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Gestaltung: StanHema
von Daria Belova

Die Sicht einer russischen Kriegsgegnerin im Exil

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In den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 marschierte Russland in die Ukraine ein. Ich weiß noch sehr gut, wie mir zumute war, als mich die Nachricht erreichte: „Unfassbar!“ und „Das darf nicht sein!“. In Sankt Petersburg schien der Frühling ausgebrochen, doch geschockt saßen meine Familie und ich den ganzen Tag vor dem Bildschirm und verfolgten die noch vorhandenen russischen Oppositionsmedien. Wir fühlten Schmerz, Bestürzung, unendliche Scham.

Am Abend gingen wir zu einer spontanen Kundgebung gegen den Krieg. Sie endete mit brutalen Festnahmen.

Wie alle Russen, die sich gegen den Krieg mit der Ukraine aussprechen, bin ich davon überzeugt, dass die Situation von russischen Kriegsgegnern, so schwierig sie auch sein mag, nicht annähernd mit dem zu vergleichen ist, was das ukrainische Volk gegen seinen Willen erdulden muss. Zehntausende von Zivilisten sind getötet worden, Millionen sind auf der Flucht. Häuser, ganze Städte werden zerstört. Russland ist der Aggressor, der einen Angriffskrieg führt und Kriegsverbrechen auf dem Gebiet der Ukraine begeht.

Auch in den nächsten Tagen wurde in Sankt Petersburg demonstriert, doch offensichtlich nicht laut genug. Die jahrelangen Repressionen gegen Oppositionelle zeigen Wirkung: Längst gibt es in Russland keine unabhängigen Gerichte mehr, in den Gefängnissen und bei den Ermittlungsbehörden sind Foltermethoden keine Seltenheit – Elektroschocks, Strangulierungen, Vergewaltigungen. Das ist kein vereinzeltes Systemversagen, sondern es hat System. Die Menschen sollen gedemütigt werden, man will ihnen Geständnisse abpressen und sie zur Kooperation zwingen.

 

Risiken für Protestierende

 

Die russischen Bürgerinnen und Bürger sind sich dessen sehr wohl bewusst – unabhängig von ihrer politischen Überzeugung. Wer trotzdem demonstrieren geht und Kinder hat, braucht nicht nur einen Babysitter für eine Nacht. Man braucht nahe Verwandte, die die Kinder länger betreuen, wenn die Eltern festgenommen werden und – sofern es glimpflich ausgeht – nur zu der üblichen Sanktion von fünfzehn Tagen Haft verurteilt werden.

Viele wagen es nicht, an den Kundgebungen teilzunehmen. Beispielsweise Beschäftigten des staatlichen oder öffentlichen Sektors droht bei einer Verhaftung die sofortige Entlassung. Ein entscheidendes Kriterium für die Teilnahme an einer Demonstration ist, ob man in der Lage ist, schnell wegzulaufen, um den Verhaftungen zu entgehen. So ist die Mehrheit der Antikriegsdemonstranten jung und beweglich.

Russische Künstlerin (ungenannt aus Sicherheitsgründen)
„Schwanensee“. Spitzentanz vor sich verengenden Propagandamauern. Diese Reflexion stammt von einer russischen Künstlerin, die aus Furcht vor Repressalien nicht namentlich genannt sein will.

In der Woche nach Kriegsbeginn wurde das Gesetz über „Falschinformationen“ und gegen die „Diskreditierung der russischen Armee“ verhängt, das Gefängnisstrafen von fünf bis fünfzehn Jahren vorsieht. Seitdem ist jede Mitteilung über den Krieg, die nicht mit den Erklärungen des russischen Verteidigungsministeriums übereinstimmt, strafbar. Allein die Bezeichnung des Krieges als „Krieg“ ist bekanntlich verboten.

Unter Strafe stehen selbst Losungen, die eine lange sowjetische Tradition haben und die bis heute jedes russische Kind aus seinen Schulbüchern kennt: „Kein Krieg“, „Solange es keinen Krieg gibt“, „Frieden der Welt“. Doch damit nicht genug: „Kein Faschismus“ wird als Falschinformation deklariert. Inzwischen reicht es tatsächlich aus, ein Plakat zu tragen, auf dem gar nichts steht, um verhaftet zu werden.

 

Exodus von Oppositionellen

 

Innerhalb einer Woche wurden alle unabhängigen Oppositionsmedien, die trotz aller Repressionen und Schikanen und Verhaftungen durchgehalten hatten, zerschlagen: Journalisten packten binnen Stunden ihre Koffer, um der Verfolgung zu entkommen. Sie reisten vor allem in Länder, für die sie keine Visa brauchten: Armenien, Türkei, Georgien. Seit Ende Februar und im März fand ein beispielloser Exodus nicht allein von Journalisten, sondern auch von Intellektuellen, Künstlern, YouTube-Bloggern, IT-Spezialisten, Geschäftsleuten, sogar Bankangestellten und Beamten der mittleren und unteren Ebene statt.

Es war eine panische Emigration: Menschen, deren gesamte Lebensplanung an Russland hing, entschlossen sich binnen Stunden, buchstäblich ins Nirgendwo zu gehen. Ihre Wohnungen und Arbeitsplätze kündigten sie erst jenseits der russischen Grenze. Vielen drohte Verfolgung. Nach der ersten Protestwoche wurde klar: Nach zwei Festnahmen folgen Hausdurchsuchungen, Überwachungen oder Strafverfahren aus frei erfundenen Gründen.

Schon bald erfuhr die Welt, dass in der Ukraine zivile Einrichtungen beschossen wurden: Krankenhäuser, Entbindungskliniken, ganze Wohnviertel. Gräueltaten der russischen Armee traten ans Licht. An dem Tag, an dem wir die Bilder aus Butscha sahen, gab es kein Zurück mehr: Es ist die Armee unseres Landes, die so etwas tut. Und wir in Russland essen in Restaurants und schlendern durch die Geschäfte. Die meisten glauben den Fernsehpropagandisten, die den Unsinn verbreiten, dass sich die Ukrainer selbst bombardieren, ihre eigene Bevölkerung vergewaltigen und töten würden. Wie kann es sein, dass wir das alles nicht verhindert haben? Wir sind schuldig geworden.

 

„Putin ist nicht Janukowitsch“

 

Einige meiner Generation, die heute Vierzigjährigen, haben ihr ganzes Erwachsenenleben damit verbracht, gegen Putins System zu protestieren. Unsere Erfahrung war: Egal, wie groß und bedeutend die Proteste waren – sie haben jedes Mal nur eine neue Runde repressiver Maßnahmen eingeläutet. Immer mehr Menschen wurden verhaftet. Vielleicht ist das der Grund, warum auch dieses Mal niemand große Hoffnungen in die Antikriegsdemonstrationen setzte: „Putin ist nicht Janukowitsch“, hieß es.

Diejenigen, die – wie auch ich – ins Ausland geflohen sind, wissen, dass sie unter Putins Regime nicht mehr nach Russland zurückkehren können: Jeder, der sich in Tiflis, Eriwan, Istanbul oder Berlin öffentlich gegen den Krieg ausspricht, wird in der Heimat zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Viele exilierte Intellektuelle sehen ihre Aufgabe nun darin, ihre Landsleute zu Hause über die tatsächlichen Kriegsereignisse zu informieren.

Seit Anfang März boomt das russischsprachige YouTube, es gibt unzählige Antikriegskanäle und Streamer mit Millionen von Zuschauern. Dort berichten oppositionelle Journalisten, Politiker und Menschenrechtsaktivisten aus dem Exil über den Krieg und verweisen auf die kollektive Verantwortung für den Krieg. In mehreren Ländern haben sich Initiativen gegründet, die sich für Hilfen an die Ukraine und Flüchtlingsinitiativen engagieren. Andere helfen, Beweise für Kriegsverbrechen der russischen Armee zu sichern, und unterstützen russische Kriegsgegner bei der Ausreise – versuchen, die Überbleibsel des Widerstands in Russland zu stärken.

Weil man für Georgien kein Visum benötigt, ist Tiflis zum Zentrum des russischen Widerstands im Exil geworden. In Berlin, wo sich die Einreise für russische Bürger aufgrund von Visabeschränkungen sehr viel schwieriger gestaltet, haben russische Freiwillige bis Anfang Mai wenigstens siebzig Antikriegsinitiativen und Aktionen zur Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge organisiert.

Nicht jeder, der will, kann Russland verlassen. Vielen fehlen dazu einfach die finanziellen Mittel. Das trifft für die Mehrheit der russischen Kriegsgegner zu. Dass rund siebzig, später bis achtzig Prozent der russischen Bevölkerung den Krieg unterstützen, ist ein Mythos, den ein staatliches Umfrageinstitut in die Welt gesetzt hat. Noch nie hat es echte Zahlen geliefert – weder bei Präsidentschafts- noch bei Duma-Wahlen.

Wie soll man sich in Russland auf Meinungsumfragen verlassen? Das gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass es eine Straftat darstellt, sich gegen den Krieg auszusprechen. Unabhängige Soziologen in Russland gehen davon aus, dass sich viele Befragte weigern, zu antworten, oder aus Angst vor Strafverfolgung ihre Antworten an den Erwartungen der Behörden ausrichten. Es wird kolportiert, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung würden den Krieg aktiv unterstützen, zwanzig Prozent seien dagegen, und die große Mehrheit nehme eine neutrale Position ein, die man mit „Grundsätzlich sind wir gegen jeden Krieg, aber wir kennen nicht die Wahrheit und können sowieso nichts machen“ umschreiben kann. Nachweise über das wahre Meinungsbild kann niemand beibringen.

Gewiss bleibt die aggressive Kriegspropaganda in der Breite der russischen Gesellschaft nicht ohne Wirkung. Es bleibt die Suche nach verlässlichen Quellen im Netz: Doch erfordert es inzwischen erhebliche Kenntnisse, um die Sperrungen der Informationswege zu umgehen. Damit korreliert, dass es eher junge und gebildete Menschen sind, die sich dem Einfluss der staatlichen Propaganda entziehen.

 

Übergang zum Totalitarismus

 

Seit Ende Februar ist der Übergang von der Autokratie zum Totalitarismus selbst auf den Schulhöfen sichtbar. Kinder staatlicher Einrichtungen werden in Z-Form aufgereiht und damit in die Kriegspropaganda einbezogen. An den Universitäten erhielten die Lehrkräfte einen detaillierten Fragebogen, der ihre Einstellung zur „Spezialoperation“ überprüft. Sicherheitshalber wurden die Fragen so formuliert, dass jeder weiß, auf welche Frage eine nicht genehme Antwort zur Entlassung führt. Gegen Künstler wie Oleg Kulik wurden Strafverfahren eingeleitet, weil allenthalben patriotische Verunglimpfungen unterstellt werden. Staatliche Museen wurden aufgefordert, Ausstellungen aus dem Boden zu stampfen, die die Sowjetunion und den „Großen Vaterländischen Krieg“ verherrlichen.

Kriegsgegnern in Russland, die sich entschlossen haben, zu bleiben und verdeckte Aktionen durchzuführen, berichten, dass auch für sie der Druck zunimmt. Es gibt einen aktiven Widerstand mit Flugblättern, geheimen Mailinglisten oder Antikriegs-Straßenkunst, doch münden die Aktionen der ersten Kriegswochen zunehmend in Strafverfahren. Diesen Gruppen bleibt nur die Arbeit im Untergrund.

Für uns im Exil heißt das: Unsere ganze Kraft konzentrieren wir darauf, der Ukraine und den Ukrainern, aber auch den russischen Bürgern, die gegen den Krieg sind, zu helfen und den weltweiten russischen Widerstand gegen den Krieg zu organisieren. Die russischen Antikriegsorganisationen im Exil schließen sich aktiv zusammen und bilden ein vereinigtes Netz der Antikriegsbewegungen im Ausland, die den Widerstand in Russland unterstützen. Für uns ist offensichtlich, dass Putin zwei Kriege führt – einen Krieg gegen die Ukraine und einen zweiten gegen das eigene Volk in Russland. Wir hoffen, dass er beide Kriege verliert, und dafür tun wir alles, was in unseren Kräften steht.

 

Daria Belova, geboren 1982 in Sankt Petersburg (Russland), Studium der Literatur und Philologie an der Sankt Petersburger Staatsuniversität, Journalistin und Regisseurin, Preisträgerin beim Filmfestival in Cannes in der Kategorie „Bester Kurzfilm“ 2013. Belova hat Sankt Petersburg am 4. März 2022 verlassen, wo sie wegen der Teilnahme an Antikriegsprotesten verhaftet wurde.

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