Asset-Herausgeber

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Vom Recht auf Beulen und Schrammen

von Helen Knauf

Warum es für Kinder wichtig ist, Risiken einzugehen

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Die frühen Lebensjahre eines Menschen sind von großer Bedeutung für sein weiteres Leben. Die Erfahrungen und Emotionen in der Kindheit prägen seinen Lebensweg. In den vergangenen dreißig Jahren hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass in der Kindheit die Weichen für das weitere Leben gestellt werden. Bildungs- und Berufserfolg, emotionale Balance und Resilienz, die Fähigkeit, soziale Beziehungen aufzubauen – all das werde schon sehr früh im Leben eines Menschen entschieden. Die „Entdeckung der frühen Jahre“ (Kahl 2006) für Erziehung und Bildung in Familie, Kindertagesstätte und Schule war wichtig, hat sie doch die gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf diese unbestreitbar prägende Zeit im Leben eines Menschen gelenkt. Dies war die Bedingung dafür, dass es in unserer Gesellschaft heute selbstverständlich geworden ist, dass auch kleine Kinder Bildungseinrichtungen besuchen.

Kindheit wird jedoch nicht nur als eine Phase großer Chancen und Möglichkeiten gesehen, sondern auch als eine Phase großer Verletzlichkeit. Kinder sollen vor Gefahren beschützt und vor Risiken bewahrt werden (Risikokindheit). Dabei werden Kinder zu potenziellen Opfern im Kontext verschiedener „Bedrohungsszenarien“ (Betz/Bischoff 2018) wie Vernachlässigung, Verwahrlosung und Gewalt. Im Fokus stehen dabei nicht etwa nur Kinder, die aufgrund eines spezifischen Risikos (Armut, niedriger Bildungsstand in der Familie, fehlende deutsche Sprachkenntnisse) besonders gefährdet sind, sondern alle Kinder. Der Eindruck, Kinder seien in erster Linie als Opfer zu sehen, wird angefeuert durch besonders drastische Fälle von Vernachlässigung und Gewalt gegen Kinder sowie eine skandalisierende Berichterstattung darüber. So entsteht eine hohe Emotionalität, die in den Familien Ängste auslöst.

 

Eingeschränkter Bewegungsradius

 

Die Sichtweise von Kindheit als Risikokindheit ist dabei nicht nur eine vorherrschende Idee oder ein verbreitetes Gefühl, sondern sie schlägt sich auch in konkreten Handlungen von Personen und Institutionen sowie in gesetzlichen Regelungen nieder. Ein Beispiel ist die immer stärkere Einschränkung des Bewegungsradius, in dem sich Kinder unabhängig von ihrem Elternhaus bewegen. Ein britisch-deutsches Forschungsteam um Ben Shaw zeigte etwa, dass Kinder ihren Schulweg immer seltener allein zurücklegen: 1990 bewältigten noch über 91 Prozent der Grundschüler ihren Schulweg ohne ihre Eltern (oder andere Erwachsene); 2010 waren es nur noch 67 Prozent (Shaw et al. 2013). Ähnlich sieht es bei den Freizeitaktivitäten aus. Kinder nehmen diese seltener allein und selbstständig wahr; die Eltern sind auch hier immer häufiger Begleiter ihrer Kinder (Fyhri et al. 2011). Das unbeaufsichtigte, freie Spiel draußen verliert auch deshalb im Alltag von Kindern weiter an Bedeutung, weil es nicht dem Sicherheitsbedürfnis von Eltern entspricht (Richard-Elsner 2018). Die Folgen, dass Kinder weniger eigenständig aktiv sind, können wir in unserem Alltag beobachten: Eltern fahren ihre Kinder mit dem Auto zur Schule oder zum Sport („Elterntaxi“), Kinder sind unselbstständiger, ängstlicher und bewegen sich zu wenig (Reimers/Marzi 2019).

Das Spiel ist eine zentrale und wichtige Aktivität für Kinder. Es ist Motor für die soziale, emotionale und körperliche Entwicklung, denn es ermöglicht die Auseinandersetzung mit verschiedenen Situationen des Lebens. Für Bildung ist das Spiel wesentlich. Doch auch das Spiel wird immer stärker begrenzt, weil Erwachsene es für gefährlich halten: Die in der Kindertagesstätte verbotenen Erdnüsse („Du könntest dich daran verschlucken“), die weggeschlossenen Werkzeuge („Ihr könntet euch verletzen“) oder die aus „versicherungstechnischen Gründen“ ausbleibenden Ausflüge in den Wald sind nur einige Beispiele. Sie weisen darauf hin, dass im Wunsch nach größtmöglicher Sicherheit notwendige Risikoerfahrung verloren geht. Ellen Beate Hansen Sandseter und Ole Johan Sando (2016) konnten für norwegische Kindertageseinrichtungen nachweisen, dass das zunehmende gesellschaftliche Bewusstsein für Sicherheitsfragen auch die pädagogische Arbeit in Kindertageseinrichtungen beeinflusst.

 

Ohne Risiko keine Entwicklung

 

Das Autorenteam zeigt, dass bestimmte Aktivitäten zunehmend verboten sind, beispielsweise das Klettern auf Bäume, das Spielen mit Seilen, Ausflüge an Wasserläufe, Seen oder in den Wald sowie das Spielen auf dem Außengelände, wenn sich große Pfützen gebildet haben. Dabei sind Risiken ein wesentliches Merkmal des Spiels. Gerade Spiele, die auch Risiken beinhalten, bieten zahlreiche Lerngelegenheiten (Tovey 2007):

- Risiken sind Teil des Lebens; die Fähigkeit, mit Risiken umzugehen, ist eine wichtige Kompetenz, die entwickelt und (zum Beispiel im Schonraum des Spiels) erprobt werden muss.

- Risiken ermöglichen Lernerfahrungen auf hohem Niveau; indem Kinder Risiken eingehen, verschieben sie bisherige Grenzen ihres Lernens und vergrößern ihre Möglichkeiten.

- Risikohaltige Spiele beinhalten sowohl Angst als auch Aufregung; ihr besonderer Reiz liegt im Überwinden der Angst und in der Bewältigung der Aufgabe sowie in den damit verbundenen Selbstwirksamkeitserfahrungen und Erfolgserlebnissen.

- Erfahrungen mit dem Eingehen von Risiken sind zudem eng verknüpft mit der Entwicklung von Resilienz; Schutzfaktoren können nur entwickelt werden, wenn Angst und Unsicherheit erfahren werden.

 

Ohne den Drang, sich einem Risiko auszusetzen, und ohne die Bereitschaft, Scheitern und Gefahren in Kauf zu nehmen, bliebe unsere Gesellschaft statisch. Würde ein Kind nicht – trotz des Risikos, hinzufallen, sich weh zu tun und sich Beulen und Schrammen zuzuziehen – immer und immer wieder versuchen, zu laufen, würde es niemals das Laufen lernen. Offenbar nimmt jedoch in Familien ebenso wie in Bildungseinrichtungen die Prävention von Risiken einen immer größeren Raum ein; es dominiert ein „defensiv kontrollierender Handlungsmodus“ (Hongler/Keller 2015). Sicherheitsbedenken werden dabei schnell zu unumstößlichen Argumenten, die sämtliche im Risiko liegenden Bildungs- und Entwicklungsgelegenheiten obsolet machen. Zu überlegen wäre aber, ob die (übersteigerte) Sicherheitsorientierung nicht selbst ein Risiko darstellt. Ohne ein Ausloten von Gefahren kann man sich vor diesen auch nicht hüten. Vor allem aber: Ohne Risiko keine Entwicklung!

Ein wichtiger Hebel für Veränderung dieser Risikoaversion liegt in den Händen der Kommunen: indem bei Planungen auch die Perspektive von Kindern einbezogen wird. Tim Gill (2021) benennt die zwei wesentlichen Dimensionen einer kinderfreundlichen Städteplanung: Erstens werden Orte und Einrichtungen benötigt, an und in denen sich Kinder gern aufhalten – sowohl strukturierte Flächen, wie etwa Spielplätze, als auch unstrukturierte Bereiche für freies Spiel, Bewegung und Entdeckung. Zweitens sind Wege notwendig, die die Kinder auf eigene Faust zurücklegen können, weil sie in jeder Hinsicht überschaubar sind. Als einfachen Gradmesser für diese Kinderfreundlichkeit empfiehlt Gill den sogenannten „Popsicle-Test“ – „Eis-am-Stiel-Test“ –, bei dem man sich fragen soll: „Würde ich meiner 8-jährigen Tochter erlauben, allein zu einem Laden zu gehen und ein Eis zu kaufen?“

 

Die Ängste um Kinder überwinden

 

Es geht also keineswegs darum, dass alle Räume und Wege mit Netz und doppeltem Boden ausgerüstet sind. Vielmehr geht es um die angemessene Balance aus Risiko und Schutz. Eine kinderfreundliche Umgebung ermöglicht es Kindern – ihrem jeweiligen Alter entsprechend –, eigenständig Aktivitäten zu unternehmen, dabei überschaubare Risiken einzugehen und sich als kompetent zu erleben, diese Herausforderungen zu bewältigen. Dabei wird eine Erkenntnis in größerem Maßstab umgesetzt, die in der Elementarpädagogik spätestens seit Maria Montessori verbreitet ist: Eine kindgerechte physische Umgebung führt dazu, dass Kinder weniger von Erwachsenen angeleitet, ermahnt und begleitet werden müssen, sondern Teile ihres Alltags (Spiel, Freizeitaktivitäten, Wege) selbstständig und eigenverantwortlich gestalten können. Diesen Gedanken hat bereits vor über hundert Jahren der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak in seinem „Grundgesetz für Kinder“ ausgeführt, wenngleich deutlich radikaler: Das erste von ihm geforderte Grundrecht der Kinder liegt im „Recht der Kinder auf den eigenen Tod“. Diese Zuspitzung erschreckt, doch war es für Korczak essenziell, dass Kinder eigene Erfahrungen machen, ihre Welt selbst entdecken und dabei auch Risiken eingehen. Er erläutert: „Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben; um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben“ (Korzcak 1919/2014). Erwachsene, so seine Botschaft, müssen ihre Ängste um das Kind überwinden, um ihm die Erfahrungen zu ermöglichen, die es zum Wachsen braucht.


Helen Knauf, geboren 1972 in Braunschweig, Professorin, Lehrbereich Bildung und Sozialisation im Kindesalter, Fachhochschule Bielefeld.

 

Literatur

Betz, Tanja / Bischoff, Stefanie: „Kindheit unter sozialinvestiven Vorzeichen“, in: Lange, Andreas / Reiter, Herwig / Schutter, Sabina / Steiner, Christine (Hrsg.): Handbuch Kindheits- und Jugendsoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, Springer VS, Wiesbaden 2018, S. 49–65.

Gill, Tim: Urban playground. How child-friendly planning and design can save cities, RIBA Publishing, London 2021.

Hongler, Hanspeter / Keller, Samuel: „Risiko in der Sozialen Arbeit und Risiko der Sozialen Arbeit – Spannungsfelder und Umgang“, in: dies. (Hrsg.): Risiko und Soziale Arbeit. Diskurse, Spannungsfelder, Konsequenzen, Springer VS, Wiesbaden 2015, S. 21–46.

Kahl, Reinhard: Die Entdeckung der frühen Jahre. Die Initiative „McKinsey bildet“ zur frühkindlichen Bildung, Beltz Verlag, Weinheim 2006.

Korczak, Janusz: Wie man ein Kind lieben soll, Vandenhoeck & Ruprecht, 17. Aufl., Göttingen 2018 (Jahr der Erstveröffentlichung: 1919).

Sandseter, Ellen Beate Hansen / Sando, Ole Johan: „We Don’t Allow Children to Climb Trees. How a Focus on Safety Affects Norwegian Children’s Play in Early-Childhood Education and Care Settings“, in: American Journal of Play, 8. Jg., Nr. 1/2016. S. 178–200.

Tovey, Helen: Playing Outdoors: Spaces and Places, Risk and Challenge, Mc Graw Hill Education, Maidenhead 2007.

Fyhri, Aslak / Hjorthol, Randi / Mackett, Roger L. / Nordgaard Fotel, Trine / Kyttä, Marketta: „Children’s active travel and independent mobility in four countries: Development, social contributing trends and measures“, in: Transport Policy, 18. Jg., Nr. 5, September 2011, S. 703–710.

Reimers, Anne K. / Marzi, Isabel: „Eigenständige Mobilität von Kindern“ in: Prävention und Gesundheitsförderung, 14. Jg., Nr. 3/2019, S. 306–312.

Richard-Elsner, Christiane: Draußen spielen – ein unterschätzter Motor der kindlichen Entwicklung, Analysen & Argumente Nr. 318, September 2018, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin / Berlin.

Shaw, Ben / Fagan-Watson, Ben / Frauendienst, Björn / Redecker, Andreas / Jones, Tim / Hillman, Mayer: Children’s independent mobility: A comparative study in England and Germany (1971–2010), Policy Studies Institute, London 2013.

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