Asset-Herausgeber

Warum eine starke Industrie globalen Einfluss sichert

Asset-Herausgeber

Bitte klicken Sie hier, um die Inhalte anzuzeigen.
Oder passen Sie Ihre Cookie-Einstellungen unter Datenschutz an.

Braucht Deutschland seine Industrie noch? Siebzig Prozent der deutschen Bruttowertschöpfung werden heute vom Dienstleistungssektor getragen. Zehntausende Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe sind in den vergangenen Jahren verloren gegangen. Die Konkurrenz aus Fernost wird stärker.

Fakt ist: Die deutsche Industrie steht unter Druck. Richtig ist aber auch: Verglichen mit den europäischen Nachbarn haben Automobil-, Maschinenbau- und Elektrobranche sowie Chemische Industrie noch einen immensen Anteil an der heimischen Wirtschaftskraft – nämlich fast ein Viertel. Die wahre Bedeutung der industriellen Wirtschaftskraft erkennen wir jedoch erst, wenn wir ins Ausland blicken. Dort wird Deutschland nach wie vor als Industrieland wahrgenommen. So beeindruckend das Portfolio der anderen Wirtschaftszweige auch ist: In Peking, Neu-Delhi und São Paulo wird nach deutschen Fahrzeugen, Maschinen und industriellen Chemieprodukten gefragt. Unser Wort hat in Ländern außerhalb Europas nur so viel Gewicht, wie es die deutsche Wirtschaft für ihre Märkte hat. Wer ein einflussreiches Deutschland will, sollte deswegen an der Leistungskraft der heimischen Wirtschaft ansetzen.

Sechzig Prozent aller Mikrochips und neunzig Prozent der Halbleiter, die Technologien wie 5G oder Künstliche Intelligenz ermöglichen, werden in Taiwan hergestellt. Taiwanische Unternehmen haben einen Marktanteil von fast siebzig Prozent an der gesamten globalen Chipproduktion. Das hat Taiwan nicht nur einen Spitzenplatz im Ranking des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf eingebracht – es rangiert dort vor manchem europäischen Land –, sondern auch die Aufmerksamkeit der Großmächte. Während China versucht, mit Säbelrasseln Druck auszuüben, schlagen sich die Vereinigten Staaten offen auf die Seite des Inselstaates. Joe Biden hatte als US-Präsident sogar angekündigt, bei einem chinesischen Angriff die US-Streitkräfte in Taiwan in Stellung bringen zu wollen.

 

Machtfaktor Industrie

Was hat das mit der deutschen Wirtschaft zu tun? Das Beispiel Taiwan zeigt, dass im globalen Rennen um mächtige Verbündete vor allem ein Kriterium zählt: wirtschaftliche Leistung. Worte allein haben nur begrenzte Macht. War Industrie früher in erster Linie ein Wohlstandsfaktor nach innen, so ist sie heute auch ein Machtfaktor nach außen. Der politische Einfluss, besonders in diesen geopolitisch rauen Zeiten, hängt wesentlich von der wirtschaftlichen Bedeutung eines Landes ab. Es ist nur folgerichtig, dass die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag festhält: „Voraussetzung[en] für eine starke deutsche Außenpolitik [ist] die eigene wirtschaftliche [...] Stärke.“[1]

Ein einflussreiches Deutschland liegt umgekehrt auch im Interesse der deutschen Wirtschaft. Denn nur ein Land, das auf dem internationalen Parkett ernst genommen wird, kann Zugänge zu ausländischen Märkten erschließen, Rohstoffe sichern und heimischen Unternehmen im Ausland mehr Sichtbarkeit verleihen.

 

Der Frust ist groß

Der deutsche Wirtschaftsstandort steckt in der Krise. Die Bedingungen für die heimischen Betriebe haben sich in den letzten Jahren spürbar verschlechtert. Es sind überwiegend wirtschaftspolitisch beeinflussbare, teilweise sogar gewollte Faktoren, die sich negativ auf die Betriebe auswirken: Explodierende Energiepreise, erdrückende Steuern, hohe Arbeitskosten und lähmende bürokratische Prozesse belasten die Unternehmen – und damit die deutsche Industrie. Investitionen werden auf Eis gelegt und bislang gut bezahlte Stellen abgebaut, wie die aktuellen Entwicklungen in der Automobilindustrie zeigen. Insolvenzen nehmen zu.

Mit sinkenden Investitionen am Standort Deutschland verkleinert sich auch die industrielle Wertschöpfungsbasis. Das Netzwerk Industrie mit seinen Produzenten, Zulieferern, Kunden und Dienstleistern schrumpft, Produktivitätsfortschritte und notwendige Innovationen brechen weg.

In den vergangenen Jahren wurden die positiven Bilanzen der deutschen Wirtschaft von der chinesischen Begeisterung für hochwertige Autos, vom dynamischen US-amerikanischen Markt und von den aufstrebenden Schwellenländern gerettet. Darauf dürfen wir uns nicht mehr verlassen. Die weltweite Nachfrage stockt, zunehmender Protektionismus und Handelskonflikte bedrohen das Auslandsgeschäft. Hinzu kommt: Der deutsche Industriestandort trocknet langsam aus. Unternehmen verlagern aufgrund der hohen Kosten in Deutschland immer mehr Produktionsschritte ins Ausland. Mit dieser Abwanderung gehen Arbeitsplätze, Investitionskraft und Steueraufkommen verloren. Und die Politik? Gießt Öl ins Feuer.

Klimaschutzvorgaben nehmen ungeahnte Dimensionen an, das Lieferkettengesetz verzettelt Unternehmen in unzählige Nachweispflichten. Bürokratie wird auf- statt abgebaut. Vorgaben aus Brüssel werden nicht nur eifrig umgesetzt, sondern oft sogar von der deutschen Gesetzgebung übertroffen. Die Auswirkungen auf die Industrie werden dabei selten bedacht, Warnungen aus der Unternehmerschaft zu oft ignoriert. Der Frust ist groß. Dabei stehen Politik und Wirtschaft in einer positiven Abhängigkeit zueinander: Um gestalten zu können, brauchen die politisch Verantwortlichen prosperierende Unternehmen und die Abgaben, die sie generieren. Und um wachsen zu können, benötigen die Unternehmen eine investitionsfreundliche Wirtschaftspolitik in einem planbaren und verlässlichen Umfeld. Nur so entstehen wieder wettbewerbsfähige Produkte „made in Germany“.

 

Alte Allianzen brechen weg

Die Welt sortiert sich neu. Das setzt eine Exportwirtschaft wie die deutsche automatisch unter Stress. Keine andere fortgeschrittene Volkswirtschaft ist so stark in den Welthandel integriert wie Deutschland. Unser Handelsvolumen entspricht fast neunzig Prozent des Bruttoinlandprodukts. Wir liegen nicht nur beim Export weltweit ganz vorn, sondern auch beim Import. Der deutsche Wohlstand basiert zu einem großen Teil darauf, dass wir die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung gut genutzt haben. Jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland hängt direkt oder indirekt am Exportgeschäft, in der Industrie sogar jeder zweite. Die deutschen Unternehmen leben vom globalen Wettbewerb. Gleichzeitig profitieren deutsche Konsumenten vom breiteren und günstigen Warenangebot, das durch den internationalen Handel ermöglicht wird.

Bisher waren die USA der wichtigste Handelspartner Deutschlands. Doch der amerikanische Markt wird schwieriger und für deutsche Unternehmen unberechenbarer. Geopolitisch erleben wir zudem den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die sich bereits seit Längerem abgezeichnet hat: Schon im März 2014 überschrieb der Spiegel einen Bericht über die später gescheiterten Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) mit den Worten „Obama brennt nicht für den Freihandel“.[2]

Und auf der anderen Seite: China. Das Reich der Mitte wird selbstbewusster, wendet sich neuen Märkten zu, bildet Bündnisse ohne Europa und Amerika. Die Gewinneinbrüche deutscher Autobauer durch die sinkende Nachfrage in der Volksrepublik haben gezeigt, dass unsere Wirtschaft resilienter werden muss. Wenn alte Allianzen wegbrechen und die beiden wichtigsten Handelspartner außerhalb Europas stärker als bislang ihre eigenen Interessen verfolgen, brauchen wir eine klare Haltung – und zwar als Teil einer starken Europäischen Union.

Die deutsche Wirtschaft denkt europäisch. Unsere Unternehmen profitieren vom europäischen Binnenmarkt, von offenen Binnengrenzen und der engen wirtschaftlichen Verflechtung der EU-Mitgliedstaaten. Aber: Das Bekenntnis zu einem vereinten europäischen Kontinent schließt eine kontinuierliche Weiterentwicklung des Brüsseler Verwaltungsapparats nicht aus – im Gegenteil. Die Europäische Union und ihre Institutionen müssen schneller, effizienter und schlanker werden, um nicht weiter an Zustimmung zu verlieren.

Vorgaben der Europäischen Union entpuppen sich noch zu oft als Bremser wirtschaftlicher Entwicklung. Dazu kommt eine gefühlt chronische Uneinigkeit der nationalen Staats- und Regierungschefs: Wenn die USA und China bereits handeln, wird in der Europäischen Union noch diskutiert. Das muss besser werden.

 

Abgesänge sind fehl am Platz

Vielleicht ist es an der Zeit, europäisches Handeln neu zu denken: Europa entsteht im Tun. Es ist nicht unbedingt europäisch, ständig abzuwarten. Im Gegenteil: Deutschland hat als größte Volkswirtschaft der Europäischen Union die Verantwortung, voranzuschreiten. Europäische Lösungen sind wünschenswert, müssen aber zügiger als bisher herbeigeführt werden. Eine starke deutsche Wirtschaft liegt im Interesse Deutschlands – und Europas insgesamt. Stottert der deutsche Wirtschaftsmotor, wie es zurzeit der Fall ist, bleibt das nicht ohne Auswirkungen auf den EU-Markt und damit auf das gesamte europäische Einigungsprojekt. Die gute Nachricht ist: Wir stehen bereit. Unternehmerschaft und Kammerorganisation werden sich jedem vernünftigen Aufbruch anschließen, der die deutsche Wirtschaft voranbringen kann. Auch das weltweite Netz der Außenhandelskammern mit über 150 Standorten in 93 Ländern ist direkt ansprechbar und sofort handlungsfähig. Es steht für mutige politische Initiativen zur Verfügung. Wir benötigen einen echten, kraftvollen Aufbruch. Dabei hilft weder Herunterspielen noch Schwarzmalen, sondern Fakten müssen benannt, Lösungen aufgezeigt und die Initiative ergriffen werden. Das ist unser Weg.

Ein neues Kapitel beginnt. Das kennen wir. Von der Ölkrise über das Megaprojekt Wiedervereinigung über Strukturwandel und Digitalisierung: Der Wirtschaftsstandort Deutschland hat sich schon oft gewandelt. Auch die Verschiebung der alten geopolitischen Ordnung, wie wir sie im Moment erleben, werden wir bewältigen – sofern die Politik hellwach bleibt und der deutschen Wirtschaft samt Industrie endlich wieder den Stellenwert gibt, den sie hat. Auch im eigenen Interesse: Die Bedeutung der Industrie für den deutschen und europäischen Einfluss ist ungebrochen. Abgesänge sind fehl am Platz. Wer die deutsche Industrie aufgibt, verspielt damit auch die Stellung Deutschlands in der Welt. Das darf nicht passieren. Im Gegenteil: Der richtige Zeitpunkt, es gemeinsam wieder besser zu machen und zu neuer Stärke zu finden, ist – jetzt.


Helena Melnikov, geboren 1981 in Chirchiq (Usbekische SSR), promovierte Rechtswissenschaftlerin, Hauptgeschäftsführerin der Deutschen Industrie- und Handelskammer.

[1] Verantwortung für Deutschland. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 21. Legislaturperiode, S. 125, Zeilen 3966–3967, www.cdu.de/app/uploads/2025/04/Koalitionsvertrag-%E2%80%93-barrierefreie-Version.pdf [letzter Zugriff: 15.04.2025].
[2] Gregor Peter Schmitz: „Obama brennt nicht für den Freihandel“, in: Der Spiegel, 28.03.2014, www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/freihandelsabkommen-obama-brennt-nicht-fuer-den-freihandel-a-961206.html [letzter Zugriff: 11.04.2025].

comment-portlet