Bürokratiekritik ist in aller Munde – sie existiert sogar als Bürokratieselbstkritik. Wenn eine Kritik so verbreitet ist, sich aber wenig ändert, ist zu vermuten, dass mehr als das bloße Sammeln von Daten einerseits und die Klage über eine exzessive Belastung mit „Berichtspflichten“ andererseits dahintersteckt. Wo liegen die tieferen Ursachen?
Zunächst muss ein Blick auf das Sicherheitswissen und die staatliche Statistik am Beginn einer neuen Wissensordnung im 19. Jahrhundert gerichtet werden. Mit der rasanten technischen Entwicklung der Wirtschaft im 19. Jahrhundert hat sich auch die Praxis der Erzeugung technischen Wissens dynamisiert.
Die Erzeugung von Wissen in der Gesellschaft, insbesondere für die Entwicklung der Technik, aber auch für den Staat, der Wissen für Gesetzgebung und Verwaltung benötigt, ist abhängig von der Grundstruktur der Gesellschaft: Im 19. Jahrhundert waren die wichtigsten Akteure Individuen, kleine und mittlere Unternehmer. Dieser Konstellation entspricht die Wissensordnung der „Gesellschaft der Individuen“: Insbesondere kleinere Betriebe brachten das praktische technische Wissen, die Erfahrung, hervor, das für die Produktion benötigt wird.
Wo ist die Gefahrengrenze?
Dabei geht es um neue technische Produktionsverfahren, aber auch um die Gewinnung von Sicherheitswissen, zum Beispiel für den Einsatz von Druckbehältern. Welche Druckbehälter, etwa in Dampfmaschinen, sind gefährlich?
In der „Gesellschaft der Individuen“ bestand nicht nur ein Mangel an Orientierung über neue technische Gefahren, sondern auch darüber, welche neuen, schwer vermeidbaren Gefahren für Mitmenschen, zum Beispiel Nachbarn, zumutbar sind. Sind Gasbehälter zu verbieten, weil sie des Öfteren explodieren – mit verheerenden Folgen? Von Fall zu Fall entschied die Polizei – und nicht das Gesetz – darüber, wo die „Gefahrengrenze“ zu ziehen ist. Sie orientierte sich dabei auch an den noch unsicheren Erwartungen der Bürger. Gasbehälter waren offenbar gefährlich – aber auch sehr nützlich. Was zählte mehr?
Auch für die Eisenbahn stellte sich dieses Problem der „Risikobewertung“ – es wurde „gelöst“ durch die Einführung der Gefährdungshaftung, das heißt die Abwälzung der Risiken der auch ohne „menschliches Versagen“ möglichen Schadensfolgen auf den Betreiber der Eisenbahn. Auf diese Weise hat sich ein Zusammenhang von Lebensformen in Wirtschaft, Gesellschaft und Recht selbst erzeugt: Orientierung wurde durch den Austausch von zwei Buchstaben im Leitbegriff des staatlichen Handelns erneuert: von der „Policey“ (des statischen Ancien Régime) zur „technischen Polizei“ der Beobachtung der neuen Technologien. Auf Grundlage dieser Form der Wissenserzeugung zwischen Staat und Gesellschaft entstehen auch Statistiken für staatliche Zwecke, die den Staat in die Lage versetzen sollen, auch jenseits der „Gefahrengrenze“ aufgrund von Daten – beispielsweise über die Art der Tätigkeit von Unternehmen, deren Produktionsmittel, die Zusammensetzung der Bevölkerung et cetera – Entwicklungstrends in der Gesellschaft, vor allem in der Wirtschaft, zu erkennen und Verwaltung sowie Gesetzgebung darauf einzustellen.
Kooperative Fortsetzung des Sicherheitswissens
Im 20. Jahrhundert stiegen mit dem Aufschwung der wirtschaftlich tätigen Organisationen zugleich die staatlichen Anforderungen an die „Berichte“ der größer gewordenen Unternehmen und deren Informationspotenzial. Der Staat interessierte sich mehr für langfristige Trends: Im Bereich des Sicherheitswissens beobachtete er „Risiken“ jenseits des Gefahrenhorizonts und entwickelte „Vorsorge“ als neue Staatsaufgabe, zum Beispiel durch die Erfassung von Schadstoffemissionen unterhalb der Gefahrengrenze. Im breiten Feld des allgemeinen wirtschaftlichen Praxiswissens wurden Daten über die Anforderungen an die Qualifikation des Personals, die Erfassung der Diversifizierung der Produktion, die Zusammensetzung der Arbeitskräfte und vieles mehr durch „Berichte“ erfasst. Der Aufwand für die Unternehmen wurde größer, die Legitimität der Führung staatlicher Statistiken für öffentliche Zwecke jedoch kaum infrage gestellt. Das kooperative Denken wirkte fort.
Dessen Bedingungen veränderten sich jedoch in der von mir so bezeichneten „Gesellschaft der Netzwerke“. Komplexität, Diversität und Flexibilität des Wissens der Gesellschaft, vor allem des für technologiebasierte Produkte erforderlichen Wissens, nahmen noch einmal erheblich zu. Die Binnensphäre der Unternehmen und der Prozess der Wissenserzeugung im Unternehmen selbst wurden vielfach rechtlich relevant: Die Unternehmen mussten aktiv ein rechtlich vorgegebenes Risikomanagement betreiben und dafür Wissen generieren, das nicht ohne Weiteres spontan erzeugt und durch Beobachtung verfügbar wurde – wie zur Zeit der „Technikpolizei“ des 19. Jahrhunderts.
Der Umgang mit Risikowissen
Die Finanzwirtschaft bietet ein Beispiel für die rechtlich gebotene Pflicht zur aktiven Erzeugung von Risikowissen in Bezug auf „Finanzprodukte“. Aber auch in der technologiebasierten Produktion von Gütern entwickelten sich neue „Risiken“ jenseits der kausal strukturierten „Gefahren“. „Risikowissen“, etwa über das diffuse Zusammenwirken von chemischen Substanzen oder langfristige Fernwirkungen in der Technologie, wiederum zum Beispiel in der chemischen Industrie, musste, dem Wandel des beweglichen „Standes von Wissenschaft und Technik“ entsprechend, nach gesetzlichen Vorgaben des Chemikaliengesetzes durch Experimente erzeugt und dokumentiert werden.
Dies konnte den Staat und das Recht schnell überfordern, weil die Gewinnung von Wissen und die Beobachtung der Risiken die Setzung von Verfahrensregeln (zum Beispiel über die Durchführung von Experimenten mit riskanten Stoffen) verlangen und ohne diese nicht beobachtbar sind. Jedoch muss man konstatieren, dass auch in diesem Stadium der Entwicklung der Technologien die Erzeugung des ebenso für private wie öffentliche Zwecke benötigten Risikowissens dem bekannten Muster der Suche nach einem privat-öffentlichen gemeinsamen Wissensvorrat folgt, auch wenn dies durch die bürokratiebedingte Belastung der Unternehmen teilweise fragwürdig wird.
Die neuen Berichtspflichten
Die Koordination in der Entwicklung der privat-öffentlichen Wissensvorräte und ihrer Nutzung wird zurzeit durch ein neues Modell der „Berichtspflichten“ infrage gestellt und stößt deshalb in der Wirtschaft auf erheblichen Widerstand. Der Staat antwortet auf einen neuen Schub des Wandels des industriellen Wissens mit einem Typus von „Berichtspflichten“, bei denen es nicht mehr um die Schaffung einer relativ gut strukturierten, geteilten öffentlichen Wissensbasis geht, sondern um die staatliche Auferlegung einer im Grunde unmöglich zu realisierenden Pflicht: nämlich die Beobachtung der tiefgreifenden Selbstveränderung der Unternehmen in einer Zeit, die nicht mehr einer stabilen Organisationssteuerung unterliegt.
Dafür werden Kriterien nach globalen gesellschaftlichen Zielgrößen wie „Nachhaltigkeit“ oder sogar der „Achtung der Menschenrechte“ in komplexen transnationalen Produktionsprozessen („Lieferketten“) vorgegeben. Unternehmen werden zum „Netzwerk von Netzwerken“, die einer ständigen Erneuerung in Prozessen der Wissensverarbeitung unterliegen. Der Prozess des Wandels selbst weist eine Vielzahl von Erscheinungsformen auf, die der Staat seinerseits – ähnlich wie früher – „Berichtspflichten“ unterwirft, zum Beispiel über langfristige Trends in den Bereichen des Energieverbrauchs, der Klimabelastung, der globalen vernetzten Produktion.
Die Ziele bleiben aber diffus: Insbesondere in der Herstellung von Transparenz der Unternehmen für sich selbst und für die gesellschaftliche Öffentlichkeit (und nur noch unter anderem für den Staat) liegt schon eine deutliche Akzentverschiebung, weil der Staat allein das so durch „Berichte“ nach einer Vielzahl von Parametern zu erzeugende Wissen nicht verarbeiten kann. Diese Vorgehensweise wird dem Strukturwandel der wissensbasierten Produktion nicht gerecht. Die gestellten Fragen müssten vor allem spezifischer auf bestimmte, mit Vorrang zu stellende Probleme konzentriert und beispielsweise differenzierter auf die einzelnen Branchen abgestimmt werden. Ein Netzwerk lässt sich nicht mehr „ganzheitlich“ abbilden.
Versuch zur Beobachtung einer „Wissensrevolution“
Das Verständnis zwischen Wirtschaft und Öffentlichkeit, die nicht mehr nur den Staat umfasst, kann nur in wechselnden strategischen Schwerpunkten in einer selbst experimentell konzipierten Form ermöglicht werden. Letzten Endes wäre dies nur in einer auf die digitale privat-öffentliche Verarbeitung von großen Datenmengen (Stichwort: Big Data) eingestellten strategischen Suche nach sich neu herausbildenden Entwicklungsmustern in computerisierten Formen sinnvoll vorstellbar – also in einer Kommunikationsform, die als eine digitale bereits selbst eine Vernetzungstechnologie darstellt. Der Staat versucht im Grunde, mit den alten Techniken der Auferlegung von „Berichtspflichten“ eine „Wissensrevolution“ zu beobachten, für die die technologischen Voraussetzungen auf seiner Seite nicht vorhanden sind: die Digitalisierung.
Die technologiebasierte Produktion verändert sich grundlegend. Darüber kann nicht in der gleichen Form wie früher „Bericht“ erstattet werden. Ein gutes Beispiel gibt auch in diesem Fall die chemische Industrie: Auch die Materialien der Produktion unterliegen inzwischen einem Prozess der Digitalisierung. Einer der neuen Trends ist die „digitale Chemie“, die Produkte mithilfe der computerisierten Behandlung von Substanzen als Träger von Informationen entwickelt.
Insbesondere ist es nicht sinnvoll, etwa im Bereich des „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes“ (Kurzform: Lieferkettengesetz, LkSG), den Unternehmen die genaue Beschreibung transnationaler Prozessabläufe (hier: unter dem Gesichtspunkt der Achtung der Menschenrechte in Drittländern) abzuverlangen, die selbst eher „Liefernetzwerke“ sind. Die Unternehmen sollen über die dem ständigen Wandel unterliegende Prozess- und Produktionslogik „berichten“.
Das hier in den Blick genommene Lieferkettengesetz ist in Deutschland seit dem 1. Januar 2023 rechtsgültig, während das Inkrafttreten der entsprechenden Richtlinie der Europäischen Union auf 2028 verschoben worden ist. Dieses Gesetz geht für die transnationale grenzüberschreitende Produktion im Interesse des Schutzes der Menschenrechte noch über die den „Nachhaltigkeitsberichten“ innewohnenden Ziele hinaus: Es kombiniert die Suche nach Risiken für die Einhaltung der Menschenrechte in transnationalen Netzwerken mit der Auferlegung umfassender Pflichten zur Berichterstattung über die Zukunft der Produktionslogik. Diese „Dokumentationspflicht“ wird ergänzt um eine öffentlich-rechtliche Haftung (Bußgeld bei Verstößen unter anderem gegen Berichtspflichten, LkSG § 24 Absatz 1), die neben die kraft allgemeinen Zivilrechts ohnehin bestehende Haftung tritt.
Im Zweifel gegen den Kläger
Für die Anwendung der neuen Sanktionen fehlt es den Behörden an Erfahrung: Wie will eine Behörde zum Beispiel prüfen, ob eine Risikoanalyse „nicht richtig“ erfolgt ist (LkSG § 24 Absatz 1 Nr. 2)? Dazu zwei Vorschläge: Erstens sollte für eine Übergangsphase der zivilrechtlichen Haftung kraft allgemeinen Rechts ein Vorrang eingeräumt werden. Die privatrechtliche Haftung würde sich zwar auch nach sehr allgemeinen Normen des nationalen und internationalen Privatrechts richten. Die Gerichte haben jedoch mit der Bewältigung konkreter Haftungsfragen sehr viel mehr Erfahrung als eine nur für Verstöße gegen das Lieferkettengesetz zuständige Verwaltungsbehörde. Die Beweisproblematik würde dadurch entspannt, da im Zivilrecht der Grundsatz der Verantwortung der Parteien für den zu beurteilenden Sachverhalt besteht. Die Unvollständigkeit der Aufklärung führt zur Entscheidung nach Beweislasten: im Zweifel gegen den Kläger.
Zweitens wäre in einer öffentlich-rechtlichen Perspektive daran zu denken, zunächst den experimentellen Prozess des Risikomanagements durch Ausprobieren unterschiedlicher Strategien und eine darauf bezogene (begrenzte) Berichtspflicht zu strukturieren. Die Modelle könnten auf einer Plattform, etwa auf Access2markets, dem neuen Portal für EU-Ex- und -Importeure, zugänglich gemacht werden und für die kooperative privat-öffentliche Suche nach Best Practice von einer Arbeitsgruppe bearbeitet werden. So könnte sich ein kooperativer Geist wieder neu entfalten.
Nachbemerkung: Die neue, schwarz-rote Koalition will das Lieferkettengesetz abschaffen – gut so! Es könnte aber bald durch die europäische Tür zurückkommen. Jedenfalls bietet das Gesetz ein Exempel dafür, was man aus einem schlechten Gesetz lernen kann.
Karl-Heinz Ladeur, geboren 1943 in Wuppertal, emeritierter Professor für Öffentliches Recht, Universität Hamburg.