Asset-Herausgeber

Das Ringen um das EU-Mercosur-Abkommen

Asset-Herausgeber

Ein grinsender Olaf Scholz vor einem Flammeninferno, dazu der Spruch „Wir brauchen den Amazonas-Regenwald – Nein zum EU-Mercosur-Abkommen“: Dieses dramatische Motiv wurde 2023 deutschlandweit an Litfaßsäulen und Bauzäunen angebracht. Widerstand kam von zahlreichen Organisationen, darunter Greenpeace und Fridays for Future. Die Online-Kampagnenorganisation Campact stieß Ende 2024 in das gleiche Horn. Ihr Slogan: „Der Amazonas brennt – Mercosur stoppen“. Campact behauptet: „Die EU-Kommission will mit dem EU-Mercosur-Abkommen die Einfuhr von Rindfleisch, Soja und Zucker aus Südamerika stark erhöhen. Eine Ausweitung der Fleischproduktion würde zu verstärkter Abholzung des Regenwaldes und höheren Treibhausgasemissionen führen.“[1] Um kaum ein Handelsabkommen in der Geschichte der Europäischen Union wird so gerungen wie um jenes mit dem Mercosur (Mercado Común del Sur), dem gemeinsamen Markt der vier südamerikanischen Länder Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay.

Dies liegt einerseits an seiner herausragenden Bedeutung. Im Falle des Inkrafttretens des Abkommens entstünde einer der größten Wirtschaftsräume der Welt. Die potenziellen Teilnehmerstaaten umfassen 715 Millionen Menschen, erbringen zwanzig Prozent der Weltwirtschaftsleistung und 31 Prozent der globalen Warenexporte. Andererseits erstrecken sich die Verhandlungen mittlerweile über ein Vierteljahrhundert. Rund zwei Jahrzehnte zog sich der offizielle Verhandlungsprozess hin, bevor 2019 eine Einigung über den Handelsteil erzielt werden konnte. Dabei haben die lateinamerikanischen Partner deutlich geringere Einfuhrquoten für zollfreie Nahrungsmittel in die Europäische Union akzeptiert, als sie sich erhofft hatten. Entgegen den Erwartungen, das Abkommen schnell zu ratifizieren, bedeutete das Ende der offiziellen Verhandlungen 2019 den Beginn eines halben Jahrzehnts neuer politischer Debatten, vor allem in Europa. Die Ratifikation lässt bis heute auf sich warten.
 

Lavieren und Diskutieren

In den vergangenen fünf Jahren wechselten sich positive und negative Schlagzeilen ab. So war es immer wieder der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, der sich als Chefkritiker des Abkommens inszenierte und mit Rücksicht auf die heimische Agrarlobby noch 2024 behauptete, es sei „sehr schlecht für beide Seiten“.[2] Aus verschiedenen europäischen Hauptstädten wurden ebenfalls Forderungen laut, das Verhandlungspaket aufzuschnüren, bis die Idee entstand, den Handelsteil und den politischen Teil des Abkommens voneinander zu trennen, um nicht jedem nationalen Parlament ein Vetorecht über das Abkommen einzuräumen. Verschleppt wurden Entscheidungsprozesse zudem von Wahlkämpfen auf nationaler oder europäischer Ebene.

Im Dezember 2024 gab es dann einen Hoffnungsschimmer: Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, überraschte mit ihrer Teilnahme am Mercosur-Gipfel in der uruguayischen Hauptstadt Montevideo. Dort verkündete sie im Namen der Kommission eine politische Einigung über das Abkommen als „historischen Meilenstein“.[3] Das Abkommen besteht nunmehr aus einer politischen Säule, einer Kooperationssäule sowie einer handelspolitischen Säule. Trotzdem hängt das Abkommen weiter in der Luft – für seine Ratifizierung sind eine einfache Mehrheit im Europaparlament sowie eine qualifizierte Mehrheit im Rat der Europäischen Union notwendig. Während im Europaparlament die Mehrheitsverhältnisse unsicher sind, reichen im Rat der Europäischen Union bereits die Gegenstimmen oder Enthaltungen von vier Staaten, die 35 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren – Frankreich, Italien, Polen und Österreich – aus, um das Abkommen zu verhindern. Das Lavieren und Diskutieren gehen also weiter.
Während das EU-Mercosur-Abkommen in Europa ebenso Spielball interner Machtkämpfe wie Einflussnahmen der Umweltlobbys und Falschbehauptungen ausgesetzt ist, lohnt ein Blick auf die Reaktionen aus Lateinamerika. Dort herrscht wenig Verständnis für die innereuropäischen Auseinandersetzungen.

Insbesondere dem paraguayischen Präsidenten Santiago Peña riss zeitweise der Geduldsfaden. Im September 2023 kündigte er in einem Interview mit der Financial Times an, das südamerikanische Land werde nicht länger für ein Abkommen bereitstehen, sollte die Europäische Union dieses nicht binnen drei Monaten abschließen: „Wir tun es entweder jetzt, oder wir tun es gar nicht“, drohte er.[4] Er unterstrich zugleich die Absicht, sich statt der Europäischen Union alternative Absatzmärkte in Asien suchen zu wollen. Auch wenn Peña das Abkommen – trotz seiner Aussage, es sei ihm „sehr ernst“ mit dieser Drohung – letztlich nicht zum Scheitern brachte, ist er nicht der Einzige im Mercosur, der sich durch die europäische Hinhaltetaktik nicht ernst genommen fühlt: Auch der ehemalige uruguayische Präsident Luis Alberto Lacalle Pou erklärte, es beunruhige ihn persönlich sehr, „wenn ein Abkommen initiiert und nicht abgeschlossen wird“.[5] Argentiniens ehemalige Außenministerin Diana Mondino zeigte sich im Februar 2024 mit Blick auf das Abkommen resigniert: „Wir bedauern, dass sie [die Europäer] nicht das enorme Potenzial sehen, die dies für die Wachstumsaussichten beider Seiten hat.“[6] Die verschiedenen Regierungsvertreter aus Südamerika eint dabei eines: die Erosion ihres Vertrauens in Europa als verlässlichen Partner. Und viele lateinamerikanische Beobachter teilen einen vom paraguayischen Präsidenten ausgesprochenen Verdacht: Die Diskussionen, so der Staatschef gegenüber der Financial Times, hätten längst die Dimension der technischen Debatte verlassen, sondern würden einzig und allein von dem mangelnden politischen Willen der Europäischen Union geprägt.

In den europäischen Diskussionen über Artenvielfalt, Fleischquoten und angebliche negative Klimawandelfolgen durch einen verstärkten Autoexport infolge des Abkommens[7] kommt die wichtigste Frage zu kurz: Wenn nicht Europa, wer hebt dann das gewaltige Potenzial der Mercosur-Staaten und profitiert von den enormen Möglichkeiten – etwa in den Bereichen Rohstoffe, Energie, Infrastruktur oder Technologie?
 

China als Profiteur europäischen Zögerns

Längst haben andere Global Player den Mercosur als lukrativen Markt entdeckt, allen voran die Volksrepublik China. Während die Europäische Union lavierte, baute das Reich der Mitte das Handelsvolumen mit den Mercosur-Staaten zwischen 2012 und 2024 um 95 Prozent aus.[8] Peking exportierte bereits 2022 Waren im Wert von 92,3 Milliarden in den Mercosur – mehr als ein Drittel über der Handelsbilanz zwischen Europäischer Union und Mercosur, die im vergangenen Jahrzehnt nur minimal auf gut sechzig Milliarden Euro angewachsen ist. Der chinesische Machthaber Xi Jinping hat seit seinem Amtsantritt mehr lateinamerikanische Länder besucht als alle europäischen Staatschefs zusammen.

Lateinamerikas Staaten wollen von Europa weder Belehrungen noch Almosen. Sie benötigen keine Sonntagspredigten über eine Wertepartnerschaft, sondern konkrete Angebote zur wirtschaftlichen Kooperation. Diese eröffnen der deutschen und der europäischen Industrie nicht nur Wettbewerbsvorteile, etwa für europäische Hersteller von Maschinen, Fahrzeugen, Chemikalien und Hightechprodukten, sondern auch die Möglichkeit, heikle Themen in einem vertrauensvollen Umfeld anzusprechen und Lösungen zu finden. Sollte das EU-Mercosur-Abkommen an Bedenken hinsichtlich des Schutzes der Artenvielfalt und des Regenwaldes am Amazonas, der Einhaltung von Arbeitsbedingungen oder der Widerstände auf dem europäischen Agrarmarkt scheitern, ist es wahrscheinlich, dass China die Gelegenheit nutzt und die Bodenschätze sowie das Agrarpotenzial umso rücksichtsloser ausbeutet. Menschenrechte, Demokratie, Umweltstandards und andere Errungenschaften der westlichen Zivilisation spielen dann keine Rolle mehr. Dies sollten Campact, Greenpeace und andere Aktivistengruppen bei ihren Attacken gegen das Abkommen bedenken.

Die Europäische Union hat mit ihrem Lavieren in puncto EU-Mercosur-Abkommen schon jetzt viel politischen Kredit auf dem lateinamerikanischen Kontinent verspielt. In Zeiten neu aufflammender Handelskonflikte und einer wachsenden Unberechenbarkeit der USA muss das Abkommen nun umso dringender über die Ziellinie gebracht werden. Die Europäische Union könnte damit nicht nur gegenüber China, sondern auch gegenüber Donald Trump ihre Handlungsfähigkeit beweisen.

Die Selbstverpflichtung im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Koalition, das Abkommen „endlich“ abzuschließen, sowie das Bekenntnis zur Bedeutung des „Ausbaus strategischer Partnerschaften mit den Staaten Lateinamerikas und der Karibik“ sind zumindest aus Deutschland ein positives Zeichen.[9] Die neue Bundesregierung sollte auf europäischer Ebene entschlossen voranschreiten und darauf drängen, endlich Fakten zu schaffen. Vielleicht ist dies die letzte Chance der Europäischen Union, in Lateinamerika ihre Glaubwürdigkeit zu retten und das Feld nicht kampflos Peking zu überlassen.


Sebastian Grundberger, geboren 1979 in Rottenburg am Neckar, 2020 bis 2024 Leiter des Regionalprogramms der Konrad-Adenauer-Stiftung „Parteiendialog und Demokratie in Lateinamerika“ mit Sitz in Montevideo (Uruguay), seit 2025 Referent Andenländer, Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit, Konrad-Adenauer-Stiftung.


[1] Campact: „Der Amazonas brennt: Mercosur stoppen!“, www.campact.de/mercosur-amazonas/ [letzter Zugriff: 15.04.2025].
[2] Deutsche Welle: „Macron says Mercosur-EU deal is ‚very bad‘ for both sides“, 28.03.2024, www.dw.com/en/macron-says-mercosur-eu-deal-is-very-bad-for-both-sides/a-68687200 [letzter Zugriff: 15.04.2025].
[3] Sebastian Grundberger / Jonathan Neu / Patricia Enssle: Politischer Durchbruch beim EU-Mercosur-Handelsabkommen. KAS-Länderbericht Dezember 2024, www.kas.de/documents/252038/29447862/Politischer+Durchbruch+beim+EU-Mercosur+%E2%80%93+Handelsabkommen.pdf/ [letzter Zugriff: 15.04.2025].
[4] „South American leaders issue ultimatum on EU trade pact“, in: Financial Times, www.ft.com/ content/26ab22e1-ecc4-43ae-9d96-7054f343e140 [letzter Zugriff: 15.04.2025].
[5] „Lacalle Pou escéptico ante acuerdo Mercosur-Unión Europea“, in: Ultimo Cable, 02.04.2021, https://ultimocable.com/lacalle-pou-esceptico-ante-acuerdo-mercosur-union-europea/ [letzter Zugriff: 15.04.2025].
[6] Manuela Tobías: „Argentina critica a la UE mientras las negociaciones con Mercosur vuelven a estancarse“, in: Bloomberg Línea, 20.02.2024, www.bloomberglinea.com/latinoamerica/argentina/argentina-critica-a-la-ue-mientras-las-negociaciones-con-mercosur-vuelven-a-estancarse/ [letzter Zugriff: 15.04.2025].
[7] Netzwerk Gerechter Welthandel: Sieben Gründe gegen das EU-Mercosur-Abkommen, 17.12.2019, www.gerechter-welthandel.org/2019/12/17/sieben-gruende-gegen-das-eu-mercosur-abkommen/ [letzter Zugriff: 15.04.2025].
[8] Quelle für die Zahlen aus diesem Abschnitt siehe Jacob Pflügl: „Mercosur-Abkommen: Während die EU 25 Jahre lang mit Südamerika verhandelte, baute China seinen Handel massiv aus“, in: Der Standard, 09.12.2024, www.derstandard.at/story/3000000248342/waehrend-die-eu-25-jahre-lang-mit-suedamerika-verhandelte-baute-china-seinen-handel-massiv-aus [letzter Zugriff: 15.04.2025].
[9] Verantwortung für Deutschland. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 21. Legislaturperiode, S. 128, Zeilen 4065-4096, www.cdu.de/app/uploads/2025/04/Koalitionsvertrag-%E2%80%93-barrierefreie-Version.pdf [letzter Zugriff: 15.04.2025].

comment-portlet