Zu den Erstaunlichkeiten der Alltagskommunikation gehört die Bereitwilligkeit, mit der wir sprachliche Unschärfen hinnehmen und ohne Weiteres durchgehenlassen. Wir finden nichts dabei, wenn Begriffe wie Wörter verwendet und im Fluss der Rede einfach mitgetragen werden. Das Einfordern von Definitionen hingegen wirkt im Alltagsgespräch eher störend und überdies pedantisch.
Und das zu Recht. Die Streubreite der Wortbedeutungen erspart uns nicht nur die Umständlichkeiten der Wortklauberei. Sie weckt auch die Verständnisbereitschaft des Gegenübers, das sich, wenn es etwas verstehen will, nicht darauf beschränken kann, einzelne Wörter aufzuschnappen. Verstehen verlangt die Bereitschaft, dem Gedankengang zu folgen. Die Vieldeutigkeit der gesprochenen Sprache hat den guten Sinn, dass Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen miteinander ins Gespräch kommen, aufeinander eingehen und gemeinsam klären können, was sie jeweils meinen.
Womit wir beim Thema wären: bei der Funktion und dem Begriff der Meinung. Obwohl alle Welt zu allem und jedem eine Meinung hat, ist das, was all diese Meinungen als solche ausmacht, erstaunlich schwer zu greifen. Meinung – und Meinungsstärke – ist gefragt und sogar gefordert; im gleichen Atemzug jedoch schlägt der Meinung der Einwand entgegen, sie sei bloß subjektiv, lasse beweiskräftige Belege vermissen und bleibe hinter der Aussagekraft der Daten und Zahlen zurück. Meinungen – und zumal, wenn sie als Einzelmeinungen auftreten – gelten als defizitär und sollten, so der verbreitete Konsens, möglichst umgehend „in Wissen transformiert“ werden. Auf Meinungen, so der Verdacht, ist kein Verlass.
Ungeachtet dessen erkennt man leicht, dass auch dieses Verlangen eine Meinung ist – eine Meinung zudem, die auf starken Vorannahmen beruht: auf der als selbstverständlich unterstellten Erwartung, dass Meinungen, da sie doch unzulänglich seien, durch Gewissheiten ersetzt werden könnten und, ebendarum, auch ersetzt werden müssten. Das unbeirrbar voranschreitende, universale und zweifelsbefreite Wissen, so der Tenor dieser Erzählung von der Überwindung des Meinens durch das Wissen, werde die Menschen aus dem Dunkel der Höhle herausführen und sie von ihren Irrtümern, die sich zu Meinungen verdichtet haben, befreien.
Stellungnahme auf Halbdistanz
Christian Bermes, der an der Universität Koblenz-Landau Philosophie lehrt, hat nun ebenso bündige wie aufschlussreiche Überlegungen zu diesem seltsam schillernden Begriff der Meinung angestellt – Überlegungen, die das Bild deutlich differenzieren und, wie nur folgerichtig, verändern.
In sechs Kapiteln, die jedes für sich als Essay bestehen können, zeigt Bermes, was wir, trotz aller Bedenken, die auch er nicht verschweigt, an den Meinungen haben und weshalb es klug wäre, es sich mit ihnen nicht zu leicht zu machen. Das Ergebnis dieser kenntnisreichen Annäherung ist eine „Philosophie der Doxa“ – das griechische Wort dóxa steht für „Meinung“, für „Ansicht“ und „Vorstellung“, aber auch für „Wahn“ –, die das Phänomen in der Weitläufigkeit seiner funktionalen Bezüge erfasst. Der Weg, den Bermes bei seiner Erschließungsarbeit einschlägt, führt von einer begriffssprachlichen Bestandsaufnahme über die Sondierung der historischen Einsätze und Zusammenhänge zu einer veritablen „Rehabilitation der Doxa“.
Der erste, aber auch bereits entscheidende Schritt dieser Rehabilitation erfolgt auf der Ebene der Pragmatik. Er besagt, dass die Situation, in der die Menschen leben, ihnen ein konjekturales Weltverhältnis nahelegt. Allenfalls in Ausnahmefällen bewegen sie sich in Lebenslagen, in die sie entweder gänzlich ahnungslos oder als vollumfänglich Informierte hineingegangen sind. In diesem Habitat, das sich zwischen den äußersten Grenzwerten des Nichtwissens und des absoluten Wissens erstreckt, bewährt sich die Vorläufigkeit der Meinung. Meinungen sind das Mittel der Wahl, wenn es gilt, in offenen Situationen zurechtzukommen, angemessen zu handeln und tragfähige, verantwortbare Entscheidungen treffen zu müssen.
Den Schlüssel zu dieser Situierung des Phänomens bietet die Arbeitshypothese der Stellungnahme. Moderne Philosophen haben das Verhalten der Menschen zur Welt als Stellungnehmen beschrieben, das als Teilhabe, aber auch in der paradoxen Bindung der Distanz konkret wird. Derlei Bezüge bestehen nicht nur gegenüber der Ordnung der Dinge, sondern auch zwischen Menschen, die aufgefordert sind – Bermes zitiert an dieser Stelle Helmuth Plessner –, ihr „Mit-, Gegenund Füreinander“ fortlaufend zu gestalten.
In dieser Lage, die durch eine Vielfalt ständig wechselnder Relationen charakterisiert ist, springen die Meinungen ein. Die Meinung erspart es den Beteiligten, bei ihrer umfassenden „Beziehungsarbeit“ in allen Fällen Eindeutigkeit herstellen oder sich, auf der anderen Seite, generell mit Unverbindlichkeiten zufriedengeben zu müssen. Die immer neu zu wägende Mischung aus Bestimmtheit und Unentschiedenheit, die für das Meinen überhaupt bezeichnend ist, ermöglicht die, wie Bermes formuliert, über den Moment hinaus lebbare „Stellungnahme auf Halbdistanz“.
Meinen und Wissen
Philosophisch liegt dieser Argumentation die Ansetzung der „Lebensbedeutsamkeit“ allen Verstehens zugrunde, aus der die konkreten Formen des Wissens, einschließlich des Szientismus, einmal hervorgegangen sind. Erneut meldet sich hier eine anthropologische Grundthese: Der Mensch ist das Wesen, das, weil ihm die Instinktsicherheit der Tiere fehlt, lernen und sich zurechtfinden, das Wissen erwerben und speichern muss.
Allerdings, so der prominente Einwand namentlich Edmund Husserls, hat das Wissen auf dem langen Weg in die institutionell verfasste Wissenschaft den Rückhalt in dieser „letzten Ursprünglichkeit“ aus dem Blick verloren und ist, statt sich als deren kritische Fortführung zu konstituieren, zu den Meinungen in Konkurrenz getreten. Es ist nun gerade die aus dieser Absetzbewegung hervorgegangene Hierarchie, die erklärt, weshalb Meinungen sich trotz der Entkräftungsoffensive der rationalen Weltmodelle haben halten können. Offensichtlich setzen Meinungen anders an. Bei ihnen sind Bedürfnisse aufgehoben und artikulierbar geblieben, an denen die methodisch-disziplinierten Wirklichkeitsbeschreibungen der Wissenschaft bereits mit der Art ihres Zugriffs vorbeigehen.
Die Folgen dieser Spaltung sind heute allenthalben zu besichtigen, etwa in den ebenso verbreiteten wie hilflosen Versuchen, Meinungen durch Fakten zu kontrollieren und, wie es dann heißt, die ‚Tatsachen sprechen zu lassen‘. Allein das Ansinnen ist schief, weil Meinungen nicht wie Tatsachen sind, sondern, wie Bermes richtig zeigt, das „Wissen von Tatsachen“ betreffen. Meinungen sagen, was von den Tatsachen zu halten ist und was, im nächsten Schritt, aus ihrer Zurkenntnisnahme folgt. Im Gegensatz dazu und anders, als die in letzter Zeit populär gewordenen Faktenchecks suggerieren, verharren Tatsachen in tiefem Schweigen. Fakten helfen, irrige Meinungen zu korrigieren, können die Leistung, die Meinungen erbringen, jedoch keinesfalls ersetzen.
Das Zerrbild der Demoskopie
Gerade denen, die über die Fakten verfügen, kann die Mühe nicht erspart werden, sich über deren Zurkenntnisnahme hinaus eine Meinung zu bilden. Bereits der Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg, der nicht nur ein philosophischer Schriftsteller, sondern auch ein bedeutender Naturwissenschaftler war, hat daraus die Konsequenz gezogen. Lichtenberg hat die Meinung keineswegs verdammt, um sie schnellstmöglich loszuwerden, sondern als Ausdrucksgestalt menschlicher Lebensund Erlebenswirklichkeit geschätzt, die Rückschlüsse zulässt auf das Wesen, das in dieser Weise ein Bild seiner Welt zu gewinnen hofft: „Die gemeinsten Meinungen und was jedermann für ausgemacht hält, verdienen oft am meisten untersucht zu werden.“
Die Anstrengungen der heutigen Meinungsforschung dürften ihm allerdings eher skurril vorgekommen sein. Zum einen deshalb, weil die betreffenden Institute nicht, wie sie vorgeben, Meinungen abfragen, sondern Einstellungen, Erwartungen und Gefühlslagen. Zum anderen auch deshalb, weil das, was am Ende als festgestellte ‚Meinung‘ herauskommt, ein vor allem auf Handlichkeit bedachtes, mit Rücksicht auf die Interessen der Auftraggeber entstandenes Resultat ist, dem die lebensweltliche Verwurzelung gleichgültig sein kann. Was von der Meinung bleibt, so Bermes, ist eine Karikatur – ein „Zerrbild“.
Meinungen, so stellt sich heraus, sind Äußerungen, mit denen sich die Betreffenden exponieren – Bermes spricht von „In-Szene-setzen“ –, Äußerungen, mit denen sie hervortreten und sich zeigen, denen aber dennoch etwas Vorläufiges eignet. Meinungen sind Meinungen im Prozess und können, mögen sie auch im Augenblick ihrer Äußerung unumstößlich erscheinen, wechseln und sich ändern.
Aber gerade darin, dass sie bei aller Wandlungsfähigkeit zugleich verbindlich sind, dass also die Betreffenden ihre Meinung nicht nur haben, sondern in gewisser Weise auch sind, bleibt am Ende die Frage der Abstandnahme – der Abstandnahme nicht nur gegenüber der Welt, sondern auch gegenüber der Meinung selbst. Meinungen, schrieb Hannah Arendt, lassen „zwischen Menschen etwas Gemeinsames“ entstehen. Offenbar ist es gerade dieses Gemeinsame und das diese Gemeinsamkeit tragende Gespräch, aus dem sich die Chance ergibt, sich von Meinungen auch einmal zu lösen und sie, sind sie einmal entkräftet und unhaltbar geworden, ohne Bedauern aufzugeben.
Ralf Konersmann, geboren 1955 in Düsseldorf, emeritierter Professor für Philosophie, Buchautor und Publizist, 2000 bis 2021 Direktor des Philosophischen Seminars der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag: „Die Unruhe der Welt“ (5. Auflage 2015), das „Wörterbuch der Unruhe“ (2017, ausgezeichnet mit dem Tractatus-Preis 2017) sowie „Welt ohne Maß“ (2021).