Ein wichtiges Buch in Zeiten geopolitischer Spannungen: Der Journalist Oliver Moody beschreibt den Ostseeraum als ein Gebiet, das in Deutschland immer noch stiefmütterlich behandelt wird. Für die unzureichende Befassung mit der Ostseeregion steht sinnbildlich, dass dieses Buch, das nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt, aus der Feder eines britischen Autors stammt. Es ist in zwei große Abschnitte unterteilt: Im ersten geht Moody auf die Anrainerstaaten der Ostsee (außer Russland und Schweden) ein, um sich im zweiten Abschnitt den aktuellen Herausforderungen (durch Russland) und einem möglichen Krieg (gegen Russland) zu widmen.
Die Esten beschreibt Moody als eine „Nation in Eile“ (S. 71), die nach 1991 gleich mehrere Entwicklungen – und dies in steter Angst – übersprungen habe. Ein schlanker Staat, marktwirtschaftliche Reformen, Modernisierung und Innovation bildeten den Kern dieser Entwicklungen, die mit einem „Drang nach Westen“ verbunden waren. Hierbei hätten estnische Entscheidungsträger immer wieder auch mit schrillen Tönen auf das Sicherheitsbedürfnis ihres Landes aufmerksam gemacht. Insgesamt sei Estland „alles andere als ein bescheiden auftretender Bittsteller“ (S. 46) gewesen.
Neues Machtzentrum Ostmitteleuropas
Im Kapitel über Lettland geht Moody insbesondere auf die Nationalitätenfrage ein. Weder seien die rund 25 Prozent ethnischen Russen – rechnete man die Einwohner mit belarussischer und ukrainischer Abstammung hinzu, wären knapp 35 Prozent der Bürer russischsprachig – eine umsturzbereite fünfte Kolonne Moskaus, noch drohe ihre Unterdrückung durch „faschistische“ Letten, wie die Kreml-Propaganda oftmals verlautbart. Doch sei die Nationalitätenfrage in Lettland stets das größte Problem des Landes gewesen, da man die engsten Verbindungen zu Russland besessen habe und zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1991 nahezu die Hälfte der Bevölkerung keine ethnischen Letten waren (S. 117).
Der neue Nationalstaat ging einen Sonderweg: Ausschließlich vor 1939 in Lettland ansässige Einwohner erhielten die lettische Staatsbürgerschaft, womit rund 730.000 Menschen plötzlich „Nicht-Staatsbürger“ waren, die nicht wählen und nicht in den Staatsdienst eintreten durften (S. 130). Die strikten Regelungen wurden zwar sukzessive, auch im Zuge des Beitritts zur Europäischen Union und zur NATO, gelockert, doch seien sie, wie Moody ausführt, bereits in den 1990er-Jahren seitens des Kreml immer als grobe Menschenrechtsverletzung dargestellt worden. Wenngleich die ethnischen Russen keinen Aufstand planten, so Moody, nehme die mediale Einflussnahme und Desinformation durch Russland stetig zu, und die Unzufriedenheit der russischsprachigen Bevölkerung wachse: Im Oktober 2022 gaben 55 Prozent dieser Bevölkerungsgruppe an, sie „hegten Groll gegen den lettischen Staat“ (S. 139). Generell sei das soziale Vertrauen – in die Mitmenschen, in den Staat, ja fast in jede Institution – sehr gering ausgeprägt, was Moody als Resultat der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung und der großen Einkommensunterschiede innerhalb der Bevölkerung erachtet (S. 146f.).
Polen beschreibt Moody als das neue Machtzentrum Ostmitteleuropas. Die Bevölkerung besitze eine bessere Schulbildung als die deutsche, die Kaufkraft steige, das Militär sei bestens ausgestattet, und die Wirtschaft floriere. Ein Lobgesang, wie der Autor selbst konstatiert, der schon mehrmals auf Polen angestimmt wurde, das sich trotz seiner „Megafon-Diplomatie“ (S. 184) teils innenpolitisch selbst lähmte und die hohen Zukunftserwartungen nicht einlösen konnte. Zudem sei das Land noch immer von einer „posttraumatischen Souveränität“ (so der Titel einer Publikation des polnischen Autors Jarosław Kuisz) geprägt und suche nach einer oftmals beinahe sendungsartig überhöhten Mission.
Deutschland und der Ostseeraum
Der Bundesrepublik attestiert der Autor in der Zeitenwende eine „Identitätskrise“ – ein vermutlich ebenso oft wiederkehrender Topos wie jener der polnischen Sternstunde. Ob die 2022 ausgerufene Zeitenwende gelinge, sei für die Ostseeregion von höchster Bedeutung. Die russische Vollinvasion der Ukraine habe den Ostseeraum, so Moody, „ins Zentrum der deutschen Aufmerksamkeit gerückt“ (S. 211). Eine vermutlich etwas optimistische Aussage, die der Autor selbst relativiert, indem er sich äußerst skeptisch hinsichtlich einer deutschen Führungsrolle in der Region und des Erfolgs der Zeitenwende zeigt. Denn, so konstatiert Moody, die Zeitenwende war in kürzester Zeit umstritten und kostspielig; das habe allgemeine Zukunftsängste der Deutschen genährt. Im Baltikum werde die wirkliche Tragweite und Umsetzung dieses Reformprozesses kritisch beäugt. Gegenüber der Volksrepublik China fahre Deutschland zum Beispiel den gleichen Kurs wie zuvor.
Den Umgang mit China behandelt Moody auch im Kapitel über Litauen. Das kleine baltische Land habe sich erfolgreich gegen Erpressungsversuche aus Peking gewehrt und die westlichen Verbündeten zu einer geschlossenen Haltung animiert. Daran zeige sich laut Moody, wie Kleinstaaten der Region nicht nur im Umgang mit Russland, sondern auch gegenüber anderen autokratischen Herausforderungen souverän agieren und über ihrer eigenen Gewichtsklasse boxen können. Auf diese Weise hätten die baltischen Staaten einen „moralischen Führungsanspruch“ errungen (S. 257).
Auch die skandinavischen Staaten nimmt Moody in den Fokus. Es leuchtet ein, dass er Norwegen kein eigenes Kapitel widmet, da es hauptsächlich an den Atlantik und die Nordsee grenzt und daher für die Ostseeregion eine eher zweitrangige Rolle spielt. Aber warum bleibt Schweden außen vor? Gerade die Ähnlichkeiten (und Unterschiede) zu Finnland hätten den Blick bereichert. Denn hier zeigt Moody, dass die Finnen strategische Ruhe besitzen, ohne frei von pessimistischem Denken zu sein, aber nüchtern und realistisch vorausschauend planen. Im 20. Jahrhundert habe Finnland zwischen den Großmächten einer „realpolitischen Überlebensstrategie“ folgen müssen und sei auch weiterhin in der Lage, dynamische Richtungswechsel zu vollziehen, wie etwa den zuvor keineswegs populären NATO-Beitritt 2023 – den auch Schweden realisierte, womit nun fast die gesamte Ostseeküstenlinie zu den Mitgliedstaaten dieser Allianz gehören. Die Bedrohung durch Russland habe jeder Finne aus historischer Erfahrung und aktueller Lage stets vor Augen. Daher laute das finnische Motto: „Selbst der stärkste Bär wird kein Stachelschwein fressen“ (S. 95), und es bestehe eine gesamtgesellschaftliche Bereitschaft und Fähigkeit zur militärischen „Gesamtverteidigung“.
Im Dänemark-Kapitel beschreibt Moody vor allem die Herausforderungen der verschmutzten Ostsee und andere Aspekte der soft security, etwa Energie- und Infrastruktursicherheit. Aber auch hier kommt die Bedrohung durch Russland zur Sprache: Die marode „Schattenflotte“ – schlecht gewartete Tanker, die über die Ostsee russisches Öl ins Ausland transportieren – und eine oftmals rücksichtslose Müllentsorgung werden als Umweltgefahr made in Russia skizziert. Die russischen Sabotageaktionen gegen die (Energie-)Infrastruktur in der Ostsee finden ebenso Erwähnung wie das Nord-Stream-Debakel. Wie Dänemark selbst nach 1991 als Akteur im Ostseeraum auftrat und welche Rolle es im Verbund mit den skandinavischen Staaten spielt, erfährt der Leser allerdings nicht.
Historischer Überblick und Gegenwartsanalyse
Konfliktzone Ostsee ist weder eine dröge Aneinanderreihung kleiner Länderporträts noch eine anekdotische Plauderei. Moody stellt viele Querverbindungen her. Dies führt teilweise zu Überlappungen, die für fachfremde Leser jedoch hilfreich sein können. Der Autor skizziert basierend auf Fachliteratur historische Linien und analysiert umfassend die politische und wirtschaftliche Gegenwart, für deren Verständnis er zahlreiche Interviews mit Entscheidungsträgern und Experten geführt hat. Dabei beweist Moody, der seit 2018 Berlin-Korrespondent von The Times und Sunday Times ist, sein journalistisches Gespür für gute Geschichten, die immer wieder in den Erzählfluss eingeflochten werden. Man könnte sicher gut auf die Anekdote zur Illustrierung des unangepassten Verhaltens in Finnland verzichten, wonach der Nokia-Chef intensive Tarifstreitigkeiten lösen wollte, indem er „den Gewerkschaftsboss zu einem Nacktwettrennen im Schnee rund um seine Villa herausforderte“ (S. 79). Aber mit ihr liest es sich besser. Den Leser begleitet über den rund fünfhundertseitigen Text daher neben scharfsinnigen Betrachtungen immer auch eine Prise Humor.
Im zweiten Teil verdeutlicht Moody allerdings, dass die Gesamtsituation wenig Anlass zum Lachen bietet. Zwar beschreibt er die positiven Entwicklungen der deutsch-polnischen Beziehungen, doch ebenfalls die immer wiederkehrenden Herausforderungen und das oftmals aufkeimende Misstrauen. Dieser Abschnitt ist stellenweise repetitiv zu vorherigen Aspekten aus dem Polen- beziehungsweise Deutschland-Kapitel, doch er ergibt Sinn, wenn man sich das ursprüngliche Zielpublikum Moodys, die englischsprachige Welt, vor Augen führt.
Abschließend geht der Autor der großen Frage nach, welche Ziele Putin schlussendlich verfolgt und welche Mittel er für ihre Realisierung einzusetzen bereit ist. Moody skizziert, wie der Kreml bereits heute im Informations- und Cyberraum tätig ist und legt zur Frage eines Konflikts mit der NATO verschiedene Expertenmeinungen vor (S. 361–371). Er überlässt dem geneigten Leser somit ausreichend Spielraum für eigene Urteile. Das Buch endet mit einem Appell zu westlicher Geschlossenheit, einer Politik der Abschreckung und erhöhter Kriegstüchtigkeit in Anbetracht der russischen Bedrohung. Auch hierbei zeigt sich, dass Moody kein reißerisches Werk vorgelegt hat, sondern ein fundiertes, gut lesbares und im besten Sinne ruhiges Buch – über die äußerst unruhige Ostseeregion.
Bastian Matteo Scianna, geboren 1987 in Worms, Privatdozent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl Geschichte des 19./20. Jahrhunderts und Lehrstuhl Militärgeschichte/ Kulturgeschichte der Gewalt, Universität Potsdam.