Asset-Herausgeber

von Alexandra Kodjabachi

Gegenporträts der libanesischen Jugend

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Seit 2019 sind die Menschen im Libanon Zeugen von etwas, das der Öffnung der Büchse der Pandora gleichkommt. Im Zentrum des Geschehens steht die libanesische Jugend: ihr zorniger Aktivismus, ihre geplatzten Träume, der Verlust von Heimat, wie sie sie kannten, ihr Wille, an ihren Zielen festzuhalten, für vier Dollar am Tag zu arbeiten und nebenbei noch eine Karriere aufzubauen, ihr Einfallsreichtum und ihre Verzweiflung. Einige von ihnen werden wir kennenlernen. Es sind Geschichten der Selbstermächtigung vor dem Hintergrund einer nicht enden wollenden Krise.

Im Oktober 2019 entzündete sich eine ohnehin aufgeheizte Stimmung an staatlichen Sparmaßnahmen. Der Ausfall öffentlicher Dienstleistungen aufgrund jahrelanger Misswirtschaft und Korruption, die wachsende Arbeitslosigkeit und ein Bruttoinlandsprodukt mit einem Minuswachstum, das von 2018 auf 2019 von 1,9 Prozent auf 6,7 Prozent stieg, führten neben einer geringen Dollarliquidität, fehlendem Benzin und Weizen dazu, dass die Menschen sich nicht mehr anders zu helfen wussten, als ihren Zorn auf die Straße zu tragen.

Die Proteste dauerten Monate an, und auch heute, anderthalb Jahre später, gibt es kein Licht am Horizont. Im Gegenteil: In den Augen der Bürgerkriegsgeneration ist das Land tiefer als damals in Armut und Mangel versunken. Im August 2020 bezifferte die Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (Economic and Social Commission for Western Asia, ESCWA) die Armutsrate im Libanon mit über 55 Prozent. Durch immer schärfere Kapitalkontrollmaßnahmen hat sich die Lage seither verschärft: Eine neue Währung wurde geboren, die der Wirtschaftsanalytiker Dan Azzi Lollar (libanesischer Dollar) nennt. Der Wert entspricht etwa 25 bis 39 Prozent eines US-Dollars. Das libanesische Pfund verlor neunzig Prozent seines Wertes, und die Inflation belief sich zeitweilig auf mehr als 400 Prozent. Die Hyperinflation im Libanon zählte, mit der in Venezuela, zu den weltweit höchsten. Die COVID-19-Pandemie und die Lockdowns heizten die Lage zusätzlich an: Vielen Betrieben blieb nichts anderes übrig, als zu schließen.

„Was kann denn jetzt noch kommen?“, fragten sich die Menschen angesichts all der Katastrophen. Tatsächlich kam es schlimmer: Am 4. August 2020 traf eine der größten nicht nuklearen Explosionen der Menschheitsgeschichte den Hafen von Beirut. Die Bilanz: mehr als 200 Tote, 7.500 Verwundete und 300.000 Obdachlose. Innerhalb von Sekunden glich die Hauptstadt des Libanon einem Kriegsgebiet. 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat, die in der Schwüle der mediterranen Hauptstadt in einem Container im Hafen lagerten, explodierten, vermutlich verursacht durch Schweißarbeiten.

Alles hängt miteinander zusammen. Auch die Geschichten einzelner Menschen.

„Aix erdet dich, hier kannst du wachsen. Aix ist nicht chaotisch. Die Provence heilt die Seele“, sagt die 22-jährige Maria Tawk über Aix-en-Provence, die Stadt, in die sie 2020 zog, um im zweiten Jahr Jura zu studieren. Diese Beschreibung steht im Gegensatz zu dem einengenden, chaotischen, erdrückenden Land, aus dem sie kam. Doch inzwischen entdeckt sie in der Provence Düfte, die sie an ihr libanesisches Heimatdorf erinnern.

Als Maria in Frankreich ankam, war das nicht so, sondern sie lebte in einem Nebel aus Gefühllosigkeit und Apathie, im Bewusstsein, der Krise entronnen zu sein, und mit der Erkenntnis, dass sie zu Hause keine berufliche Zukunft hat. Aber auch in der Fremde war ihre Zukunft ungewiss. Als sie ankam, besaß sie ein wenig Geld, und sie schwor sich, von ihrem Vater nie wieder welches anzunehmen.

Das Unbehagen und die Gleichgültigkeit schwanden, und der Jurastudentin wurde klar, dass sie ihr Potenzial vergeudete. Auf Anregung einer Freundin begann sie, Verbindungen zu knüpfen. Sie kontaktierte begabte Libanesen an der Universität, traf viele Menschen, Vertreter von Verbänden oder der Kirche, stolperte über neue Namen, weil es der Zufall so wollte oder weil alte Bekannte der Familie vermittelten. Alles schien in Ordnung zu kommen. Als sie ihr neues Zimmer in Les Cuques bezog, sparte sie nicht nur Miete, sie war auch wieder frei im Kopf und dachte über ihre langfristigen akademischen Ziele nach.

 

Sich von der Krise lösen

 

Maria saß an ihrem Schreibtisch, vor sich den Laptop, daneben auf dem Tisch frische Äpfel und eine Liste möglicher Themen für ihre Doktorarbeit. Unentschlossen rief sie ihre Mutter an: „Das will gründlich überlegt sein. Wenn ich das vermassele, kann ich einpacken!“ Maria wollte unbedingt alles richtig machen. Ihr Vater kam ans Telefon: „Du machst immer alles richtig.“ Drei Stunden später schrieb sie ihm eine Mail und teilte ihre Entscheidung mit, und die Äpfel auf dem Tisch wurden weniger.

Jetzt, da die Miete bezahlbar und das Thema der Arbeit ausgewählt war, galt es, darüber nachzudenken, wie sie Geld verdienen wollte. Sie bewarb sich auf Praktikantenstellen, wurde aber ständig abgelehnt und begann schließlich, den Einheimischen Englischunterricht zu erteilen.

„Hör auf, wie eine Libanesin zu denken“, sagte sie sich während der letzten Monate des Jahres 2020 immer wieder. „Du musst nicht von der Hand in den Mund leben.“ Maria wollte nicht mehr nur überleben, sie wollte aufsteigen. Sie wartete nicht länger darauf, dass das Leben leichter, sich die Krise auflösen und in einem schwarzen Loch verschwinden würde. Sie besann sich auf ihre Eigenständigkeit: „Ich habe es in der Hand. So ist die Lage. Was kann ich daraus machen?“

Sie bediente sich, wenn auch unbewusst, dreier von Stephen Coveys Prinzipien autonomer und aktiver Menschen.1 Erstens: Sie wurde proaktiv, anstatt nur auf die Welt um sie herum zu reagieren. Sie engagierte sich für andere, suchte nach Alternativen und schuf sich eine Perspektive. Zweitens: Sie konzentrierte sich auf ihr Ziel, Jahrgangsbeste zu werden und als unabhängige junge Forscherin auf dem Weg zum Doktortitel erfolgreich zu sein. Und drittens: Sie packte die wichtigsten Dinge als Erstes an, setzte Prioritäten und verfolgte ihre Ziele, Schritt für Schritt.

Ortswechsel zurück in den Libanon: Als sich die 28-jährige Gaelle Youssef, Programmkoordinatorin am Democracy Reporting Institute (DRI)2, und die 21-jährige Dana Saadeddine, Mitglied der Jugendverbände von Rachaya, zum ersten Mal trafen, diskutierten sie über einen Fußballplatz, der nach ihrer Meinung für junge Leute geöffnet werden müsse. Das zweite Mal trafen sie sich an der Modern University for Business and Science in Beirut. Gaelle koordinierte gerade eine Debatte über Wahlprogramme. Dana kandidierte für die Wahlen zum Jugendrat, die sie im Sommer 2019 gewann.

Die zornige Generation Z – immer haarscharf am Rande zum nächsten Streit: Gaelle brachte ihnen bei, wie man revolutionären Schwung in konstruktive Gespräche umlenkt. Sie stand einem Beirat von vierzehn jungen Leuten vor. Und auch sie musste erst lernen, mit Worten zu überzeugen und vorausschauend zu denken. Dana gewann das Vertrauen ihrer Mitstreiter, und sie bewies Mut, als sie den Vorsitzenden der Studentenunion [ähnlich dem AStA, Anmerkung des Übersetzers] zu finanziellen Angelegenheiten und der Umsetzung von Projekten befragte. Dana hatte ihr Amt im Jugendrat zwei Jahre inne, auch während der COVID-19-Pandemie. In dieser Zeit bauten sie und ihr Team Partnerschaften auf, organisierten eine Bildungskampagne mit 170 Teilnehmern, eine Büchertauschaktion, Schachturniere, Umweltkampagnen und umweltfreundliche Kunstausstellungen.

Dana ist dankbar für die Unterstützung von Gaelle und dem DRI, und auch die Erfahrungen dieser zwei Jahre will sie nicht missen. Doch sie ist auch desillusioniert angesichts der Lage im Libanon. Sie überlegt, wie so viele andere, auszuwandern. 2020 verdoppelte sich innerhalb eines Jahres die Zahl der IELTS-Prüfungen, eines international standardisierten Englisch-Examens. Die Migrationsrate im Libanon stieg 2020 um 47 Prozent und 2019 um 89 Prozent, nachdem sie 2018 um 195,37 Prozent abgesunken war.

 

„Staying & building in Lebanon“

 

Im Jahr 2014 verschuldete sich die Familie von Jad Al-Fakhani. Nach dem Verkauf ihrer Vermögenswerte war weniger als die Hälfte der Schulden getilgt. Jad Al-Fakhani, frisch immatrikuliert, brach sein Studium ab, um seine Eltern zu unterstützen. Während alle um ihn herum in Depressionen versanken, entschied er, sich durchzukämpfen. Er nahm zwei Stellen gleichzeitig an und lernte digitales Marketing, fünf bis sechs Stunden täglich. Aus freiberuflichen Jobs entwickelte sich ein Start-up, das zunächst wenig abwarf, ihm aber irgendwann 3.000 Dollar im Monat einbrachte. Jad war zielorientiert und investierte klug, und nach einem Jahr und acht Monaten war die Familie schuldenfrei. Er entschied sich, auf eigene Rechnung weiterzumachen, gewann Partner und gönnte sich nach vier Jahren zum ersten Mal eine Auszeit.

Doch es gab auch einen Wermutstropfen. „Wenn ich jemanden gehabt hätte, der mir sagt, wie es geht, hätte ich es in einem Jahr schaffen können“, erzählt Jad mit leisem Bedauern. Der junge Experte für E-Commerce beschloss, nicht zu räsonieren, sondern aktiv zu werden. An einem regnerischen Novembertag 2019 – er hatte sich wochenlang an den Protesten beteiligt und das Gefühl, nicht weiterzukommen – ergriff Jad die Initiative, um selbst Aufbauarbeit zu leisten: Innerhalb von fünf Minuten hatte er eine Instagram-Seite eingerichtet, und nach dreißig Minuten war der erste Post online. In den darauffolgenden hundert Tagen streamte er beinahe ununterbrochen: Er teilte seine Erkenntnisse als E-Commercer und gab Tipps, wie man erfolgreich Anzeigen gestaltet. Anderthalb Jahre später hatte der auch als Wolf of Bey bekannte Jad Al-Fakhani eine Community von 13.100 Unterstützern, von denen die meisten im E-Commerce und im digitalen Marketing tätig sind.

In Jads Instagram-Biographie steht das Motto „Staying & building in Lebanon“. Auf die Frage, warum er unbedingt bleiben wolle, antwortet er: „Wenn es um das Geschäftliche geht, kann ich auch als Nomade arbeiten, in jedem Land der Welt. Meine Arbeit kann ich überall machen. Doch ich liebe dieses Land sehr. Ich glaube, wir sind diejenigen, die bleiben müssen. Ich glaube, wir haben nicht die Wahl, sondern die Pflicht, unserem Land zu helfen. Und wenn du helfen kannst, indem du mit deiner Kamera etwas teilst, dann tu es.“

In einem Livestream auf Instagram überzeugte Jad einen enttäuschten libanesischen Influencer: „Wenn ihr gehen wollt, geht. Und wenn ihr bleiben wollt, bleibt. Es gibt eine Menge Möglichkeiten, über die Runden zu kommen, wenn ihr (dem Land) helft.“

Für Jon Katzenbach, Experte für Organisationsstrategie, sind informelle Führer „einige wenige Menschen oder ein sehr kleiner Teil der Mitarbeiterschaft in einer Firma, die über ein hohes Maß an emotionalem Einfühlungsvermögen oder sozialer Konnektivität verfügen.“3 Es sind Menschen, die den Stolz des Gegenübers stärken, sie sind Vorbilder und Netzwerker, und dank ihres ausgeprägten emotionalen Gespürs sind sie in der Lage, auch ohne Titel oder Führungsposition ihr Umfeld zu beeinflussen.

Wäre der Libanon eine Firma, dann wäre sie knapp viermal so groß wie Walmart, und Jad wäre mit Sicherheit einer ihrer informellen Führer.

 

Alles auf Anfang

 

Die Geschichten, die ich Ihnen erzählt habe, stehen nicht in der Zeitung. Ich habe mit diesen Menschen gearbeitet, sie unterstützt und ihren Stimmen gelauscht. In der Wissenschaft, in der Politik, in der Wirtschaft – menschliches Potenzial kann sich überall entfalten. Allerdings nicht wie in Blockbustern, sondern in stillen Momenten, oft unauffällig.

Mir geht es nicht darum, die Not zu romantisieren oder Einzelne zu glorifizieren. Ich habe unzählige junge Leute getroffen, die darauf brannten, sich zu bilden und ihrer Gemeinschaft zu helfen. Vielleicht ist es so etwas wie das Anti-Porträt einer verzweifelten Jugend: Die Tragödie wird umgekehrt. Sie nimmt gar nicht erst ihren Lauf. Alles auf Anfang. Auf den Moment, in dem die Entscheidung getroffen wird, das eigene Leben in die Hand zu nehmen.

Und doch schwingt in allem Tragik mit: Wir können sie nicht verleugnen, genauso wenig wie die Enttäuschung, die Frustration, den Groll oder den Wunsch, wegzugehen. Diese Geschichten sind Wirklichkeitsschnipsel, aus einer anderen Wirklichkeit. Oder eine zweite Haut, über der ersten, mit der wir uns der Welt zeigen möchten.

 

Alexandra Kodjabachi, geboren 1993 in Beirut (Libanon), Gründerin und Geschäftsführerin von „PersEd“, Beirut, einem Start-up-Unternehmen für Lernerfahrungsdesign und Persönlichkeitsentwicklung, Alumna der MENA Leadership Academy der Konrad-Adenauer-Stiftung, „G20 Young Global Changer“ (2017 und 2021), „Unleash Global Talent“ (2018) und „UNESCO APCEIU Youth Leader“ (2019).

Übersetzung aus dem Englischen: Wilfried Becker, Germersheim

 

1 Stephen R. Covey: The 7 Habits of Highly Effective People: Powerful Lessons in Personal Change, Free Press, New York 2004.

2 Eine in Berlin registrierte überparteiliche, unabhängige, gemeinnützige Organisation mit einem Büro im Libanon, https://democracy-reporting.org/de/ [letzter Zugriff: 14.04.2021].

3 Jon R. Katzenbach / James Thomas / Gretchen Anderson / Robert Moritz: The Critical Few: Energize Your Company’s Culture by Choosing What Really Matters, Berrett-Koehler Publishers, San Francisco 2019.

 

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