Seit Jahren ist von der Deindustrialisierung die Rede. Deutschlands Industrie, die nach wie vor etwa ein Fünftel der Bruttowertschöpfung erwirtschaftet, drohe weiter an Boden zu verlieren. Genährt werden diese Befürchtungen durch die anhaltende Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft. Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung? Hat die deutsche Industrie technologische Trends verschlafen und zu lange auf alte oder Mitteltechnologien gesetzt, wie nicht zuletzt der Draghi-Report verdeutlicht?
Der weltweit exzellente Ruf industrieller Produkte „made in Germany“ ist ins Wanken geraten. Zwar zeichnen sich Industriebranchen wie der Maschinen- und der Automobilbau im deutschen Branchenvergleich immer noch durch eine überdurchschnittlich hohe Innovationsaktivität aus. Sogenannte Hidden Champions besetzen weiterhin Nischenmärkte. Allerdings haben vor allem US-amerikanische und chinesische Anbieter den internationalen Wettbewerb in Bereichen wie etwa der Elektromobilität deutlich verschärft. Sie setzen auf digitale Technologien und nutzen deren Potenziale zu ihrem Vorteil.
Digitale Technologien wie Cloud-Computing und Künstliche Intelligenz (KI) gelten als Schlüsseltechnologien. Sie können in allen Branchen der Wirtschaft eingesetzt werden und so Innovationen und Wachstum ermöglichen. Jedoch ist es Deutschland bislang nicht gelungen, sich diese Potenziale in demselben Maße zunutze zu machen wie manche anderen Länder, allen voran die USA und China. Und dies, obwohl mit dem Konzept „Industrie 4.0“ in Deutschland frühzeitig ein zukunftsweisender Rahmen geschaffen wurde, um die Produktion durch Vernetzung, Sensorik und Automatisierung intelligenter und effizienter zu gestalten. Zum einen investieren deutsche Unternehmen deutlich weniger in Komponenten der Informationstechnologie wie Hardware, Software und Telekommunikation als ihre Konkurrenten in anderen OECD-Ländern. Zum anderen belegt die deutsche Wirtschaft im europäischen Vergleich in der Regel mittlere Ränge, wenn es um den Einsatz digitaler Technologien wie Cloud-Computing, Data Analytics und Onlineverkäufe geht. Um auf volkswirtschaftlicher Ebene Wachstumseffekte durch Digitalisierung zu generieren, ist es jedoch erforderlich, digitale Technologien in der Breite der Wirtschaft einzusetzen.
Lichtblick Künstliche Intelligenz
Im Technologiefeld Künstliche Intelligenz ist Deutschlands Forschungslandschaft breit aufgestellt. KI-Ökosysteme wie der Innovationscampus Cyber Valley in Baden-Württemberg oder Public-private-Partnerships zur Finanzierung von Rechenkapazitäten wie am Forschungszentrum Jülich sind nur zwei positive Beispiele. Die Forschungs- und Innovationsvorhaben werden zum Teil auf Ebene der Europäischen Union (EU) abgestimmt, etwa der Aufbau von Rechenzentren im Rahmen der European High Performance Computing Joint Undertaking (EuroHPC JU).
In Deutschland und Europa sind zahlreiche Start-ups entstanden, die KI oder generative KI – die etwas Neues aus dem erschafft, was sie durch Training gelernt hat –, zum Beispiel für Anwendungen im öffentlichen Sektor oder in der Medizin entwickeln. Künstliche Intelligenz ist also ein Lichtblick. Doch wie Analysen der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) von Publikations- und Patentzahlen zeigen, verlieren Deutschland und die Europäische Union zunehmend an Boden, während der Vorsprung von China größer wird. Die Mehrzahl der verwendeten Modelle generativer KI wie ChatGPT & Co. stammt aus den USA. Eine Analyse der Patentaktivität zeigt zudem, dass Deutschland in den letzten zwanzig Jahren bei den Herausforderungen der Twin Transition vor allem auf die Dekarbonisierung fokussiert war, während die Digitalisierung weniger im Vordergrund stand.
Bei der KI-Nutzung belegt die deutsche Wirtschaft immerhin Platz 9 im Vergleich mit den EU-Mitgliedstaaten; auf den vorderen Plätzen liegen Dänemark, Schweden und Belgien. Die generative KI ist bereits in den Chefetagen etabliert, wie eine repräsentative ZEW-Umfrage belegt. Im verarbeitenden Gewerbe nutzt gut die Hälfte der Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer generative KI entweder privat oder geschäftlich. In der Informationswirtschaft sind es etwa zwei Drittel. Wird KI also alle Probleme lösen und die deutsche Industrie vor dem Untergang bewahren? So einfach ist es leider nicht, denn zahlreiche Faktoren hemmen die Digitalisierung nach wie vor.
Hemmnisse und Risiken
Eine zentrale Schwachstelle ist die immer noch unzureichende digitale Infrastruktur. Insbesondere im ländlichen Raum mangelt es an flächendeckendem Glasfaser- und 5G-Ausbau, einer Voraussetzung für viele Industrie-4.0-Anwendungen. Zudem bremsen komplexe Regulierungen den digitalen Fortschritt. Die Europäische Union hat in den letzten Jahren regulatorische Rahmenbedingungen geschaffen, beispielsweise die Datenschutzgrundverordnung, das Gesetz über digitale Märkte (Digital Markets Act) oder die Verordnung über Künstliche Intelligenz (Artificial Intelligence Act), um die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft insbesondere gegenüber den US-amerikanischen Technologieunternehmen zu stärken. Im dadurch entstandenen Regulierungsdickicht sehen sich Start-ups und Mittelständler jedoch oftmals mit Rechtsunsicherheiten konfrontiert. Bevor sie etwas tun, das eventuell nicht rechtens ist, unterlassen sie es lieber ganz. Dies hemmt die Nutzung neuer digitaler Anwendungen und verlangsamt Innovationsprozesse. Manche Innovationsprozesse werden gar ins Ausland verlagert, wo beispielsweise der Datenzugang besser ist und die Zulassung für medizinische Tests schneller erteilt wird, wie der Fall Biontech gezeigt hat.
Oftmals waren es auch traditionelle Erfolgsrezepte und Strukturen, die den Wandel zu Plattformmodellen, datengetriebenen Diensten und neuen digitalen Erlösquellen gebremst haben. Digitalisierung wurde zu selten als strategische Chance erachtet. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Unternehmen am häufigsten fehlende zeitliche und personelle Kapazitäten als Hemmnis für den Einsatz von KI nennen – eine Metapher für „Ist uns nicht wichtig genug“? Es herrschen zudem Unsicherheit und Bedenken hinsichtlich des zu erwartenden Nutzens von KI vor. Auch fehlendes Know-how in den Unternehmen sowie ein Mangel an geeigneten Fachkräften rangieren weit oben unter den Hindernissen, die in der Industrie stärker verbreitet sind als in Dienstleistungsbranchen. Hinzu kommt, dass sich zahlreiche Unternehmen in der deutschen Informationswirtschaft und im verarbeitenden Gewerbe bei zentralen digitalen Technologien abhängig von nichteuropäischen Anbietern fühlen. Im Jahr 2024 waren es über achtzig Prozent, wie eine ZEW-Studie zeigt.
Spätestens seit dem Amtsantritt Donald Trumps und dem von seiner Politik ausgelösten Zollchaos sollte klar sein, dass es nun darum gehen muss, sowohl die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken als auch die digitale Souveränität sicherzustellen oder überhaupt wiederzuerlangen. Bereits in Krisen wie der Finanz- und Wirtschaftskrise sowie in der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass hoch digitalisierte Unternehmen diese besser als Unternehmen mit einem geringen Digitalisierungsgrad bewältigt haben. Denn hoch digitalisierte Unternehmen waren eher in der Lage, ihr Produktivitätsniveau zu halten und ihre Prozesse an die veränderten Umstände anzupassen.
Was ist zu tun – und von wem?
Um den digitalen Rückstand aufzuholen und im globalen Wettbewerb zu bestehen, sind mutige und koordinierte Maßnahmen notwendig. Dabei ist klarzustellen: Es geht hier nicht um eine Pauschalverurteilung deutscher Industrieunternehmen. Viele Unternehmen haben sich in den letzten Jahren als wandlungsfähig erwiesen und sich den geänderten Rahmenbedingungen angepasst. So rangieren beispielsweise Siemens und Bosch unter den Top 10 der Unternehmen, die transnationale Patente im Bereich generativer KI anmelden. Manch ein mittelständischer Maschinenbauer investiert in digitale Zwillinge und die virtuelle Abbildung seiner Wertschöpfungsprozesse. Klar sollte auch sein, dass die Digitalisierung kein Allheilmittel ist. Es müssen verschiedene Bedingungen für ihr Gelingen erfüllt sein. Und hier sind sowohl die Politik als auch die Wirtschaft gefordert.
Dabei geht es darum, den Ausbau der digitalen Infrastruktur konsequent voranzutreiben. Glasfaser, 5G, sichere Cloudlösungen und leistungsfähige Rechenzentren – sie bilden heute die Fundamente jeder digitalen Wertschöpfung. Der Staat sollte hier selbst als Gestalter und Ko-Investor, auch im Schulterschluss mit europäischen Partnern, auftreten.
Die Politik sollte die von der Europäischen Union geschaffene Digitalregulierung nicht strenger als notwendig auslegen, um Innovationen zum Beispiel durch Datennutzung zu ermöglichen. Andere EU-Mitgliedstaaten, wie Dänemark oder Finnland, können diesbezüglich als Vorbild dienen. Praxistaugliche Leitfäden helfen insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen bei der rechtskonformen Umsetzung der Regulierung.
Zentral ist zudem die Förderung von Start-ups und digitalen Geschäftsmodellen. Deutschland benötigt mehr investitions- und innovationsfreudige Unternehmen, die neue Technologien nicht nur entwickeln, sondern auch erfolgreich in den Markt bringen. Dazu gehören vereinfachte Zugänge zu Fördermitteln, steuerliche Anreize für Investitionen in Digitalisierung und weniger Bürokratie bei Unternehmensgründungen. Für etablierte Industrieunternehmen können digitale Start-ups geeignete Partner sein, um das unternehmensinterne Know-how zu ergänzen und die Implementierung neuer digitaler Anwendungen voranzutreiben. Kooperation lautet hier das Gebot der Stunde.
Ein weiterer zentraler Hebel ist die Anpassung der Aus- und Weiterbildung. Digitale Kompetenzen müssen früh und breit vermittelt werden – von der Schule mit Programmieren als Pflichtfach bis hin zur beruflichen Weiterbildung sowie in der akademischen Ausbildung. Unternehmen sollten die Weiterbildung ihrer Beschäftigten unterstützen –; zum einen, um deren Beschäftigungsfähigkeit im eigenen Unternehmen zu stärken, zum anderen, um deren Mobilität in andere Unternehmen und Branchen zu erleichtern. Denn ein hoher Arbeitnehmerschutz sowie der anziehende Fachkräftemangel erschweren es, Arbeitskräfte rasch zu ersetzen, um sich an neue Bedingungen anzupassen. Die angespannte Lage in den USA kann die Chance für einen Brain Gain sein, wenn es Politik und Wirtschaft gelingt, Fachkräfte mit wenig bürokratischem Aufwand und attraktiven Angeboten zu gewinnen.
KI als strategischer Treiber
Schließlich darf Digitalisierung nicht als rein technisches Thema betrachtet werden, sondern muss als strategischer Treiber von Innovation, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit verstanden werden – auch und gerade im industriellen Kern Deutschlands und ebenfalls von den Führungskräften, die diesem Thema die notwendige Priorität widmen sollten. Letzteres gilt ebenso auf politischer wie auf wirtschaftlicher Ebene. Die deutsche Industrie hat nach wie vor Stärken, auf die sie bauen kann. Doch ohne eine konsequente strategische Wende in Richtung Digitalisierung droht sie den Anschluss an dynamischere Wettbewerber zu verlieren. Unter den Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern, die generative KI bereits für private oder geschäftliche Zwecke eingesetzt haben, erwarten 93 Prozent in der Informationswirtschaft und immerhin 79 Prozent im verarbeitenden Gewerbe, dass sich die Nutzung von generativer KI eher positiv oder sehr positiv auf die Produktivität der Beschäftigten auswirkt, die mit Computern arbeiten. Vielleicht ermöglicht diese positive Einstellung doch noch die Wende hin zur digitalen Transformation der Industrie. Verschlafen hat die deutsche Industrie die Digitalisierung noch nicht. Aber die Zeit des Zögerns ist vorbei – jetzt ist entschlossenes Handeln gefragt!
Irene Bertschek, geboren 1966 in Rheinstetten, Leiterin des ZEW-Forschungsbereichs „Digitale Ökonomie“ und Professorin für „Ökonomie der Digitalisierung“, Justus-Liebig-Universität Gießen, Stellvertretende Vorsitzende der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) der Bundesregierung.
Zum Weiterlesen
Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI): Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands, Berlin 2024, www.e-fi.de/fileadmin/Assets/Gutachten/2024/EFI_Gutachten_2024_24124.pdf [letzter Zugriff: 28.04.2025].
EFI: Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands, Berlin 2025, www.e-fi.de/fileadmin/Assets/Gutachten/2025/EFI_Gutachten_2025_30125.pdf [letzter Zugriff: 28.04.2025].
Erdsiek, Daniel / Sack, Robin / Bertschek, Irene / Breithaupt, Patrick / Niebel, Thomas / Schuck, Bettina / Stenzhorn, Eliza: Digitale Souveränität. Herausforderungen aus Sicht der Unternehmen 2024, Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), Berlin 2024.
ZEW-Studie: Nutzung generativer KI in deutschen Chefetagen, vgl. ZEW Branchenreport Informationswirtschaft: „Stimmungseinbruch in der Informationswirtschaft“, Februar 2025, Seite 3, https://ftp.zew.de/pub/zew-docs/brepikt/202404BrepIKT.pdf?v=1739275496https://ftp.zew.de/pub/zew-docs/brepikt/202404BrepIKT.pdf?v=1739275496 [letzter Zugriff: 28.04.2025].