Vor einiger Zeit veröffentlichte der Jenaer Karikaturist Bernd Zeller eine Zeichnung, auf der drei Steinzeitmenschen zu sehen sind. Einer hält eine brennende Fackel in der Hand, die anderen beiden betrachten ihn mit entsetzten Gesichtern und sagen: „Feuer ist ein unkalkulierbares Risiko. Auf so einen Fortschritt können wir verzichten.“ Wenn man bedenkt, dass jährlich rund 400 Menschen in Deutschland durch die Einwirkung von Feuer ums Leben kommen, kann man sich ernsthaft fragen, ob dessen Verwendung wohl heute von den deutschen Behörden zugelassen werden würde, wenn sie jemand neu beantragen wollte. Wo stünde die Menschheit wohl, wenn es vor 800.000 Jahren Institute für Technikfolgenabschätzung gegeben hätte?
Wenn man den Tonfall mancher öffentlichen Diskussion betrachtet, kann man in der Tat den Eindruck gewinnen, als habe der Forschungs- und Zukunftspessimismus das Land fest im Griff. Blickt man auf die Diskussionen über Themen wie Fracking oder die grüne Gentechnik, drängt sich manchem die Frage auf, was man in Deutschland wohl sonst noch alles nicht mitmachen will und wie sich dies wohl dauerhaft auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und damit den Wohlstand im Land auswirken wird. Jedenfalls scheint es ins Zeitklima zu passen, wenn der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sagt: „Die Moral der Machbarkeit entspricht nicht unserer Ethik“, und die versammelte deutsche Geisteselite in der Frankfurter Paulskirche nimmt dies ungerührt zur Kenntnis, offensichtlich ohne über den Sinn dieses Satzes nachzudenken.
Traditionell fortschrittsskeptisch
Dass eine solche Haltung in Deutschland weit verbreitet ist, lässt sich auch an vielen Ergebnissen von Repräsentativumfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach erkennen. So antworteten im Mai 2011 auf die Frage „Glauben Sie, dass der technische Fortschritt mehr Sicherheit oder mehr Risiko bringt?“ nur 25 Prozent, er bringe mehr Sicherheit, während eine relative Mehrheit von 43 Prozent meinte, technischer Fortschritt bedeute vor allem ein Risiko. In derselben Umfrage stimmten nur 35 Prozent der Aussage zu, man müsse bereit sein, bestimmte Risiken bei der Anwendung von Techniken in Kauf zu nehmen, weil Risiken nie ganz auszuschließen seien, während 52 Prozent meinten, man sollte auf technische Entwicklungen lieber verzichten, wenn sie auch nur mit einem geringen Risiko für den Menschen verbunden seien. Und bei der Frage „Wofür sollte man eher Geld ausgeben, für den wissenschaftlichen Fortschritt oder die Verbesserung der sozialen Sicherheit in Deutschland?“ entschied sich eine deutliche Mehrheit von 54 zu 32 Prozent für die Verbesserung der sozialen Sicherheit, anscheinend ohne zu bedenken, dass der wissenschaftliche Fortschritt immer mehr eine wesentliche Voraussetzung dafür sein dürfte, dass die soziale Sicherheit auch in Zukunft gewährleistet werden kann.
Bemerkenswert ist bei dieser Frage, dass die Neigung, sich für die soziale Sicherheit und gegen den wissenschaftlichen Fortschritt zu entscheiden, bei den Unter-30-Jährigen am geringsten und bei den 60-jährigen und älteren Befragten am größten ist (Grafik Seite 14).
Dieses Ergebnis ist aber nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, ein Zeichen dafür, dass die nachwachsende Generation dem Fortschritt gegenüber grundsätzlich aufgeschlossener ist als die der Eltern und Großeltern, sondern es illustriert, dass Menschen, je älter sie werden, immer mehr dazu neigen, dem Wert der Sicherheit Vorrang vor anderen Werten und Zielen zu geben. Das bedeutet, dass der demografische Wandel die Tendenz zur Fortschrittsskepsis zusätzlich befördert.
Neuer Fortschrittsglaube
Dennoch spricht einiges dafür, dass das Klima des Zukunftspessimismus und der Fortschrittsfeindlichkeit in Deutschland seinen Höhepunkt überschritten hat. Darauf weisen mehrere Allensbacher Umfrageergebnisse hin. So wächst beispielsweise seit eineinhalb Jahrzehnten langsam, aber beharrlich der Anteil derjenigen an der Bevölkerung, die sagen, sie glaubten an den Fortschritt. Doch wichtiger ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass die Wurzeln der verbreiteten Zukunftsfurcht in Deutschland nicht in einem vergleichsweise kurzfristigen Zeitklima liegen, sondern viel tiefer. Bereits seit Jahrhunderten sind die Deutschen international für ihre Neigung zu emotionalen Schwankungen und zum Selbstzweifel geradezu berühmt.
Dass das Bild einer wankelmütigen Nation kein leeres Klischee ist, ließ sich noch vor wenigen Jahren sozialwissenschaftlich belegen. 1981 wurde in eine große internationale Umfrage, die „Internationale Wertestudie“, eine von dem Chicagoer Psychologen Norman Bradburn entwickelte Frage aufgenommen, bei der die Befragten mit emotionalen Extremsituationen konfrontiert und gefragt wurden, ob sie selbst in letzter Zeit solche Gefühle erlebt hätten. Es zeigte sich, dass die Deutschen nach eigenen Angaben mehr positive und auch mehr negative Gefühle erlebt hatten als alle anderen an der Untersuchung beteiligten Völker (Grafik unten).
„Himmelhoch jauchzend…“
Die Ergebnisse lasen sich wie eine Illustration des schon von Goethe beschriebenen Prinzips „Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt“. Und als der Dortmunder Statistiker Walter Krämer vor einigen Jahren auszählte, wie oft in der Berichterstattung europäischer Zeitungen Stichworte wie „BSE“, „dioxinbelastet“ oder „asbestverseucht“ vorkamen, also Begriffe, die für rein theoretisch vorhandene, tatsächlich minimale und damit für die Zeitungsleser praktisch irrelevante Gefahren stehen, stellte er fest, dass unter den vier Zeitungen, die diese Worte am häufigsten verwendeten, drei deutsche waren. Es hat also schon seinen guten Grund, dass sich in der englischen Sprache das Stichwort von der „German Angst“ eingebürgert hat.
Doch irgendwie ist die „German Angst“ in den letzten Jahren verloren gegangen. Anders als noch vor wenigen Jahren sind die Deutschen auch durch krisenhafte Entwicklungen kaum aus der Ruhe zu bringen. Ein gutes Beispiel ist das politische Klima vor der Bundestagswahl 2013. Während frühere Wahlen von erheblichen Teilen der Bevölkerung als „Schicksalswahlen“ angesehen wurden, bei denen sich die Zukunft Deutschlands entscheide, waren es 2013 gerade 13 Prozent, und dies, obwohl sich nicht eine Große Koalition zur Wiederwahl stellte, die breite Rückendeckung in den Massenmedien genoss, sondern eine christlich-liberale Regierung, die sich erheblicher Kritik in der Berichterstattung ausgesetzt sah.
„German Angst“ war gestern
Als das Allensbacher Institut im August 2013 die Frage stellte, über welche Themen sich die Bürger in der vorangegangenen Zeit mit anderen Menschen unterhalten hätten, erreichte die NSA-Abhöraffäre als das am meisten diskutierte politische Thema mit 46 Prozent gerade den fünften Rang in der Rangliste (Grafik Seite 17), 32 Prozentpunkte hinter dem Wetter. So war es auch nur folgerichtig, dass 2013 der Anteil derjenigen an der Bevölkerung, die sagten, die Verhältnisse im Land böten Anlass zur Beunruhigung, den niedrigsten Stand seit mindestens zwei Jahrzehnten (wahrscheinlich sogar wesentlich länger) erreichte.
Diese Entwicklung lässt sich nicht allein mit kurzfristigen politischen oder wirtschaftlichen Entwicklungen erklären. So reagierte die Bevölkerung beispielsweise auf die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 mit einer bis dahin ungekannten Ruhe. In früheren Jahren hatten erheblich geringere wirtschaftliche Erschütterungen eine ungleich größere Aufregung ausgelöst. Dass sich am Selbstbewusstsein der Deutschen etwas ganz Grundsätzliches verändert hat, ist in den Allensbacher Umfragen seit etwa eineinhalb Jahrzehnten erkennbar. Vielen Menschen wurde der Wandel bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 bewusst, als die Deutschen selbst am meisten darüber überrascht waren, mit welcher Fröhlichkeit von Zehntausenden in den Fußballstadien das Deutschlandlied gesungen wurde. Der Kontrast zu früheren Zeiten hätte kaum deutlicher sein können: Noch bei der Fußballweltmeisterschaft 1974 war das Publikum regelmäßig verstummt, wenn die Nationalhymne erklang.
Es lässt sich zeigen, dass diese Entwicklung symptomatisch für eine zunehmende Identifizierung der Deutschen mit ihrem Gemeinwesen ist. Abseits der an der Oberfläche geführten Diskussionen um Politikverdrossenheit hat sich, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, eine Verankerung vieler demokratischer Prinzipien vollzogen: Die Akzeptanz demokratischer Entscheidungen ist gewachsen, das bürgerliche Engagement ebenfalls. Man kann die Bedeutung des Umstandes, dass die Deutschen – zumindest im Westen – zum ersten Mal seit langer Zeit eine Phase von sechzig Jahren in Frieden und Wohlstand erleben durften, wahrscheinlich kaum überschätzen. Der schottische Sozialforscher Richard Rose hat einmal gesagt, ein Volk benötige ein Jahrhundert, um die Folgen einer verheerenden Niederlage zu verarbeiten. Es sieht so aus, als habe er recht, und die Deutschen haben inzwischen einen erheblichen Teil des Weges zurückgelegt. Ein Volk, das mit sich selbst weitgehend im Reinen ist, ist nicht leicht zu erschüttern, und es muss auch weniger Angst vor der Zukunft haben – trotz aller objektiv vorhandenen Risiken. Das bedeutet, dass man der Zukunft des Pessimismus pessimistisch gegenüberstehen darf.
Thomas Petersen, geboren 1968 in Hamburg, Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach.
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