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Anmerkungen zu einem Kernbegriff im Grundgesetz nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine

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Die mit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine beschworene „Zeitenwende“ kann sich nicht darauf beziehen, dass nun wieder Krieg in Europa herrscht: Denn der Krieg in der Ukraine steht in einer langen Kontinuität mit anderen Kriegen des russischen Imperialismus in den letzten dreißig Jahren, zuletzt in Syrien. Die „Zeitenwende“ ergibt dann Sinn, wenn sie das in der deutschen Politik und Öffentlichkeit wahrzunehmende schockartige Erkennen bezeichnet, dass es eben diese Kontinuität gibt und dass die Feindschaft des russischen Regimes gegen Demokratie- und Freiheitsbewegungen überall, wo es seine imperialen „Interessen“ berührt wähnt, Deutschland unmittelbar betrifft und für den Fortbestand einer demokratischen und rechtsstaatlichen Bundesrepublik potenziell gefährlich ist. Diese Erkenntnis zwingt uns, lieb gewonnene Anschauungen zu überprüfen und über Begriffe neu nachzudenken. Der Begriff des „Volkes“ im deutschen Grundgesetz (GG) ist einer davon.

Dieser altertümlich wirkende Volksbegriff hat im Grundgesetz eine zentrale Stellung. Laut Präambel ist das deutsche „Volk“ der Akteur, der sich „kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt“ das Grundgesetz gegeben hat, ausgestattet mit einem „Bewusstsein“, nämlich dem seiner „Verantwortung vor Gott und den Menschen“, und „beseelt“ von einem „Willen“, dem „Willen, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Das „Volk“ wird aufgefasst als ein lebendiges Glied, ein Mitglied, Teil eines lebendigen Körpers; es existiert auch vor und außerhalb und jenseits seiner Verfassung. Weiterhin bekennt sich das „Deutsche Volk“ in Artikel 1 Absatz 2 GG zu den Menschenrechten, und in Artikel 20 Absatz 2 GG wird es als Souverän bestimmt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

In eigentümlichem Widerspruch zu der Lebendigkeit und Personenhaftigkeit dieses scheinbar mit Willen, mit Seele, Bewusstsein und Bekenntnisdrang erfüllten „Volkes“ des Grundgesetzes steht das heute von keinem vernünftigen Menschen mehr angezweifelte Wissen, dass das „Volk“ keineswegs ein natürliches Wesen ist: „Das Volk gibt es gar nicht – jedenfalls nicht auf dieselbe Art, auf die es eine Person gibt.“1 Es ist eine Konstruktion, eine, so Benedict Anderson, „imaginierte Gemeinschaft“.2 Nur völkische Rechtsradikale leugnen heute noch diesen Konstruktionscharakter.

 

Die liberaldemokratische Perspektive

 

Es sind vor allem drei Bedeutungen, die in den Verhandlungen darüber, was das „Volk“ sein soll, unterschieden werden. Aus einer liberaldemokratischen Perspektive liegt es nahe, das „Volk“ nur als Demos zu begreifen – als das deutsche Volk der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, das durch freie Wahlen in einem gemeinsamen politischen Prozess die deutsche Staatsgewalt legitimiert. In der staatsgläubigen Variante mag die demokratische Legitimierung für die Legitimität deutscher Staatsgewalt unabdingbar sein, nicht aber für die Legitimität anderer Staatsgewalten. Sie erkennt auch höchst undemokratische Regime im Ausland an, solange diese nur in der „internationalen Staatengemeinschaft“ völkerrechtlich als Repräsentanten souveräner Staaten anerkannt sind. Das „Volk“ des anderen Staates, in den man sich um der Vermeidung von Kriegen willen nicht einmischen darf, ist dann nur im engen Sinne ein „Staatsvolk“, jedenfalls kein Volk der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.

Ein Verständnis des Volkes als Ethnos ist für die liberaldemokratische Perspektive in Deutschland problematisch. Der ethnische Volksbegriff verweist auf eine gemeinsame Kultur, eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Geschichte, vor allem in Deutschland, aber auch auf Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Abstammung, die in anderen Kontexten als „race“ bezeichnet werden. Da die Willkür und Machtabhängigkeit der Konstruktion eines kulturellen oder gar biologischen Ethnos offensichtlich ist und der Ethnonationalismus „immer wieder zu Massenmord und Vertreibung geführt hat“, gilt der ethnische Volksbegriff in Deutschland als weithin diskreditiert. Auch die dritte Bedeutung von „Volk“, die es in einen Gegensatz zu den Eliten bringt, also im Sinne von „das einfache Volk“ (lateinisch populus), ist durch die populistische Verwendung für die liberaldemokratische Perspektive inakzeptabel. Dennoch stellt sich auch für diejenigen, die den ethnischen und populistischen Volksbegriff mit Misstrauen sehen, die Frage, ob und wie der Demos selbst, in Zeiten eines Krisengefühls, das gerade die Wirksamkeit und Gerechtigkeit der formalisierten Verfahren und Prozesse der Demokratie anzweifelt, vor den Ethnonationalisten und Populisten geschützt werden kann. Zur „Zeitenwende“ gehört, dass wir plötzlich wahrnehmen, wie in der Ukraine ein nicht nur demokratischer, sondern auch ethnischer und populistischer Volksbegriff für einen Freiheitskampf eingesetzt wird und den totalitären russischen Imperialismus bislang aufhalten kann. Zur „Zeitenwende“ gehört auch, dass uns mit den Präsidentschaftswahlen in Frankreich vor Augen geführt wurde, wie gefährlich der französische Demos dem französischen Ethnos und Populus geworden ist. Ohne die Dysfunktionalitäten und die Korrumpiertheit des demokratischen Systems wären die Nationalisten, Chauvinisten und Putin-Freunde nicht so mächtig.

 

Der Zusammenhang von „Ethnos“ und „Demos“

 

Das Grundgesetz hat mit seinem Volksbegriff das Verhältnis zwischen Demos, Ethnos und Populus klug austariert. Das „Volk“ ist und bleibt der Demos, der durch Wahlen allein staatliches Handeln legitimiert. Das demokratisch legitimierte staatliche Handeln umfasst auch die staatlichen Entscheidungen darüber, wer neu eingebürgert, also in den Demos aufgenommen wird. Auch dadurch bekommt der Demos in der Art und Weise, wie er zusammengesetzt ist, eine Geschichte. Das deutsche „Volk“ wird über seine Eigenschaft als demokratisch verfasste politische Gemeinschaft hinaus zur Abstammungsnation. Diese Abstammungsnation sollte man nicht mit Rassismus verwechseln, auch wenn sie sich sehr oft rassistisch verhält. Sie geht zurück auf die Reichseinigung 1871: Das deutsche „Volk“ wurde dort, im Zuge langer, natürlich machtpolitisch gesteuerter Nationsbildungsprozesse, in seinen „Stämmen“ zusammengefügt (den „Altstämmen“ Bayern, Schwaben, Franken et cetera und den „Neustämmen“, die mit der deutschen Ostbesiedelung hinzukamen – natürlich allesamt Konstruktionen, aber deshalb nicht weniger wirkungsvoll). Auch die „deutschen Juden“ wurden quasi als eigener Stamm gedacht, oder – bei Theodor Mommsen – als ein „fermentierendes Element“, das der „Legierung“ der deutschen Stämme erst ihre richtige Qualität gegeben habe, sich jetzt aber einfügen und auf lange Sicht seine jüdische Sonderidentität ablegen müsse.3 Ohne Zweifel eine antisemitische Denkfigur, auch wenn sie von einem leidenschaftlichen Bekämpfer des zeitgenössischen Antisemitismus eines Heinrich von Treitschke vorgetragen wurde.

Wesentlich für den Zusammenhang von Ethnos und Demos war, dass die Konstitution dieses deutschen Volkes durch die Annahme einer Reichsverfassung als ein politischer Akt verstanden wurde. Die Stammesangehörigen waren gleichzeitig auch wahlberechtigte Bürger (Frauen ausgenommen), und es gab Parlamente und Bürgerrechte, auch wenn die Legitimität des deutschen Kaisers und der Fürstenregierungen in den Ländern weiterhin auf dem Gottesgnadentum fußte. Und wer immer neu eingebürgert wurde – von den Länderregierungen, denn die deutsche Staatsangehörigkeit stellte sich bis 1913 über die Angehörigkeit zu einem der Länder her –, wurde unwiderruflich Teil der deutschen Abstammungsgemeinschaft, mit seinen Kindern und Kindeskindern, in der Theorie ganz unabhängig von Religion, Hautfarbe und Herkunft.

 

Verpflichtung auf die Demokratie

 

Mit diesem Denken in Stämmen und Abstammung brach der eigentümliche Rassismus der Nationalsozialisten – durch Ausbürgerung der Juden ebenso wie der politisch Missliebigen und durch Zwangseinbürgerung von Volksgruppen, die bisher der Staatsangehörigkeit nach nicht deutsch gewesen waren, aber nun der „germanischen Rasse“ zugeschlagen wurden.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges etablierte das Grundgesetz die deutsche Abstammungsnation erneut und verpflichtete sie auf die Demokratie. Die Zwangsausgebürgerten und ihre Nachkommen erhielten ein bis heute wirksames Recht des Wiedereintritts in die deutsche Staatsnation. Und für die Zwangseingebürgerten, denen nach 1945 Staatenlosigkeit drohte, wurde ebenfalls Verantwortung übernommen: Sie erhielten als „Volksdeutsche“ auch das Recht auf einen deutschen Pass. Die Alliierten gaben den Rahmen und die demokratisch-menschenrechtlichen Prinzipien vor, aber wie der Volksbegriff ausgefüllt wurde, war spezifisch deutsch, die deutschen staatsrechtlichen Traditionen vor 1933 an die neuen Gegebenheiten adaptierend.

Nun ist allerdings, und das im Ansatz seit 1871, die Veränderung der Zusammensetzung des „Volkes“ durch Zuwanderungen und Einbürgerungen von bisher Nicht-Deutschen durch die Konstituierung des deutschen Volkes als Demos mit einer Hypothek belastet. Die Regierungen müssen bei den Entscheidungen über Einbürgerungen auf den Ethnos des Demos Rücksicht nehmen, und hier kommt auch der Populus ins Spiel. Der Populus, als der ressentimentgeladene Pöbel, kann hervorragend gegen Einwanderung instrumentalisiert werden. Mit populistischer Politik können Fragen der Einwanderung und Erweiterung des Staatsvolks daran geknüpft werden, was die schlechtesten Teile des Demos angeblich als mit seinem Ethnos vereinbar aushalten oder nicht aushalten. Und an dieser Stelle schlägt der ethnische Volksbegriff in Rassismus um. Das „Volk“ darf nicht mit zu viel „Fremdheit“ überfordert werden. Selbst wenn die politischen Akteure ehrlich denken, dass das mit der Fremdheit halb so wild ist, sind sie hilflos und erpressbar gegenüber jeder Kraft, die anderes behauptet, denn der Populus muss mitgenommen werden. So ist das Schielen zum rechten Rand in den Volksbegriff des Grundgesetzes eingebaut.

 

Transnational verzahntes Gemeinwohl

 

Bis jetzt ist es in Deutschland gelungen, das Gleichgewicht zwischen Demos, Ethnos und Populus so zu halten, dass wirklich antidemokratische, illiberale, autoritäre Parteien noch nicht in die Nähe einer Regierungsübernahme gerückt sind. Aber die alle Grenzen überschreitenden, sich um keine Doktrinen der Staatstheorie kümmernden, von Imperialismen und zügellosem Ausbeutungskapitalismus geschürten Konflikte werden weiterhin zu- und nicht abnehmen. Gerade, weil Demos, Ethnos und Populus so eng aufeinander bezogen sind, mit der Gefahr der Zerstörung der Demokratie durch die Demokratie, scheint mir ein Schritt unumgänglich: die Lösung des Begriffs des Gemeinwohls vom Begriff des „Volkes“. Das Gemeinwohl muss notwendig transnational gedacht werden, genauso wie die Bedrohungen für das Gemeinwohl transnational sind, damit das „Deutsche Volk“ seine in der Präambel des Grundgesetzes deklarierte „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ und seinen „Willen, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, wahrnehmen kann. Wenn Russland die Ukraine angreift, geht das uns Deutsche unmittelbar an.

Aber gerade dass und wie die Ukraine jetzt angegriffen wird, zeigt, dass auch die Angriffe auf Syrien, die Angriffe auf Georgien, die Angriffe auf Tschetschenien sowie der Verrat an Afghanistan et cetera uns Deutsche unmittelbar hätten angehen sollen. Hätten wir die Afghaninnen und Afghanen nicht so feige im Stich gelassen, sähe sich der russische Imperialismus jetzt möglicherweise nicht ermutigt, sich nach Westen auszudehnen. Unsere Sicherheit wird auch am Hindukusch aufs Spiel gesetzt, wenn wir nicht begreifen, dass in einer globalisierten Welt das Gemeinwohl der Afghaninnen und Afghanen und das Gemeinwohl des „Deutschen Volkes“ engstens miteinander verzahnt sind.

Ein zweiter Schritt wäre es, darüber nachzudenken, wie die von Deutschen praktizierte zivilgesellschaftliche transnationale Solidarität, die sich nicht nur jetzt bei den Ukraine-Flüchtlingen zeigt, auch in der Konstitution und den Konstruktionen des „Deutschen Volkes“ besser berücksichtigt werden könnte. Was es im 21. Jahrhundert eigentlich heißt, „dem Frieden der Welt zu dienen“, und eben auch der Freiheit der anderen, die für den Frieden Voraussetzung ist, wäre im Grundgesetz neu auszubuchstabieren. Die neuen Partnerschaften zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren, die bei der „Flüchtlingshilfe“ sichtbar werden, könnten ein Ausgangspunkt dafür sein. Sich nur darauf zu verlassen, dass ein Verständnis des „Deutschen Volkes“ als Demos ausreichen wird, um die Gefahren für unsere Demokratie abzuwenden, ist falsch. Wir müssen uns auch um den Ethnos und um den Populus kümmern. Dass Nation und Ethnizität nicht an und für sich gute oder schlechte Konzepte sind, sondern eigentlich neutral und es allein davon abhängt, wie sie semantisch und politisch gefüllt werden, gehört in der postkolonialen Theorie seit Stuart Halls bahnbrechenden Vorlesungen zum Grundwissen.4 An diese Imperialismus-kritischen Diskurse müsste sich die Weiterentwicklung unseres Begriffs vom „Deutschen Volk“ anschließen. Das „Volk“ ist, was wir aus ihm machen.

 

Marion Detjen, geboren 1969 in München, promovierte Historikerin und Publizistin, seit 2016 Dozentin für Migrationsgeschichte, deutsche Geschichte und Globalgeschichte, Leiterin des Program for International Education and Social Change (PIESC), Bard College Berlin.

 

1 Floris Biskamp: Volk, Hintergrundinfo zum ABDELKRATIE-Video „Volk“, 06.06.2020, www.bpb.de/themen/politisches-system/abdelkratie/311088/volk/ [letzter Zugriff: 11.04.2022].
2 Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Verso Books, London / New York 1983.
3 Theodor Mommsen: Auch ein Wort über unser Judenthum, Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1880.
4 Stuart Hall: The Fateful Triangle. Race, Ethnicity, Nation, The W.E.B. Du Bois Lectures at Harvard University in April 1994, hrsg. von Kobena Mercer, Harvard University Press, Cambridge (Mass.) 2017.

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