Asset-Herausgeber

Vom Urknall bis zur Zukunft

von Wolfgang Tischner

Bringt „Big History“ einen historiographischen Aufbruch?

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„Big History“ – dieser Begriff erhebt beachtlichen Anspruch. Seit etwa zwanzig Jahren wird unter diesem Label ein historiographischer Neuaufbruch propagiert. „Big History“ will, so der Untertitel des Buches von David Christian, des Hauptpropagandisten dieses Begriffs, Geschichte „vom Urknall bis zur Zukunft“ darstellen.1 Die Verbreitung dieser Idee hat vor allem durch das Internet eine enorme Zugkraft besonders in der Anglosphäre gewonnen. Dabei wurden die modernen medialen Kanäle erfolgreich genutzt. Protegiert vom Microsoft-Gründer Bill Gates, hat Christian in einem TED-Talk – einer Website, auf der die besten Vorträge der jährlichen Innovationskonferenz in Monterey als Videos kostenlos angesehen werden können – seinen Ansatz vorgestellt. Daraus ist eine zehnteilige Webinar-Reihe entstanden, die nichts weniger versucht, als eine Gesamtgeschichte des Universums einschließlich der Menschheitsgeschichte zu liefern.2 Dies ist durchaus unterhaltsam, da sich mehrere Erzähler eine lebendige Diskussion liefern; die inhaltliche Tiefe bleibt aber auf dem Niveau besserer Internet-Erklärvideos.

Gemessen an der Aufmerksamkeit, die der Begriff vor allem im Bereich internetaffiner Schüler und Studierender genießt, überrascht, dass es in erster Linie YouTube-Videos dazu gibt. Wer nach fachhistorischen Arbeiten sucht, die sich in diese Ausrichtung einordnen, wird selten fündig. Neben der bereits erwähnten Gesamtdarstellung von Christian gibt es eine weitere, als Einführung betitelte Monographie3 dieses Autors sowie einige Sammelbände; Forschungsarbeiten, die diesen Ansatz operationalisieren, liegen jedoch kaum vor. David Christian, der den Ansatz der „Big History“ formuliert und den Begriff geprägt hat, ist ein ausgewiesener Osteuropahistoriker, der unter anderem zur Kulturgeschichte Russlands klassische, gut rezipierte Arbeiten vorgelegt hat. Christian hat in Großbritannien, den USA und Australien wissenschaftlich gearbeitet.

 

Religionsfreier Universalismus

 

Inhaltlich meint Christian, eine lineare Entwicklung des Universums in Richtung einer ständig zunehmenden Komplexität wahrnehmen zu können, die sich etwa bei der Entwicklung der Elemente zeige – nach dem Urknall gab es zunächst nur Wasserstoff, dann entwickelten sich durch Kernfusion in den Sternen immer schwerere Elemente. Diese Tendenz zeige sich auch bei der Entwicklung des Lebens hin zu immer komplexeren Organismen und seit der Entstehung des intelligenten Lebens in einer immer dichteren Metastruktur wie dem Staatswesen und so weiter. Im Laufe dieser Entwicklung gebe es verschiedene Schwellen, wobei das Auftauchen des Menschen erst die sechste Schwelle darstellt, die neolithische Revolution mit der Entwicklung der Landwirtschaft die siebte und das Anthropozän mit dem drohenden Massensterben die achte und letzte. Sicherlich kann man dieser Perspektive einiges abgewinnen, doch ist keinesfalls endgültig bewiesen, dass diese Entwicklung linear verläuft; denkbar wäre auch – wie schon in der antiken Philosophie angedacht – die Vorstellung eines immerwährenden Kreislaufs.

Eine von Christian kaum erwähnte Problematik ist die Tatsache, dass „Big History“ für jeden Autor zwangsläufig eine Überforderung darstellt. Entweder äußert sich ein Historiker über Naturgeschichte, so wie Christian in den ersten Kapiteln seiner Werke, und stellt aus seiner Sicht Urknall, Entstehung des Lebens und Aufkommen der ersten Hominiden dar, oder ein Physiker oder Evolutionsbiologe tut dies. Entweder ist der Autor nicht firm in den Naturwissenschaften, oder aber er ist es nicht in der historischen Methodik. Immer wird entweder die Kenntnis der Inhalte oder der Methodik nicht akademisch fundiert sein.

Betrachtet man die abendländische Geistesgeschichte und speziell die des Mittelalters, so kommt einem vieles bekannt vor. Vermutlich ist es ein Zeichen wachsender Ferne zu einem christlichen Weltbild, die eine zumindest in Europa mittlerweile weitgehend religionsfreie Gegenwart auszeichnet, dass uns ein universalistischer Ansatz heute als Neuentdeckung präsentiert werden kann. Eine Geschichte der Welt wird etwa im Mittelalter grundsätzlich mit der Schöpfung der Welt durch Gott begonnen; man denke beispielsweise an Otto von Freising. Seine Chronica sive Historia de duabus civitatibus, eine der zentralen historischen Weltdeutungen des Mittelalters, wurde im 12. Jahrhundert von einem der wichtigsten Bischöfe des Reiches geschrieben. In ihr nahm der Onkel Kaiser Friedrich Barbarossas eine dezidiert christliche Weltdeutung vor, die in ihrer intellektuellen Geschlossenheit bis heute fasziniert. Die Parallelen zur „Big History“ sind frappierend: In unserer säkularisierten Welt ist aus dem Schöpfungsakt der Urknall geworden, an die Stelle des in der Geschichte wirkenden Gottes gibt es immer wieder den Rückbezug auf die Naturgeschichte, was eine ähnliche durchgehende rote Linie darstellt. Die Vertreter der „Big History“ selbst, die sich dezidiert auf ihre naturwissenschaftliche Perspektive berufen, ziehen diese Vorläufer verständlicherweise nicht heran. Sie sehen sich eher in der Tradition eines Alexander von Humboldt oder des amerikanischen Astronomen Carl Sagan.

 

Naturwissenschaft und Menschheitsgeschichte

 

Tatsächlich lässt sich „Big History“ in erster Linie als eine historiographische Reaktion auf die Globalisierung der Welt verstehen. Das Zusammenwachsen der menschlichen Zivilisation ist ein Prozess, der in den letzten Jahrzehnten auch in der Wissenschaft die Perspektiven in Richtung umfassender Deutungsansätze verschoben hat. Zudem gibt es eine Gegenbewegung gegen die zunehmende Zersplitterung und Spezialisierung in allen wissenschaftlichen Disziplinen. Ansätze wie etwa die Gaia­Hypothese (James Lovelock), die die gesamte Biosphäre der Erde als einen einzigen gigantischen Organismus deutet, gehen in den Naturwissenschaften in die gleiche Richtung.

Im Bereich der Humanwissenschaften wären vor allem Jared Diamond und zuletzt Yuval Harari zu nennen, die ähnlich der „Big History“ versucht haben, menschliche Geschichte aus einem naturwissenschaftlichen Kontext heraus zu deuten. Diamond, eigentlich ein Evolutionsbiologe, hat in Guns, Germs and Steel (1997)4, einer mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Analyse, ein naturwissenschaftlich begründetes Erklärungsmodell für die westliche Überlegenheit zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert vorgelegt und sich dann in Collapse (2005) dem Zusammenbruch menschlicher Gesellschaften gewidmet.5 Der konsequente Rückgriff auf naturwissenschaftliche Fakten zur Erklärung menschlicher Geschichte – Diamond sieht vor allem in der geografischen Lage Europas und der Landverbindung nach Asien zum Austausch von Nutzpflanzen und Tieren sowie der dabei gewonnenen Immunität gegen Infektionskrankheiten den entscheidenden Vorteil der Europäer gegenüber dem Rest der Welt – entspricht durchaus dem Ansatz der „Big History“. Noch näher steht ihr der israelische Historiker Harari. Er hat mit Eine kurze Geschichte der Menschheit (hebräisch 2011)6 versucht, die Geschichte der Menschheit seit der Menschwerdung als einen Prozess des Zusammenwachsens zu deuten, bei dem der Mensch seine kommunikativen Kompetenzen ausspielt. In Homo Deus (2015)7 wird eine dystopische Zukunft entworfen, in der der Menschheit der Kontrollverlust durch selbst erschaffene Maschinen droht, mit der erklärten Absicht, dem entgegenzuwirken.

 

Bekannte Fakten neu gedeutet

 

David Christians „Big History“ ist von der intellektuellen Tiefe und Originalität nicht ganz mit Jared Diamond oder Yuval Harari zu vergleichen. Zu Recht ist bei Christian kritisiert worden, dass die überbordenden Einzelfakten schlicht langweilig und teils ohne Bezug zur Entwicklung des Menschen, andere hingegen längst bekannt sind. Dass etwa Silber bei stellaren Kollisionen entsteht, ist interessant, für den Einfluss der spanischen Silbergewinnung auf die europäische Wirtschaftsgeschichte jedoch ohne Belang. Die zahlreichen Detailfehler sind symptomatisch und in ihrer Gesamtheit wohl kaum vermeidbar, da in den Zeiten immensen Wissenszuwachses große Synthesen den Mut zur Lücke voraussetzen. Dies ist im Übrigen auch bei Diamond und Harari der Fall, deren Arbeiten beide ebenfalls etliche Detailfehler aufweisen, was aber den großen Wurf im Gesamten nicht stört. Da aber „Big History“ noch umfassender ansetzt, muss ein auf diesem Feld arbeitender Autor noch mehr Disziplinen überblicken, was zwangsläufig weitere wissenschaftliche Fehlstellen nach sich zieht.

Was bleibt? Ein historiographischer Neuaufbruch, so viel scheint sicher, wird „Big History“ trotz der gelungenen Vermarktung im Internet nicht werden. Es gibt, wie erwähnt, kaum Arbeiten, die diesen Ansatz operationalisieren, und dies liegt in erster Linie daran, dass es keine eigenständige Methodik gibt. Anders, als von den Protagonisten behauptet, handelt es sich nicht um eine neue historiographische Disziplin, sondern um eine spezifische Perspektive. Diese ist interessant und teils erhellend, bringt aber keine eigene Forschung hervor, sondern deutet bekannte Fakten neu.

Die Perspektivänderung kann gerade im Kontext eines anthropozentrischen Menschenbildes dazu beitragen, unser Bewusstsein für die Interdependenz menschlichen Handelns sowohl mit den naturwissenschaftlichen Gegebenheiten als auch mit der belebten und unbelebten Umwelt deutlich zu schärfen. In Zeiten bevorstehender immenser ökologischer und ökonomischer Umbrüche hat eine solche veränderte Positionierung große Berechtigung.

 

Wolfgang Tischner, geboren 1967 in Berlin, Abteilungsleiter Publikationen /Bibliothek, Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

1 David Christian: Big History. Die Geschichte der Welt. Vom Urknall bis zur Zukunft der Menschheit, München 2020 (englischsprachiges Original: 2018).
2 YouTube: Crash Course Big History, The Big Bang: Crash Course Big History #1, www.youtube. com/watch?app=desktop&v=tq6be­CZJ3w&list=RDLVtq6be­CZJ3w&start_radio=1&rv=tq6beCZJ3w&t=98&form=MY01SV&OCID=MY01SV [letzter Zugriff: 25.10.2021].
​​​​​​​3 David Christian: Maps of Time. An Introduction to Big History, Berkeley / Los Angeles / London 2011 (zuerst 2003).
​​​​​​​4 Jared Diamond: Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften, Frankfurt am Main 1999 (Erstauflage).
​​​​​​​5 Jared Diamond: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt am Main 2005.
​​​​​​​6 Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit, München 2013 (Erstauflage).
​​​​​​​7 Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von morgen, München 2017 (Erstauflage).

 

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