Der erste Teil der Überschrift ist eine Feststellung. Der zweite Teil ist eine Fragestellung. Dass im Jahr 2024 rund 449,2 Millionen Menschen auf jener Halbinsel, die seit langer Zeit den Namen „Europa“ trägt, lebten, ist ein nicht bezweifelbarer Sachverhalt. Eine Frage hingegen ist, ob zumindest der größere Teil dieser Menschen ihren Wohnort nicht nur als geografische Adressen, sondern auch als ihre kulturelle Identität begreifen. Die Frage ist schwer zu beantworten, aber nach dem 28. Februar 2025 und dem Shutdown im Oval Office anlässlich der Begegnung des amerikanischen mit dem ukrainischen Präsidenten könnte sie überlebenswichtig werden. Der amerikanische Präsident machte in wenigen Minuten klar, was er von der Idee des „freien Westens“ hält: nämlich weniger als nichts.
Es gibt aber auch noch einen anderen Grund, die Frage „Wir Europäer“ als dringlich anzusehen: Heute sind noch 9,3 Prozent der Weltbevölkerung Europäer. Am Ende des Jahrhunderts, so sagen die Prognosen, werden noch rund sechs Prozent der Weltbevölkerung auf einem dann multiethnischen Kontinent leben. Es scheint also allmählich an der Zeit, darüber nachzudenken, was Europa als Erbe der Welt hinterlassen möchte. Welche Idee beseelt „uns Europäer“?
Vielleicht haben wir uns, die wir in der Kultur des Westens leben, verrannt. Unsere Schwächen sind mittlerweile unübersehbar. Dass Demokratien zerbrechliche Gebilde sind, haben wir immer schon wissen können. Aber was tun wir, um sie vor dem Zerbrechen zu schützen?
Donald Trump, die in Physiognomie und Gestikulation glorifizierte Ikone des postmodernen Narrativs, demzufolge Virtualität die Stelle der Realität einnimmt und diese durch Post-Facts und Post-Thruths ersetzt, hat seine eigene Erzählung vom bellizistischen Wolodymyr und dem pazifistischen Wladimir so weit aufgeblasen, dass sie platzte wie ein Ballon. Von ihm selbst nicht beabsichtigt, hat er einen Teil der Welt, die sich im Irrgarten von Narrativen verloren hatte, innerhalb weniger Minuten gezwungen, um ihres eigenen Überlebens willen in die Wirklichkeit zurückfinden müssen. Nur: Wer aus dem Wolkenschloss fällt und auf dem harten Boden der Wirklichkeit aufschlägt, ist vielleicht erst einmal benommen, hat sich möglicherweise auch ein Bein oder einen Arm gebrochen, stöhnt schmerzvoll auf – und dann? Dann beginnt ein neues Leben in der Wirklichkeit – der Wirklichkeit beispielsweise für uns Europäer, die, wenn Gefahr droht, nicht mehr wie kleine Kinder unter die Rockzipfel der Mutter flüchten können. Angekommen in der Wirklichkeit: Bein oder Arm im Gips, humpelnd, im Kopf noch ganz benommen, muss der zurück in die Wirklichkeit Gestürzte neu aufbrechen und sein Leben neu ordnen: als ein Leben in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt. Am Anfang fällt das schwer, und so fanden die ersten Beratungen in Europa nach dem 28. Februar 2025 noch mit benommenen Köpfen statt. Das muss man nicht bejammern. Allein wichtig ist: Im Erwachen findet sich der Träumende in einer anderen Welt wieder: der wirklichen. Dieses Schicksal hat uns Europäer jetzt erreicht.
Der Begriff des „Westens“
Wenn hier von „uns Europäern“ die Rede ist, dann sind zunächst all jene gemeint, die – anders als offenbar Donald Trump – zum Beispiel an der Tradition festhalten wollen, dass der Angreifer in der Regel nicht das Opfer und der Angegriffene nicht der Täter ist. Ist diese Tradition eine europäische? Jedenfalls seit der Feststellung schon in der Antike, dass es einen bellum justum, einen Verteidigungskrieg, gibt, ist sie es – bis heute. Im Oval Office denkt man offenbar darüber nach, sie durch ein Narrativ zu ersetzen, das die Wirklichkeit auf den Kopf stellt. Auch in Europa gab und gibt es solche Denkübungen aus der Vergangenheit. Jetzt aber geht es um unser Überleben, unsere Selbstbestimmung und unsere Freiheit. Und gleich so, wie der Begriff „Europa“ vom Piccolomini-Papst Pius II. im Abwehrkampf gegen das Osmanische Reich, als sich dieses nach dem Eroberung Konstantinopels anschickte, Venedig anzugreifen, eingeführt wurde, so ist es heute erneut eine Bedrohung, die Europa zu einem Abwehrkampf zwingt und vielleicht besser erkennen lässt, was es heißt, Europäer zu sein. Europa bestimmt sich, so könnte man zunächst einmal sagen, „ex negativo“, über einen Widerpart. Wenn bedroht wird, was selbstverständlich erschien, beginnt das Nachdenken. Das ist nicht wenig – und jedenfalls weit mehr als jedes postmoderne Narrativ, alles sei bloß eine unterhaltsame Erzählung. Denn Kriege mögen nach ihrem Ende in eine Erzählung gekleidet werden; wenn sie ausbrechen, sind sie der tödliche Ernstfall.
Die Tatsache, dass ein Abwehrkampf überhaupt in Betracht gezogen wird, hat einen Grund. Er findet sich in einer Idee des Staates, die sich in Europa durch die Jahrhunderte entwickelt hat und ihrerseits den Umrissen einer politischen Anthropologie folgt. Im Schnittpunkt dieser beiden Ordnungsvorstellungen geht es um das Spannungsverhältnis von Paternalismus und Liberalismus, anders gesagt: Es geht um den Antagonismus von Staat und Gesellschaft. Die Amerikaner lösen diese Spannung seit jeher anders auf als die Europäer; letztere neigen stärker zu einem paternalistischen, fürsorglichen, erstere hingegen eher zu einem liberalen Staat, der seinen Bürgern wenig gibt, aber auch wenig zumutet.
Während die eine Seite mit dem Paternalismus und seiner stets latenten Tendenz zur Bedrohung bürgerlicher Freiheit ringt, sucht die andere eine weit entfaltete Liberalität. Beide Entwicklungen verlaufen dynamisch – und geraten immer wieder an den Rand der Extreme: wenn der Liberalismus sich zum Libertarismus wandelt oder der Paternalismus zum Autoritarismus gerät.
Beide Staatskulturen besitzen zwei unterschiedliche Zentren, die gerade in ihrer Verschiedenheit aufeinander verwiesen bleiben: hier die Freiheit, in der Nachfolge von William James (1842–1910) und dem von ihm begründeten Pragmatismus immer verbunden mit Erwägungen ihrer Utilität, dort die Betreuung; hier der Staat als heimliche Bedrohung der Freiheit, dort, besonders in deutschen Landen, „Vater Staat“ als ein möglichst zuverlässiger Dienstleister seiner Bürgen, über die er wohlfahrtsstaatlich seine schützende Hand hält, zumal die in Nachfolge des Deutschen Idealismus immer und vielleicht sogar vor allem auch transzendental verstandene Freiheit ohnehin staatlichen Zugriffen entzogen bleibt.
Nicht minder wichtig ist aber, dass beide Kulturen ihr Selbstverständnis seit jeher dynamisch entwickeln; auf eben diese Dynamik der Freiheit im Ringen um ein Gleichgewicht der Machtverteilung im Inneren zielt ja der Begriff des „Westens“.
Postmoderne
Beidseitig überlagert wurde besagte historisch gewachsene Verschiedenheit im letzten halben Jahrhundert durch eine Strömung, die sich „Postmoderne“ nennt. Sie unternahm den Versuch, die Wirklichkeit in eine Vielzahl von Erzählungen über die Wirklichkeit aufzulösen. Der „Imperialismus des Logos“ – so Jean-François Lyotard (1924–1998) – sollte durch den vermeintlich mehr Freiheit stiftenden „Pluralismus des Narrativs“ abgelöst werden. Zunächst schien es, dass die postmoderne Imprägnierung des Denkens die angedeutete Divergenz zwischen den beiden Kulturen zu einer neuen Konvergenz führen könnte.
Aber tatsächlich waren die Wirkungen grundverschieden: Die postmoderne Umdeutung des Prinzips politischer Egalität führte hier wie dort zu verschiedenen Schlussfolgerungen, die an dieser Stelle nur angedeutet werden können: Während die Amerikaner im Wurzelgrund postmodernen Denkens die – jetzt von der Trump-Administration ins Visier genommene – Race-and-Wokeness-Theorie entwickelten, der zufolge es einen systemischen, unüberwindbaren Rassismus in der weißen Bevölkerung gibt, entzündete sich der Streit unter den Europäer an einer anderen Frage, die in einem multiethnischen Einwanderungsland wie Amerika immer anders beurteilt wird als in den bis dahin verhältnismäßig homogenen Länder Europas: an der Frage der Immigration, die hierzulande von den einen als kategorische moralische Norm und von den anderen als Destruktion traditioneller – nationaler – Identität wahrgenommen wird.
Trump nun hat die Ideologie der Wokeness mit einer anderen, seiner eigenen konfrontiert und versucht, sie schachmatt zu setzen, indem er ein vorgefundenes wokes Narrativ durch sein eigenes ersetzt: Er radikalisiert den Gründungsgedanken seines Landes, Freiheit in der Form bedingungsloser Selbsterhaltung zu begreifen. Es ist die pragmatistisch-materialistische Interpretation einer Idee, für die gilt, dass alles und jedes für den Deal bereitsteht. Der Nutzen zählt. Alles wird zu käuflicher Ware erklärt, alles hat einen Preis, Wahrheit keinen Rang, nichts hat Würde. Der Staat soll zum Minimalstaat schrumpfen, und in der Gesellschaft, in die der Staat nicht eingreifen darf, gilt das Recht des Starken. Mit dem manchmal bewunderten, manchmal verfluchten weltweiten Siegeszug des europäischen Denkens scheint es mithin so weit nicht her zu sein: Mitgefühl ist für Donald Trump und Elon Musk ein Zeichen von Schwäche, die Aufmerksamkeit gegenüber Schwachen selbst eine Schwäche.
Diese Form des Libertarismus steht im Gegensatz zum Denken der Europäer. Sie sind in den letzten beiden Jahrzehnten in eine andere Richtung gegangen. Die alte Verführung, vom Paternalismus zum Autoritarismus zu schwenken, blühte in vielen Gesellschaften Europas neu auf. Ein starker Staat sollte die misslichen Folgen einer verfehlten, allzu moralisierenden Immigrationspolitik einhegen. In vielen Ländern Europas drehten sich die Wahlkämpfe der letzten Jahre im Kern um die Frage: Brauchen wir nicht starke Führer, die unseren Staat wieder zu dem „Vater“ machen, der er ja eigentlich sein soll, um die Bürgergesellschaft im Zaum zu halten?
Nun ist es vielleicht eine Ironie der Geschichte, dass sich zwei so gegenläufige Ideologien in einer Art postmodernem Fankult treffen: Während das amerikanische Idol den Staat möglichst abschaffen soll, sollen ihn europäische Politiker stärker denn je machen. In beiden Fällen zielt die Performance des selbst erzählten Messianismus auf eine Figur an der Spitze, die alles zum Guten auszurichten verspricht. Hier wie dort ist das Vertrauen in die Bürgergesellschaft offenbar gesunken. Die Erlösung wird vom starken Mann an der Spitze erwartet.
Realität oder Narrativ?
In dieser schwierigen, undurchsichtigen und unübersichtlichen Gemengelage fallen die Europäer nun aus dem Wolkenschloss ihrer Narrative auf den harten Boden der Realität – dank einer Performance im Oval Office, die den Postmodernismus vermutlich ungewollt auf die Spitze trieb, indem der Performer aus Mar-a-Lago die Narrative einfach austauschte – und damit das Narrativ als das bloßstellte, was es ist: eine aufgeblasene, willkürliche, erfundene, bestenfalls unterhaltsame Erzählung, die höchstens ganz am Rande etwas mit den wirklichen Verhältnissen zu tun hat. Trump folgt der Spur, die das postmoderne Narrativ vorzeichnet: Es führt aus der Realität in die Virtualität der Fiktion: Das Leben wird zum Spiel mit unendlich vielen Möglichkeiten, befreit vom „Imperialismus des Logos“. Die Regeln des Spiels werden beliebig oft und selbst bestimmt – das ist autokratisch und dem postmodernen Verständnis eines gelingenden Lebensstils nachempfunden. Postmodernes Denken ist aus sich heraus autokratisch, weil es den Subjektivismus radikalisiert. Das über alles geliebte Selbst spielt nach eigenen Regeln. War Enthemmung, nämlich das grundsätzliche Vergessenmachen von Regeln, weil die doch nur bevormunden, wo man selbst bestimmen will, und der eigenen Freiheit Grenzen verordnen – war Enthemmung nicht das oberste Ziel postmoderner Entautorisierung, weil Regeln eine nicht geduldete Fremdbestimmung über die eigenen Wünsche ausüben? Weiter gefragt: Kann man nicht in diesem Lebensgefühl, das die Postmoderne auf ihre Fahnen schrieb und das sachnotwendig im Wankelmut endet, eine Regieanweisung für die Tweets von Donald wiedererkennen? In dieser Welt der Selbstverherrlichung ist die Wirklichkeit als Maßstab des Vernünftigen ausgeblendet. Also zurück zur Frage: Wie können wir in Europa uns jetzt als Europäer neu entdecken?
Die neuen Verhältnisse infolge des Ereignisses vom 28. Februar erfordern ein neues Denken und werden, wie man hoffen muss, ein neues Denken in Gang setzen. Es wird ein Denken sein müssen, dass sich von der Theorie des Radikalen Konstruktivismus und der in seinem Windschatten segelnden Theorie des postmodernen Narrativs verabschieden muss. Zweifellos kann alles menschliche Erkennen nie mehr sein als eine „Vorstellung“ vom Erkannten, also Konstruktion, aber es kann und muss doch immer eben auch mehr sein als bloß Konstruktion: Wenn sich unser Denken im Leben bewähren will, muss die Erkenntnis des Menschen ausnahmslos immer auch Wirklichkeitserfassung sein. Die fiktive Erzählung als eine faktuale zu begreifen, wie die Postmoderne das tut, führt in die Irre, nämlich aus der Wirklichkeit hinaus in die Welt der Erzählungen. Macht sich dieses Missverstehen von Narrativen breit, rückt Virtualität an die Stelle der Realität. Menschen verlieren sich im Meer der Erzählungen. Welcher Erzählung sollen sie folgen? Sie glauben der, die ihrer eigenen Befindlichkeit am nächsten steht.
Wenn aber die Realität ins Leben einbricht, kann die Theorie des Narrativs kein Überleben retten. Nur der ungetrübte Blick der Vernunft auf die Wirklichkeit weist den Weg, diese als solche zu erfassen, um sich in ihr zurechtzufinden. Um einem solchen Denken nach vielen Jahrzehnten postmoderner Verwirrung wieder auf die Beine zu helfen, bedarf es einer neuen Hermeneutik: einer Verstehenslehre, die Abschied nimmt von eben jenem „Abschied“, den die Postmoderne der Wahrheit bereiten wollte, weil doch alles angeblich nur eine Interpretation von Interpretationen ist, sodass für die Wahrheit der Wirklichkeit gar kein Raum bleibt.
Dieses von den Europäern ausgehende und die Amerikaner überwälzende Denken, dass sich zu einer Weltanschauung entwickelt hatte, zerschellt jetzt an den Klippen der Wirklichkeit. Die Sprachregime in Washington und Moskau halten die Fahne der Postmoderne hoch. Gerade dadurch zwingen sie die Europäer, diese Fahne einzurollen.
Renaissance des Realismus?
„Wir Europäer“ stehen unter dem heilsamen Schock der Handlungsfolgen zweier Potentaten, die anderen ihre Narrative aufzwingen wollen. Für „uns Europäer“ sind beide Narrative eine Bedrohung sondergleichen. Und eben deshalb Anlass zu einer geistigen Zeitenwende, die den Realismus als handlungsleitende Erkenntnislehre wiederentdeckt. Dass es eine Wiederentdeckung ist, muss niemanden beschämen. Denn wenn Rémi Brague recht hat, ist Europa und seine Geistesgeschichte eine Abfolge von Renaissancen: ein Auf und Ab von Vergessen und Neuentdecken, das immer zugleich ein Neu-Verstehen ist.
Ist es eine übertriebene Hoffnung, die hier zum Ausdruck gebracht wird? Wer weiß. Jedenfalls zielt diese Hoffnung nicht auf Nostalgie, sondern auf Innovation. Sie ist ohne ein Umkrempeln der Denkungsart, die in den letzten Jahrzehnten hierzulande von den Geisteswissenschaften Besitz ergriffen haben, nicht einzulösen. Sie zielt auf einen philosophischen Realismus, der nicht verkennt, dass jeder Zugriff auf die Wirklichkeit ein vom Menschen in den Grenzen seines Vorstellungsvermögens „konstruierter“ ist, also sich zwar in einer Erzählung von der Wirklichkeit niederschlägt, aber doch immer auch weit mehr ist als bloße Erzählung über die Wirklichkeit, nämlich ihre Erfassung durch Erkenntnis, die uns befähigt, etwas von dem zu erhaschen, was sich in der wirklichen Welt zuträgt. Zu denken heißt: nicht zu träumen.
Universalismus der Vernunft
Für diese Erkenntnis des Wirklichen ist eine entscheidende Voraussetzung unverzichtbar: nämlich das Bekenntnis zum Universalismus der Vernunft. So sehr der amerikanische und der europäische öffentliche Diskurs sich – wie oben angedeutet – in einer durch Divergenz ausgelösten Spannung befinden, so einig waren sie sich in den letzten Jahrzehnten in der Ablehnung der Grundüberzeugung, dass Wirklichkeit mehr ist als das, was über sie erzählt wird. Diese Einigkeit trotz aller Divergenzen kann nicht verwundern: Denn wenn die Realität in eine Vielzahl teils entgegengesetzter, teils überlappender Narrative zerbricht, kann weder von einer Einheit des Wirklichen noch von einer Einheit der Vernunft geschweige denn von einer Einheit der Menschheit gesprochen werden. Von dieser Überzeugung haben sich beide Kulturen schon länger verabschiedet. Narrative parzellieren Realität. Und wenn alle Narrative gleich gültig sind, ist der Weg zu einem Verständnis von der Einheit der Vernunft versperrt. Wenn dann, wie in den letzten Jahren hüben wie drüben geschehen, ein einzelnes Narrativ die Alleingeltung beansprucht – wie es die Ideologie der Wokeness oder ihres Zwillings, die Ideologie des Identitären, tun – und sich entschließt, diesen Alleingeltungsanspruch politisch durchzusetzen, ist der Weg zu einem Verständnis von der Einheit der Vernunft doppelt versperrt.
Wer dann zum Beispiel wie Aleksandr Dugin in Russland das Narrativ der Wokeness bekämpft – und auf diese Weise Kriege zu rechtfertigen versucht –, der tut das, ohne zu bemerken, dass er auf dem gleichen gnoseologischen Fundament wie die von ihm bekämpfte Ideologie steht. Vorgeblich im Abwehrkampf gegen die westliche Postmoderne, ist deren wirklichkeitsleugnendes Denken ihm selbst längst in Fleisch und Blut übergegangen. Er stellt einfach das eigene – im Falle Dugins: das großrussische – Narrativ gegen das fremde liberale Narrativ. Die Gründungsväter und -mütter der Postmoderne glaubten ehedem, ihre Theorie, alles sei bloß ein Narrativ – eine Interpretation und vielen anderen –, habe eine pazifizierende Wirkung, weil sie Wahrheitsansprüche entmachtet. Das Gegenteil ist der Fall: Narrative taugen nicht weniger als andere Fundamentalismen – religiöse, politische, ökonomische – als Begründung für Kriegserklärungen.
Diese Zusammenhänge zu durchschauen und mittels Vernunft eine neue Schneise in die Wirklichkeit zu schlagen: das könnte das Proprium der Europäer sein. Warum ihr Proprium? Weil sie – anders als das östlich-russische und anders als das westlich-amerikanische – in der Schatztruhe ihrer eigenen Geistesgeschichte die Überzeugung vom Universalismus der Vernunft finden. Und weil sie, wie kein anderer Kontinent, Erfahrungen gemacht haben im Gebrauch wie im Missbrauch dieser Vernunft. Um deren Ambivalenz – ihre Einheit, ihre Stärke und ihre Schwäche – weiß niemand mehr als der europäische Geist. Keine Kultur kennt den Unterschied zwischen teleologischer und instrumenteller Vernunft besser – aus eigener guter wie schrecklicher Erfahrung. Nur der Universalismus der Vernunft – eine Überzeugung, die dem Judentum entstammt – gewährleistet das Bekenntnis zur Einheit der Menschheit, und das heißt: gewährleistet das Bekenntnis zur ausnahmslosen Gleichheit in der Würde von ausnahmslos Jedem. Nun ist gerade dieser von Europa ausgehende Universalismus – angeblich Ausdruck grenzenloser Überheblichkeit – in den letzten Jahrzehnten den Europäern er- und verbittert vorgeworfen worden. Ja, er führte zu einer Art geistiger Kriegserklärung gegen Europa. Wollen wir uns vom ihm deshalb verabschieden? Diese Sorge konnte man in den letzten Jahren haben.
Europa gründet nicht auf dem Mythos von der durch den Göttervater entführten Schönheit, sondern auf der Philosophie des Logos. Dass dieser Logos Fleisch geworden ist, muss man selbst nicht glauben, um im Logos selbst Anfang und Ende aller Dinge zu erkennen. Im Logos kommen Göttliches und Menschliches zusammen. Das ist eine heute seit jeher atemberaubende Feststellung, die begeistern und empören kann. Warum empört sie heute mehr, als dass sie begeistert?
Zerbrochenes Vernunftvertrauen
Viele Gründe haben dazu geführt, dass jedes Vertrauen in die Vernunft im 20. Jahrhundert zerbrochen ist. Sie selbst hat einerseits daran großen Anteil, besonders nach Verirrungen, die seit der Französischen Revolution so oft „im Namen der Vernunft“ erfolgten. Andererseits ist es ja gerade die Einsicht in die Grenze jenes menschlichen Vermögens, das wir „Vernunft“ nennen, die unverwechselbar die Geistesgeschichte Europas geprägt hat: von den Vorsokratikern bis in unsere Gegenwart. Genuin europäisch ist es, von der „kritischen“ – der sich selbst prüfenden – Vernunft zu sprechen. Weder der Terreur der Jakobiner „im Namen der Vernunft“ noch der Holocaust der Nationalsozialisten, bewerkstelligt mittels instrumenteller Rationalität – jener Missgeburt der Vernunft, die nicht mehr nach den Zielen fragt, sondern nur noch die Wahl der Mittel in ihren Blick nimmt –, sind Gründe, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Eine pseudoreligiös vergötterte ist ebenso wenig wie eine instrumentell missbrauchte jene Vernunft, die als „kritische“ den Anspruch universaler Geltung erheben kann. Der Niedergang der Vernunft, ihr Missbrauch und ihr Verfall, haben unendliches Leid gestiftet. Von einer Einheit der Vernunft lässt sich nur sprechen, wenn Vernunft sich gleichermaßen ihrer Weite wie ihrer Grenzen bewusst bleibt. Diese Einsicht ist eine, zu der die Europäer gefunden haben. Umso weniger können wir uns herausreden, wenn wir sie vergessen. Sie ist unser eigenes Erbe.
Europa und sein Credo
Der Verfall der Vernunft mündet in Unvernunft, und das heißt: Aberglaube, Unglaube und Entmenschlichung. Anders ausgedrückt: Der Universalismus der Vernunft ist kein Narrativ, kein frommes Märchen, keine Erzählung über eine Wunschwelt, kein Konstrukt eines weltfremden Ideals, sondern eine Sichtweise, die in der Wirklichkeit – ihrem Sein – gründet. Diese Sicht der Dinge bedarf allerdings, wie übrigens alles im Leben, der Anerkennung, um Wirkung entfalten zu können. Diese Anerkennung sollten „wir Europäer“ ihr nach so vielen Jahren, in denen Erkenntnis mit Erzählung gleichgesetzt wurde, jetzt erneut zollen. Sie ist Voraussetzung dafür, dass wir wieder auf die Beine kommen. Wenn wir in die tieferen Schichten unserer Überzeugungen vordringen und uns von jenem wirklichkeitsverleugnenden Denken, das uns in die Welt der sich wechselseitig relativierenden Narrative geführt hat, verabschieden, dann gilt wieder: Es gibt neben Washington und Moskau, ein Tertium: Europa und sein Credo vom Universalismus der Würde: keine Erzählung vom Menschen, kein bloßes Narrativ der Moderne, sondern ein Begreifen dessen, was er wirklich ist. Es gibt ein „Sein“ des Menschen. Den Satz zu schreiben, heißt, den empörten Aufschrei vieler Angehöriger meines Berufsstandes im Ohr zu haben.
„Was heißt das denn genauer?“, wird man fragen. Mein Plädoyer lautet: Es gibt eine Wahrheit vom Menschen und nicht nur eine Erzählung über ihm. Narrative finden sich unzählige, jeder von uns mag eines haben. Aber Wahrheit gibt es nur im Singular der Perspektive aller Perspektiven: als Feststellung, dass menschliche Würde nicht nur ein Sammelbegriff für einzelbestimmte – positivierte – Grundrechte ist, wie heute vielfach gelehrt wird, sondern deren vorangehender Ermächtigungsgrund. „Würde“ ist mehr als die Konstruktion der Summe einzelner Grundrechte; sie ist wirklichkeitserfassende Erkenntnis des Menschen und deshalb unantastbar, weil sie wahr ist. Sie sollte der Notenschlüssel sein, der die gesamte Partitur von Politik und Jurisprudenz bestimmt.
Eine Gründung des demokratisch-deliberativen Prozesses nicht nur im Begriff, sondern in der Feststellung unantastbarer Würde ist nicht das Ende allen Streites – im Gegenteil: Sie eröffnet neue Auseinandersetzungen. Aber sie gibt allem Streit Ziel und Richtung und Grenze. Sie gibt der Gesellschaft, die ihrem Anspruch gerecht werden soll, die Form: als einer Gesellschaft, in der sich niemand – wirklich niemand – überflüssig oder nutzlos fühlen soll. Alfred Müller-Armack (1901–1978) hat eine solche Form ausgearbeitet: nicht als Narrativ, sondern als die Wirklichkeit einer Politischen Ökonomie der Arbeitsgesellschaft, die jedem Menschen, der arbeitsfähig ist, durch Hand- oder Kopfarbeit ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten erlaubt. Wäre es nicht aller Mühen wert, daran heute wieder anzuknüpfen und eine „europäische“ Politische Ökonomie zu entwickeln, die diese Vorstellung einlöst?
Christoph Böhr, geboren 1954 in Mayen, ao. Professor für Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz (Österreich).