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Ostdeutsch als politisches Gefühl

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Nein, „ostdeutsch“ ist kein rein topographischer Begriff. Es steckt mehr in ihm als eine bloße Ortsangabe, immer mehr möchte man sagen: Mit jedem Jahr, das seit der deutsch­deutschen Wiedervereinigung vergeht, wächst der identitätsstiftende Gehalt des Begriffes an. Zunächst und zuvorderst: Ostdeutsch ist ein Wundbegriff. Er dient zur Bezeichnung von Räumen und Menschen, die von der Geschichte verletzt und als Verlierer dargestellt worden sind. Der fundamentale Zusammenbruch des sowjetisch-sozialistischen Weltbildes Ende der 1980er-Jahre hat den amerikanisch-kapitalistischen Gegenentwurf des Westens als siegreich auftrumpfen lassen. Die Wunden, die nicht nur durch die Offenbarung materieller Rückständigkeit und durch die Einsicht in verpasste Lebenschancen, sondern auch durch manchen Hochmut und die Verachtung der selbstsicheren Sieger geschlagen worden sind und weiter geschlagen werden, sind tief und liegen nach wie vor offen. Nur oberflächlich hat ein Firnis aus Infrastrukturprogrammen und Rentenangleichung sie überdecken können.

Eine zweite, mitunter missachtete Prägung ist die der Widerständigkeit. Ostdeutsch zu sein und zu fühlen, heißt, zum Jahr 1990 nicht „Wiedervereinigung“, sondern „Wende“ zu sagen. Heißt, die eigene Bereitschaft zur fundamentalen Veränderung als herausragende Leistung zu empfinden. Auch wenn es bekanntlich nur relativ wenige Ostdeutsche waren, die die Friedliche Revolution aktiv betrieben und dadurch ihr eigenes Schicksal aufs Spiel gesetzt haben – ihr Könnensbewusstsein strahlt auf all jene ab, die damals ihr Leben in alltäglicher Widerständigkeit geführt haben und heute den Begriff „ostdeutsch“ auf sich beziehen. Im rhetorischen Regelfall käme jetzt als psychopathetischer Schlusspunkt der Verweis auf die besondere ostdeutsche „Lebensleistung“, die es „endlich“ anzuerkennen gelte.

Mit diesem kleinen Flammenwort hat sich die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft in den letzten Jahren die Herzen gewärmt und damit gleichzeitig versäumt, auf die eigentliche Brisanz des Begriffs „ostdeutsch“ einzugehen: Denn neben der historischen Prägung durch Wunde und Widerstand besitzt er auch ein sehr gegenwärtiges politisches Potenzial.

Ostdeutsch zu sein und zu fühlen, das bedeutet Mitte der 2020er-Jahre, das im Westen bis eben noch als unzertrennlich angesehene Geschwisterpaar Demokratie und Liberalismus auch kritisch betrachten zu können. Bedeutet, nachweisen zu wollen, dass in einer Demokratie nicht nur die konservative Mitte, sondern auch eine verfassungstreue Rechte ihre Berechtigung hat. Bedeutet Stolz auf die Eigenheit durch Misstrauen an der Gegenwart.

Dieser spezifische „Oststolz“ ist es, der das Ansehen von Institutionen – seien es Verwaltungsgerichte, öffentlich-rechtliche Anstalten oder Virologen – burschikos in Zweifel zieht und ihre Autorität durch eigene Ansichten herausfordert. Als Quasikorrektiv zu einer sich stetig weiter verrechtlichenden Administration und einer sich diskursiv in selbst angelegten Morallabyrinthen verlaufenden Medienlandschaft könnte dieses Misstrauen durchaus eine produktive Kraft entwickeln. Zumeist aber ist mit den eigenen Ansichten ein unnachgiebiger, mitunter rachsüchtiger Zerstörungswille verbunden, der die Krise mit Vergeltung statt mit Reform bekämpfen will.

Ostdeutsch zu fühlen, das bedeutet daher dann im direkten Vergleich mit Westdeutsch-Sein immer häufiger auch, sich Veränderungen schamloser zu wünschen und radikaler vorstellen zu können. Daher wird dann zunehmend auch die auf den kompromissbereiten Parlamentarismus angelegte konsensorientierte Form der bundesrepublikanischen Demokratie infrage gestellt – wichtige Differenzierung: Nicht die Demokratie an sich wird infrage gestellt, sondern die linksliberale Vorstellung von ihr.

 

Umkehrung der politischen Vorzeichen

Unabhängig von normativen Urteilen über die Wünschbarkeit einer Demokratie, die sich in erster Linie als „Herrschaft der Mehrheit“ definiert, ist jedoch klar, dass die Präferenz einer Mehrheit der Ostdeutschen für diesen Politikansatz keine Abweichung ist, sondern dem internationalen Zeitgeist entspricht. Man kann sich kaum am Rande des Weltgeschehens wähnen, wenn der zweithöchste Repräsentant der größten Macht der Welt, US-Vizepräsident J. D. Vance, 2025 zur Münchner Sicherheitskonferenz reist, um dort entschieden für die Achtung der „Stimme des Volkes“ einzutreten. Vielmehr sind Ostdeutsche Teil einer die gesamte westliche Welt aufrührenden politischen Bugwelle, die jenes neonationalistische Paradigma vorantreibt, das sich zu liberalen Werten abgrenzt, politische Vorzeichen umkehrt und am Ende dieses Jahrzehnts durchaus als siegreich herausstellen könnte.

Damit wiederholt sich auf eigenartige, weil spiegelverkehrte Weise etwas von dem, was in Deutschland vor 35 Jahren geschah: Eine Ideologie bezwingt die andere – nur dass es damals das liberale entgrenzende Freiheitsversprechen war, das siegte, und es heute das Paradigma der rechtskonservativen Begrenzung ist, das politisch auf unterschiedlichen Ebenen erfolgreich ist.

 

Neue, volkspsychologische Dimension

Noch heute wird den Ostdeutschen eine Hilfsbedürftigkeit unterstellt, der mit Solidaritätsbeiträgen und Sonderbudgets für die politische Bildung begegnet werden muss. Die ökonomische Seite dieser Hilfsbedürftigkeit hat in den letzten Jahren eine neue, volkspsychologische Dimension bekommen: Man diagnostiziert eine anhaltende Enttäuschung über die unerfüllten Versprechen der Wiedervereinigung, einen Missmut darüber, nach wie vor nicht zur Norm zu gehören, sondern die bleibende Abweichung zu sein. Daraus wird auf identitätspolitischer Ebene der Schluss gezogen, dass es mehr Ostdeutsche in Schlüsselpositionen oder mehr Einbeziehung ostdeutscher Erfahrungen in die bundesrepublikanische Geschichtsschreibung geben müsse. Wäre es aber nicht auch denkbar, das ostdeutsche Gefühl politisch ernster zu nehmen und daraus konstruktive Schlüsse für Deutschlands künftigen Begriff des Politischen sowie für seine Positionierung im zunehmend rauer werdenden geopolitischen Gefüge des 21. Jahrhunderts zu ziehen? Dafür gibt es drei Möglichkeiten.

Erstens: Arbeit als Brückenchiffre. Mit dem ostdeutschen Bewusstsein lässt sich heute einerseits eine Skepsis gegenüber bürgerlichen Eliten und Bürgerlichkeit als sozialem Konzept in Verbindung bringen. Andererseits schlummert in ihm aber auch eine stillgestellte, gerade möglicherweise wieder politisch vorteilhafte Wertschätzung für den Begriff der Arbeit. Denn während im diskursprägenden Sprachgebrauch bis eben noch die Abschaffung des „Arbeiters im klassischen Sinn“ als rhetorisches Kennzeichen eines progressiven Weltbildes eingesetzt wurde, ist nun plötzlich vielerorts in der politischen Semantik wieder eine Rückbesinnung auf die „working class“ spürbar. Und damit die Hoffnung, Nähe zu den realen Problemen der Menschen ausdrücken zu können. Dabei geht es weniger um eine folklorehafte Reanimierung überkommener Produktionsweisen als um den Brückenschlag in ein stimmstarkes Milieu, das der verantwortungsbewussten politischen Repräsentation zu entschwinden droht.

Die Ansprache der Arbeit und der arbeitenden Menschen dient als Chiffre für Nähe und Vertrauen, für Gemeinsinn und gesunden Menschenverstand. Arbeit ist der Gegenbegriff zu Bürokratie und Moral, zu Klimaabkommen und Hinterzimmer. Wie wenig das der Komplexität und Anforderung einer Industriegesellschaft im 21. Jahrhundert – als welche Deutschland trotz aller prophezeiten Deindustrialisierung nach wie vor erachtet wird – entspricht, ist hier nicht zu diskutieren.

Es geht vielmehr um die Frage, ob das ostdeutsche Gefühl im politischen Wert der Nähe zum Ausdruck kommen könnte. Und damit die identitätsstiftende Prägung einer untergegangenen Arbeitergesellschaft wenn nicht auf wirtschaftlicher, so doch auf politischer Ebene konstruktiv genutzt würde. Dass ein Ost-West-Brückenschlag auf Basis eines revitalisierten Begriffs „des Arbeiters“ gelingen könnte, liegt auch daran, dass diese bestimmte, historisch gewachsene kulturelle, aber eben auch politisch ausdrucksstarke Identität ebenfalls in Westdeutschland geradezu danach lechzt, wieder aktiv politisch adressiert zu werden. Ein Blick auf die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl zeigt, dass die Vernachlässigung dieses Milieus beispielsweise im westdeutschen Ruhrgebiet nicht minder explosiven politischen Sprengstoff birgt als in sozialstrukturell vergleichbaren ostdeutschen Gegenden wie der sächsischen Lausitz.

Zweitens: das Motiv der Neuen Ländlichkeit als Spaltungsausweg. Die DDR war geprägt von einer ländlichen, kleinstädtischen Kultur. In gewisser Hinsicht entsprach sie damit dem Kernbewusstsein Deutschlands als föderalem Flickenteppich aus strukturellen Ungleichzeitigkeiten besser als die neue, über die Jahre immer stärker auf die Bundesebene ausgerichtete Berliner Republik.

Das ostdeutsche Gefühl heute trägt dem durch einen Hang zum Handfesten und Regionalen, mitunter auch zu Ostalgischem Rechnung. Dieser Hang findet Ausdruck in der oft beschriebenen Skepsis gegenüber Stadt und Städtern, die sich gut als Ressentiment im politischen Wettbewerb einsetzen lässt. Wahrscheinlich sind viele der richtungsweisenden politischen Entscheidungen der letzten Jahre (Brexit, Rechtsruck in Europa, die erneute Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten et cetera) am Ende vor allem als allergische Reaktion des Landes gegen Stadt und Städter zu lesen.

In diesem Zusammenhang böte eine politische Integration des ostdeutschen Gefühls die Möglichkeit, Ländlichkeit als neues programmatisches Konzept einzuführen, um Spaltungsängste und Wertehierarchien abzumildern. Die semantische Assoziation von Ministerien mit dem „Heimat“-Begriff lässt sich in diesem Sinne als Vorbereitung einer neu anbindenden Initiative lesen, die aus peripheren Einwohnern teilnehmende Bürger machen will. Das Land als Raum, in dem Verantwortungsgefühl auf natürliche Weise entsteht, wäre so kein blasser Gegensatz zur Stadt mehr, sondern ein autarker Einsatzort der basisdemokratischen Alltagsarbeit. Die ostdeutsche Inspiration hätte somit eine realrepublikanische Aufladung des Politikbegriffs zur Folge. Der kommunale Sinn als stolzer Ausgangspunkt für ein neues politisches Bewusstsein könnte somit ein wiedervereinigendes Mittel gegen die Spaltung Deutschlands sein.

Drittens: widerständiges Sicherheitsbedürfnis. Francis Fukuyamas Ende der Geschichte war eine amerikanische Idee, allerdings in erster Linie eine spezifisch westdeutsche Realität. Während sich die Westdeutschen in einem bequemen Zustand permanenter Gegenwart einrichten konnten, hat die Geschichte, also der Wandel, für ihre ostdeutschen Mitbürger nie aufgehört. Folglich sind Ostdeutsche von einem viel stärkeren Gefühl der Unsicherheit geprägt beziehungsweise von der Erkenntnis, dass das, was ihnen heute gehört, morgen vielleicht nicht mehr da sein könnte, und dass sie, wenn sie es behalten wollen, bereit sein müssen, Widerstand zu leisten. Die Westdeutschen stehen nun zum ersten Mal in ihrer Geschichte vor der Herausforderung, zu definieren, was sie für verteidigungswürdig halten, und zu entscheiden, wie diese Verteidigung organisiert werden soll.

So teilen Ost- und Westdeutschland ebenso wie Ost- und Westeuropa insgesamt momentan ein tiefsitzendes Sicherheitsbedürfnis. Dabei haben die Ostdeutschen ihr Bedürfnis nach Sicherheit eher aus der vermeintlichen Bedrohung durch den überbordendenden Einfluss Amerikas und seines materialistisch-kapitalistischen Wirtschaftssystems hergeleitet als aus der Gefahr, die von revisionistischen Autokratien wie Russland und China ausgeht. Das unterscheidet sie grundsätzlich von ihren westdeutschen Mitbürgern, aber bezeichnenderweise auch von ihren osteuropäischen Nachbarn, die aufgrund ihrer Erfahrung mit russischer Unterdrückung weitaus moskaukritischer eingestellt sind.

Jedoch könnte die mögliche Neujustierung des transatlantischen Verhältnisses in Anbetracht der rücksichtslosen Praxis einer Politik des nationalen Eigensinns durch Donald Trump zu einer Nivellierung dieser Differenzen in der Wahrnehmung externer Bedrohungen führen. Der gemeinsame Nenner könnte dann sehr wohl die Schaffung eines nach außen robust auftretenden, weil eigenständig wehrhaften Europa sein.

 

Ideengeschichtliches Laboratorium

Wenn es stimmt, dass Identität erst dann wirklich zum Vorschein kommt, wenn sie gestört wird, dann hat die ostdeutsche Identität vor der westdeutschen einen fünfunddreißigjährigen Vorsprung. Denn erst jetzt, im Angesicht von innerer und äußerer Bedrohung seines liberalen Schlüsselparadigmas, muss sich das westdeutsch geprägte Deutschland die Frage stellen, was es jenseits von moralischer Öffnung und wirtschaftlicher Produktionskraft zum Inhalt hat. Während der ostdeutsche Bevölkerungsteil verschiedene Gemeinsamkeiten in wirtschaftlicher, historischer und kultureller Prägung kennt, fehlt dem westdeutschen Bewusstsein die eigenständige Anbindung jenseits fataler Geschichte und internationaler Abhängigkeit.

Das ostdeutsche Gefühl in seiner produktiven politischen Integration könnte über die Brückenchiffren „Arbeit“, „Neue Ländlichkeit“ und „Widerständigkeit“ eine kulturelle Leerstelle füllen. Es könnte jenen geistigen Impuls geben, der aus der geografischen Einheit Deutschland eine erzählfreudige, selbstbewusste und wehrhafte Nation macht.

Ostdeutsch als politisches Gefühl ernst zu nehmen, würde dann heißen, darin das Potenzial eines ideengeschichtlichen Laboratoriums zu sehen. Eines Laboratoriums, in dem es „brodelt, riecht, gelegentlich auch stinkt“ (Sigmar Gabriel), aber in dem man als risikobereite Vorhut an einem neuen Verhältnis von Demokratie und Liberalismus arbeitet. Mit Blick auf die politischen Entwicklungen weltweit könnte ein Ziel dieser Arbeit sein, sich mit einer verantwortungsbewussten Robustheit an die Reform der deutschen demokratischen Kultur zu machen. Um die Angriffe der Illiberalen zu überstehen, brauchen wir ein erstarkendes Bewusstsein von dem, was Deutschlands Freiheit uns kosten würde.


Lukas Schmelter, geboren 1994 in München, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Doktorand am Lehrstuhl für Neueste Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Simon Strauß, geboren 1988 in Berlin, Schriftsteller, Theaterkritiker und Journalist.

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