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von M. Murat Erdogan

Die politische Dimension der syrischen Flüchtlingskrise in der Türkei

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Die Türkei ist ein Land, das verschiedene Formen von Migration kennt. So haben in der Türkei mit ihren 81 Millionen Einwohnern in den vergangenen fünf Jahren jährlich durchschnittlich 2,2 Millionen Menschen ihren Wohnort gewechselt. Zugleich verzeichnet die Türkei eine bedeutende Emigrationsrate. Derzeit leben in den westeuropäischen Ländern über sechs Millionen Türkeistämmige, die meisten davon in Deutschland.


Bis in die 2000er­Jahre hinein hat die Türkei im Rahmen internationaler Migrationsbewegungen oftmals die Funktion eines Transitlandes innegehabt. In den Jahren danach konnte man beobachten, dass sich die Türkei sowohl bei der regulären als auch bei der irregulären Migration zu einem Zielland für Flüchtlinge entwickelte.


Ab Dezember 1999 haben im Rahmen der Bestrebungen der Türkei zum Beitritt in die Europäische Union (EU) beide Partner gemeinsame Anstrengungen unternommen, um den internationalen Migrationsverkehr in die Türkei mit den Anforderungen der EU in Einklang zu bringen. In den 2000er­Jahren wurde ein modernes Migrationsmanagementsystem entwickelt, das Raum für eine Kooperation von EU und Türkei bot und den Anforderungen der EU-Rechtsvorschriften entsprach. Als Resultat dieses Prozesses wurde 2013 das türkische Ausländer- und internationale Schutzgesetz verabschiedet und im darauffolgenden Jahr die Generaldirektion für Migrationsmanagement gegründet.


Obwohl die Türkei die Genfer Konvention von 1951 unterzeichnet hat und die Anforderungen eines sicheren Ziellandes erfüllt, wird bis heute durch einen „geografischen Vorbehalt“ nur Europäern die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nicht-europäische Flüchtlinge erhalten lediglich den Status eines „bedingten Flüchtlings“. Die Türkei gewährt Syrern sowie anderen Nicht-Europäern daher nur einen vorübergehenden Schutz.


Außergewöhnlicher Menschenzustrom


Als die Krise in Syrien im März 2011 innerhalb kürzester Zeit in einen blutigen Bürgerkrieg ausartete, sah sich die Türkei einem in ihrer Geschichte noch nie dagewesenen, außergewöhnlichen Menschenzustrom gegenüber. Die Gesamtzahl der Flüchtlinge in der Türkei lag 2011 bei 58.018. Zwischen dem 29. April 2011 und dem Jahresende 2011 flohen 14.237 Syrer in die Türkei. Ende 2012 lag die Zahl der in die Türkei geflüchteten Syrer bei insgesamt 225.000. Bis Ende 2013 stieg sie auf 1,5 Millionen an.


Im Oktober 2018 verzeichnete die Türkei eine Flüchtlingszahl von insgesamt mehr als 4,1 Millionen, nicht zu vergessen die eineinhalb bis zwei Millionen syrischen und nichtsyrischen Flüchtlinge, die 2014 und 2015 über die Türkei Europa erreicht haben. Offiziellen Angaben vom 18. Oktober 2018 zufolge leben aktuell 3.587.930 Syrer und über 500.000 Flüchtlinge, die mehrheitlich aus dem Irak und Afghanistan gekommen sind, in der Türkei.


Die türkische Regierung hat während dieser Zeit Anstrengungen unternommen, das Flüchtlingsproblem „an der Quelle“ zu lösen, da man die Ursache mehr bei der Regierung in Damaskus als in der Konzentration der Flüchtlinge im eigenen Land gesehen hat. So wurden die Flüchtlinge in der Türkei während der Syrienkrise nur als ein sekundäres Problem betrachtet und ihre Migration als ein vorübergehendes Ereignis angesehen. Es herrschte in der Türkei die Vorstellung vor, dass die Flüchtlinge ohnehin zurückkehren würden, wenn der Krieg in Syrien beendet sei oder ein Regimewechsel stattgefunden habe.


Zugleich sah die Türkei in dem Flüchtlingszustrom ein Instrument für die möglichst schnelle Beseitigung des Regimes in Damaskus. Es gelang ihr sogar, allen voran die EU, aber auch andere Länder auf ihre Seite zu ziehen, und sie richtete ihre Anstrengungen in erster Linie darauf, das Regime von Baschar al-Assad zu stürzen. Außenminister Ahmet Davutoğlu sagte im Juli 2012 über die sich in der Türkei aufhaltenden 67.000 Syrer: „Die Zahl 67.000 ist für die Türkei eine sehr große Last; wenn sie 100.000 überschreiten sollte, werden wir de facto Maßnahmen ergreifen.“ Doch mit der Entstehung des Islamischen Staates (IS) und aufgrund der Unterstützung Assads durch Russland und den Iran änderte sich wider Erwarten die Situation, und das Regime von Assad spürte den internationalen Druck, der federführend von der Türkei ausging, immer weniger.


Flüchtlinge zunächst kein Thema


In der Türkei war die Aufnahme syrischer und anderer Flüchtlinge kein wichtiges innenpolitisches Thema. Noch heute kritisieren die Oppositionsparteien Recep Tayyip Erdoğan und die AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi', Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) nicht der Flüchtlinge wegen, sondern dafür, dass er sich nicht mit Assad getroffen hat. Ihnen zufolge würde sich das Problem von selbst lösen, wenn man mit dem Regime in Syrien in Dialog träte. Deshalb waren die Flüchtlinge selbst nach 2011 bei fast keiner Wahl in der Türkei ein bedeutender Faktor. Selbst in Regionen wie Kilis, Şanlıurfa, Hatay oder Gaziantep, wo eine große Zahl von Syrern lebt, beeinflusste dies kaum die politischen Präferenzen. Dafür gibt es mehrere Gründe:


- Auch die türkische Bevölkerung glaubt, dass das Thema nur ein vorübergehendes ist.

- Die allgemeine Armut in der Gesellschaft und die damit einhergehende Solidarität unter Armen vereinfachte die Akzeptanz von Flüchtlingen.

- Eine äußerst wichtige Rolle spielte, dass Erdoğan das Thema als Frage der Solidarität unter islamischen Glaubensbrüdern („Ansār­Muhacir“) behandelte. Auch sein Führungsstil in dieser Frage ist von Bedeutung.

- Die Angst der Einheimischen vor einem Verlust ihrer Arbeitsplätze und einer Zunahme der Arbeitslosigkeit durch diese Massenzuwanderung hat sich kaum bewahrheitet – und das, obwohl gegenwärtig jeder dritte Syrer (32 Prozent) berufstätig ist.

- Die Sicherheitsbedenken wegen der Zuwanderung waren relativ gering.

- Die Befürchtung, dass es wegen der Flüchtlinge zu Einschränkungen bei den öffentlichen Dienstleistungen kommen würde, hat sich außer in den Städten in den Grenzgebieten ebenfalls nicht als relevantes Problem erwiesen.


Aufgrund dieser Faktoren sind die Flüchtlinge bis 2017 in politischer Hinsicht kaum zu einem nennenswerten Thema geworden. In der Türkei gehen heute 620.000 syrische Kinder zur Schule, eine Million Syrer geht einer Arbeit nach, und im Schnitt werden am Tag 400 syrische Kinder geboren. Mehr als 360.000 syrische Kinder sind zwischen 2011 und 2018 in der Türkei zur Welt gekommen. Doch auch wenn die Harmonie fortbesteht, hat es 2018 wichtige Veränderungen gegeben.


Die Politik schenkt der Thematik nun größere Aufmerksamkeit. Bis Ende 2017 betrachtete die AKP-Regierung die Syrer aus dem Blickwinkel einer äußerst emotionalen religiösen Bruderschaft. Angesichts der wachsenden Unruhe und Sorge in der Gesellschaft schlug sie dann – wenn auch eher rhetorisch als real – einen Kurswechsel ein. So verkündete Erdoğan anlässlich der Anfang 2018 von der Türkei initiierten Militäroffensive auf das syrische Afrin: „Diese Operation dient nicht nur dem Kampf gegen den Terror, sondern auch dazu, dass wir unsere syrischen Brüder und Schwestern wieder zurückschicken können.“ Noch einen Schritt weiter ging Erdoğan bei seinen Reden im türkischen Grenzgebiet im Vorfeld der Wahlen vom 24. Juni 2018. So äußerte er bei seinem Auftritt in Şanlıurfa gegenüber der einheimischen Bevölkerung, die Türkei habe bei einer Bevölkerung von nur zwei Millionen im Grenzgebiet über 500.000 Syrer aufgenommen, und versprach den Beginn der Rückführung der Flüchtlinge nach den Wahlen. Auf diese Weise konnte Erdoğan mit Erfolg verhindern, dass sich die Opposition dieses Thema zu eigen machte.


Obwohl die Zahl der Flüchtlinge auf über vier Millionen hochgeschnellt ist, steuert die Türkei diesen Prozess bislang erfolgreich. Sie übernimmt nicht nur finanzielle Lasten, sondern geht auch soziale, ökonomische und Sicherheitsrisiken ein. Dabei wird sie von der internationalen Gemeinschaft weder finanziell noch politisch ausreichend unterstützt. Berechtigterweise versucht die Türkei, die Flüchtlingsthematik allerorts als außenpolitisches Instrument für sich zu nutzen: So versucht man, die mit Stolz und Erfolg geführte Flüchtlingspolitik als „soft power“ zu nutzen, um die Unterstützung der globalen Mächte zu gewinnen. In den Beziehungen zur EU wird die Flüchtlingsthematik als Trumpf ausgespielt. Darüber hinaus legt man Wert darauf, dass das in Syrien zur Neugründung vorgesehene System mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmt. Bei den Bemühungen um eine „freiwillige Rückkehr“ möchte die Türkei eine Vorreiterrolle übernehmen. Schließlich legt Ankara auch Wert darauf, bei dieser Thematik mit Russland und dem Iran zusammenzuarbeiten.


Schwindende gesellschaftliche Akzeptanz


Während die Flüchtlingspolitik in der Außenpolitik zusehends zu einem wichtigen Instrument geworden ist, wird die Situation in der Innenpolitik von Tag zu Tag problematischer. Dies hat mit der gesellschaftlichen Akzeptanz der Flüchtlinge zu tun, die von Beginn an ebenso groß wie zerbrechlich war. Insbesondere in Städten mit einem starken Flüchtlingsanteil kommt es verstärkt zu Konflikten.


Entgegen der These, dass Gruppen von großer sozialer und kultureller Nähe ohne Probleme miteinander leben könnten, lässt sich in der Türkei derzeit etwas anderes beobachten: Zwischen Türken und Syrern klafft eine große soziale Distanz, obwohl man angenommen hatte, dass Türken und Syrer sich nicht nur in religiöser, konfessioneller und kultureller, sondern auch in ethnischer Hinsicht ähnlich seien.


Auf die im Rahmen des „Syrer-­Barometers“ gestellte Frage „Gibt es kulturelle Gemeinsamkeiten zwischen Türken und Syrern?“ antworten etwa 56 Prozent der Syrer mit „Ja“. Die türkischen Teilnehmer widersprechen, indem sie zu achtzig Prozent mit „Nein“ antworten. Vielsagend ist, dass die in den Grenzgebieten beheimateten türkischen Staatsbürger, bei denen man größere kulturelle Nähe zu den Syrern hätte erwarten können, zu einem überdurchschnittlich hohen Anteil mit „Nein“ antworten. Dies deutet auf eine bestimmte Wahrnehmung und auf Ablehnung hin. Bislang hat die türkische Gesellschaft hinter den Syrern gestanden. Doch mit wachsender Dauer und zunehmenden Verzögerungen bei der öffentlichen Versorgung beginnt sie, ihre Unterstützung und ihre Sympathien zu entziehen. Daran lässt sich ablesen, dass nicht kulturelle Nähe, sondern zahlenmäßige Proportionen ausschlaggebend sind. Wenngleich die Entwicklungen und Befunde mancher Forschungsarbeiten zeigen, dass über achtzig Prozent der in der Türkei lebenden Syrer das Land nicht verlassen werden, scheint die türkische Gesellschaft nicht bereit für eine gemeinsame Zukunft zu sein. Die vom türkischen Staat verfolgte Politik bezüglich der Staatsbürgerschaft trifft zum Beispiel auf heftigen Widerspruch. Innerhalb der vergangenen drei Jahre erhielten etwa 80.000 bis 100.000 Syrer die türkische Staatsbürgerschaft. Massive Einwände werden auch innerhalb Erdoğans Partei vorgebracht. Sollten sich die bislang auf einem minimalen Niveau verbleibenden Reibungen zu Konflikten ausweiten, könnte sich die ohnehin zerbrechliche gesellschaftliche Akzeptanz schnell auflösen.


Übersetzung aus dem Türkischen: Medine Yilmaz, Erfurt


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M. Murat Erdoğan, geboren 1964 in Erciş (Türkei), Direktor des Forschungszentrums für Migration und Integration TAGU, Türkisch-Deutsche Universität, Istanbul.


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