenständige Machtvertikale fungiert und das Land fest im Griff hat.

In dieser Machtvertikale sind vor allem Vertreter des Sicherheitsapparates so­ wie Petersburger Seilschaften vertreten, die noch aus Sowjetzeiten ein klares, anti-westliches Weltbild haben. Viele Beobachter bezeichnen das heutige Russland als eine Kleptokratie. Diese Charakterisierung ist nicht unberechtigt, denn die Machtvertikale ermöglicht es vor allem ihren höchsten Vertretern und deren Entourage, unglaubliche Reichtümer anzuhäufen. Russland hat heute etwa ebenso viele Milliardäre wie die USA – die immerhin ein Bruttosozialprodukt aufweisen, welches zehnmal so groß ist wie dasjenige Russlands. Dadurch wird – das kennt man aus Ländern der Dritten Welt – ein politischer Machtwechsel zu einem existenziellen Risiko, das auf jeden Fall vermieden werden muss – zumeist durch Manipulationen des Wahlprozesses, die Behinderung von Oppositionsparteien und gelegentlich auch durch die Inhaftierung oder Tötung führender Personen aus der Opposition.

 

Furcht vor „farbigen Revolutionen“

Die größte Bedrohung für die Machtvertikale ist die Aussicht auf „farbige Revolutionen“, bei denen die Bevölkerung mit Massendemonstrationen die Machthaber verdrängt (wie Anfang 2014 in der Ukraine geschehen). Das probateste Mittel, um innenpolitische Opposition zu behindern, ist für die heutige russische Machtvertikale die Inszenierung eines Konfliktes mit dem Westen. Dadurch lässt sich die demokratische Opposition Russlands als Hand­ langer des Westens diskreditieren und je­ derzeit behindern.

Es bleibt auf absehbare Zeit das Interesse Russlands, den Konflikt mit dem Westen fortzusetzen. Dieser sollte allerdings begrenzt bleiben. Alles andere würde das Land wirtschaftlich überfordern. Aus diesem Grund bleiben auch die Aufwendungen für Militär und Rüstung relativ begrenzt – vergleicht man sie mit dem, was bis 1989 die Sowjetunion aufgewandt oder das „Dritte Reich“ hatten. Beide hatten Militärapparate aufgebaut, die geeignet waren, einen kontinentalen Krieg zur Eroberung Europas und darüber hinaus zu führen.

Betrachtet man die Befunde der strategischen Wissenschaft, so setzt sich das in der Osteuropaforschung gefundene Bild fort. Im Mittelpunkt steht die Analyse der russischen Militärdoktrin vom Dezember 2014, bei der sich mehrere Stränge identifizieren lassen.

So findet sich die Furcht vor „farbigen Revolutionen“ als zentrales Element der Bedrohungswahrnehmung in der Militärdoktrin wieder. Den westlichen Staaten wird unterstellt, demokratische Bewegungen zu unterstützen, zu finanzieren und zum Aufstand anzustiften, wobei auch davon ausgegangen wird, dass die westlichen Staaten (allen voran die USA) derartige Aufstände durch Geheimdienstaktionen und begrenzte militärische Interventionen („chirurgische Schläge“, eine Kriegführung, bei der ausschließlich militärische Ziele angegriffen werden sollen, um Kollateralschäden vorzubeugen) so lange unterstützen, bis der erwünschte Regimesturz eingetreten ist. Um derartige feindliche Eingriffe zu vermeiden, wird eine Gegenstrategie als notwendig erachtet, die nicht nur „farbige Revolutionen“ im Keim ersticken, sondern bei der auch der Spieß umgedreht werden soll: Die westlichen Demokratien sollen ihrerseits durch die Nutzung von traditionellen und sozialen Medien zur Verbreitung von Fake News, durch Unterstützung pro-russischer Parteien, durch Agententätigkeiten oder gezielte Provokationen destabilisiert werden.

Des Weiteren ist das russische Militärdenken von einer Missachtung der Sicherheitsinteressen seiner unmittelbaren Nachbarstaaten (des ehemaligen Gebiets der Sowjetunion sowie des Einflussbereichs der früheren Sowjetunion) durchzogen. Von diesen wird erwartet, dass sie auf russische Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen und sich weder einem Militärbündnis noch einem Staatenbund wie der Europäischen Union anschließen. In diesem Zusammenhang wird die derzeit vorherrschende internationale Ordnung (die Souveränität, Demokratie und Bündnisfreiheit garantieren soll) als den russischen Interessen diametral entgegen­ gesetzt betrachtet. Die Zerstörung dieser politischen Ordnung ist zentrales Ziel der russischen Militärpolitik. Es gibt aber – im Gegensatz zu China – keine dezidierten russischen Vorstellungen, was diese Ordnung ersetzen soll – außer dass alle anderen Russland fürchten und angemessen berücksichtigen sollen.

 

Strategische Zapad-Militärmanöver

Die nuklearstrategische Konkurrenz mit den USA nimmt einen zentralen Stellenwert in der russischen Militärdoktrin ein. Ziel bleibt es, einen großen Nuklearkrieg mit den USA zu vermeiden. Allerdings ist das russische Vertrauen in die Absichten der USA gering. Vor allem die amerikanische Raketenabwehr wird als Versuch gesehen, Russlands Rang als nukleare Supermacht einzuschränken. Die USA haben jedoch seit der Obama-Administration entsprechende Pläne aufgegeben.

Dennoch investiert Russland mit viel propagandistischem Getöse neue strategische Angriffssysteme, die angeblich jede der nicht existierenden amerikanischen Abwehrsysteme durchdringen können. Auch hier wird erkennbar, wie sehr die russische Militärpolitik der innenpolitischen Stabilisierung der Machtvertikale Putins dient.

Für Europa ist die Renaissance, die die operative Dimension der Kriegführung im russischen Militärdenken derzeit erfährt, der größte Anlass zur Sorge. Das russische Militär denkt erneut in Kategorien regionaler Kriege sowie deren Beendigung durch Eskalationsdominanz und macht daraus auch kein Geheimnis. Die gemeinsamen strategischen Zapad-(deutsch: „Westen“)­Militärmanöver der Streitkräfte Russlands und Weißrusslands 2013 und 2017 lassen ein immer wieder­ kehrendes Muster erkennen: Es wird die Eroberung eines Landes von der Größe der drei baltischen Staaten durch hybride Aktionen und eine klassische militärische Invasion durch mechanisierte Verbände und danach die Verteidigung gegen einen mit modernsten Waffen ausgerüsteten Gegner geübt. Das derzeit zu beobachtende Bemühen Russlands um die Dislozierung von Mittelstreckenwaffen ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Das bedeutet: Auch wenn die russische Bedrohung begrenzt ist, kann sie schon in naher Zukunft zu einem Krieg in Europa führen, der regional begrenzt wäre, je­ doch in seinen politischen Folgewirkungen möglicherweise unübersehbare Konsequenzen hätte.

 

Joachim Krause, geboren 1951 in Heide, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik und Professor emeritus für Internationale Politik an der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel, Herausgeber von „SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen“.

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