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Wandlungen von Bürgerlichkeit in Diktaturen

Ingo Loose / Christian Rau / Michael Schwartz (Hrsg.): Bürgerlichkeit in Diktaturen. Perspektiven auf die Kulturgeschichte europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Metropol Verlag, Berlin 2024, 260 Seiten, 24,00 Euro.

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„Ich wollte, wir brächten heute zuwege, die alte Haut des bürgerlichen Charakters abzustreifen, um Bürger zu werden. Ich will kein Charakter sein, ich wünschte, ein Bürger zu sein. Nichts weiter. Aber auch nichts weniger als das.“ Dolf Sternberger, Mitbegründer der deutschen Politikwissenschaft nach 1945 und Urheber des Begriffs „Verfassungspatriotismus“, bekannte sich 1949 in einem Aufsatz für die Zeitschrift Die Wandlung zu einem positiv konnotierten Begriff politischer Bürgerlichkeit. Die Bürgerlichkeit, an die Sternberger dachte, war untrennbar verbunden mit einer nach liberalen Grundsätzen gestalteten Verfassungsordnung. „Das Vaterland“, schrieb Sternberger an anderer Stelle („Begriff des Vaterlandes“, in: Staatsfreundschaft, 1947) unter Anwendung eines heute vielfach verpönten Begriffes, könne Akzeptanz durch seine Bürger nur beanspruchen, wenn es deren Freiheit und Rechte garantiere. „Es gibt kein Vaterland in der Despotie.“ Und: „Nur eine bürgerliche Verfassung kann eine vaterländische Verfassung sein.“ Bei Sternbergers Einlassung noch vor Gründung der Bundesrepublik handelte es sich nicht um eine neutrale Zustandsbeschreibung, sondern um ein wertegebundenes Bekenntnis zum freiheitlichen Verfassungsstaat. Dieser wird gegenwärtig von den politischen Rändern her in einem Ausmaß attackiert, wie man es seit 1990 nicht mehr für möglich gehalten hätte.

Vor diesem Hintergrund ist es lohnend, sich mit dem Sammelband Bürgerlichkeit in Diktaturen. Perspektiven auf die Kulturgeschichte europäischer Gesellschaften im 20. Jahrhundert zu beschäftigen. Haben Restbestände eines bürgerlichen Selbstverständnisses die politischen Zäsuren in Deutschland und Europa im 20. Jahrhundert überlebt und zu dem historischen Umbruch 1989/90 beigetragen? Gab es „bürgerlich“ motivierten Widerstand gegen die sozialistische Umformung der Gesellschaften in der DDR und in Mitteleuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs? Waren gesellschaftliche Räume vorhanden, in denen eine Bürgerlichkeit gepflegt wurde, die 1990 anschlussfähig für die Ausübung zivilgesellschaftlicher Praktiken im Sinne eines Engagements für die Demokratie und eine freiheitliche Gesellschaftsordnung war?

 

Linksliberales Milieu in Polen

Eindeutige Antworten auf diese Fragen enthält der hier zu besprechende Band nur wenige. Am klarsten äußerst sich Agnes Arndt, die das linksliberale bürgerliche Milieu in Polen, verkörpert durch die Angehörigen der inteligencja, als „Schlüsselformation“ moderner europäischer Leistungsgesellschaften beschreibt. Arndt schildert, wie sich zunächst in den 1950er-Jahren die Kinder der bildungsbürgerlichen Elite in Warschau und anderen Städten wie Łódź, Kraków, Poznań oder Wrocław zu Clubs zusammenschlossen, in denen Fragen der nationalen und internationalen Kultur diskutiert wurden. In einer „verhältnismäßig liberalen Phase des staatssozialistischen Polens“ etablierten diese Clubs eine Kultur der freien Rede, die jedoch mit der Unterdrückung der Studentenunruhen 1968 und einer damit einhergehenden antisemitischen Kampagne zunächst ihr Ende fand. Die in den Clubs entstandenen sozialen Netzwerke und die dort gepflegten Werte und Praktiken überdauerte allerdings, und dies mündete in den 1970er-Jahren in den Aufbau neuer Organisationsformen und in eine Öffnung des Milieus hin zu den Arbeitern und Angestellten bis hin zur Gründung der Gewerkschaft Solidarność 1980 und zu den Verhandlungen des Rundes Tisches 1989.

Ein Angehöriger des polnischen Bildungsbürgertums war auch Zygmunt Klukowski, dessen Lebensweg in einem Beitrag von Grzegorz Krzywiec vorgestellt wird. Klukowski wirkte seit 1919 als Arzt in der Kleinstadt Szczebrzeszyn südlich von Lublin und leitete das dortige Krankenhaus. In den Jahren der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs dokumentierte er die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung, deren Zeuge er wurde, in seinem Tagebuch. Krzywiec deutet diese Tätigkeit als eine Form des zivilen Widerstands, als Mittel, um als Mensch und aufgeklärter Bürger in den Zeiten des Terrors zu überleben. Klukowski selbst bekannte mehrfach, dass ihm das Schreiben unter den gegebenen Umständen viel abverlangte. 1942 schrieb er angesichts von Terror und Gewalt gegenüber den Juden: „Etwas vergleichbar Entsetzliches, Furchtbares hat nie jemand gesehen und von etwas Ähnlichem nie gehört. Ich notiere meine Eindrücke chaotisch, unbeholfen, ich bin stark aus dem Gleichgewicht geraten, bin aber der Überzeugung, dass sogar solche Notizen einmal eine Art Dokument der gegenwärtig erlebten Zeit darstellen werden.“

Klukowskis Tagebuch wurde in Polen erstmals 1958 publiziert und liegt seit 2017 auch in deutscher Übersetzung vor (Tagebuch aus den Jahren der Okkupation: 1939–1944. Herausgegeben von Christine Glauning und Ewelina Wanke, Einleitung: Ingrid Loose, Übersetzung: Karsten Wanke, Metropol Verlag, Berlin 2017). Zur Tragik Klukowskis und vieler anderer Menschen in Polen gehörte es, dass ihnen nach dem Ende der Zweiten Weltkriegs kein Leben in Frieden und Freiheit möglich war. Die neuen, kommunistischen Machthaber inhaftierten ihn 1946, 1950 und 1952; erst 1956 wurde er rehabilitiert. Sein Sohn Tadeusz, ein Angehöriger der antikommunistischen Widerstandsbewegung, wurde 1953 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Zwei Aufsätze widmen sich dem Bürgertum in der Zeit des Nationalsozialismus. Hugo Andres Krüss (1879–1945) wurde 1925 zum Leiter der Preußischen Staatsbibliothek berufen und behielt dieses Amt bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Am 27. April 1945 nahm er sich in Berlin das Leben. Jonathan Voges beschreibt Krüss als „polyglotten Weltbürger“, der als kulturpolitisches Aushängeschild des nationalsozialistischen Deutschlands auf der Bühne des internationalen Bibliothekswesens agierte. Der Autor zeichnet das Bild eines Karrieristen: In den 1920er-Jahren wirkte Krüss in den Gremien des Völkerbundes im Sinne einer „bibliothekarischen Außenpolitik“, wie er selbst es möglicherweise etwas übertrieben bezeichnete. Vor 1933 Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), zeigte Krüss nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten eine große Anpassungsbereitschaft und übernahm für die Nationalsozialisten – wie bereits ausgeführt – im Ausland die Rolle des zivilisierten deutschen Kulturbürgers, nicht zuletzt mit dem Ziel, die längst praktizierten Terrormaßnahmen und den mörderischen Antisemitismus des „Dritten Reiches“ zu verschleiern.

Michael Schwartz widmet sich anhand der Biographie des Schriftstellers und Rechtsanwalts Erich Ebermayer der „Transformation von Bürgerlichkeiten“ in der Zeit des Nationalsozialismus. Allerdings sollte man im Hinblick auf die NS-Verflechtungen Ebermayers eher vom „Niedergang des Bürgertums“ sprechen. Ebermayer, Sohn einer angesehenen Juristenfamilie – sein Vater war Ludwig Ebermayer, Reichsgerichtsrat und Oberreichsanwalt am Leipziger Reichsgericht – hatte bereits in den 1920er-Jahren mehrere Romane mit homoerotischen Motiven veröffentlicht und erfuhr seit 1933 deswegen vielfach Anfeindungen aus NS-Kreisen. Seine Bücher wurden weitgehend verboten. Da er jedoch über äußerst gute familiäre Beziehungen in die NS-Elite verfügte – seine beiden Cousins Philipp Bouhler, Chef der Kanzlei des Führers, und Fritz Todt, Reichsminister und Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen, hielten mehrfach ihre schützende Hand über ihn – überstand er die Jahre der Diktatur ungeschoren. Mit dem Schreiben von Drehbüchern erschloss er sich außerdem ein neues Tätigkeitsgebiet. 1936 verlieh Joseph Goebbels dem Film Traumulus mit Emil Jannings in der Titelrolle nach einem Drehbuch von Robert A. Stemmle und Erich Ebermayer den Staatspreis. In der Bundesrepublik konnte Ebermayer seine Karriere fortsetzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er auch wieder als Anwalt tätig; diese Position nutzte er unter anderem, um Emmy Göring und Winifred Wagner, die Leiterin der Bayreuther Festspiele, vor dem Entnazifizierungsausschuss zu verteidigen.

 

Bildungsbürgertum als sozialistische Utopie?

Auch die im Sammelband enthaltenen Beiträge zum Bürgertum in der DDR widmen sich den Biographien und dem Fortbestand habitueller Praktiken des Bildungsbürgertums. Daniel Siemens beschreibt Hermann Budzislawski als „bürgerlichen Sozialisten“. Budzislawski war in der Weimarer Republik Chefredakteur der Weltbühne und seit 1929 Mitglied der SPD. 1948 kehrte er aus dem US-amerikanischen Exil in die Sowjetische Besatzungszone zurück. Noch im selben Jahr trat er der SED bei, wurde Hochschullehrer und Gründungsdekan der Fakultät für Journalistik an der Universität Leipzig.

Siemens schreibt Budzislawski einen „bürgerlichen Habitus“ zu, was sich allerdings ausschließlich auf Merkmale der privaten Lebensführung, also etwa den Erwerb von Gemälden und Antiquitäten, bezieht. Im Übrigen bestätigt sich an diesem Beispiel, was Thomas Großbölting mit Blick auf die Geschichte von Bürgertum und Bürgerlichkeit in der DDR beschrieben hat – dass hier nämlich „das Erbe der deutschen Arbeiterbewegung in Kaiserreich und Weimarer Republik“ weiter bestand, das sich kulturell stark am Typus des Bildungsbürgers und den Werken der deutschen Klassik orientiert hatte. Das Eintreten für liberale politische Werte und Rechte war hiermit nicht verbunden.

Blanka Koffer beschäftigt sich am Beispiel von Repräsentanten der Geistes- und Sozialwissenschaften in der DDR und in der Tschechoslowakei mit dem „Wandel der kulturellen Praxis der Bürgerlichkeit“ im Sozialismus. Sie schreibt, die „dem normativen Begriff des Bildungsbürgertums entsprechende soziale Gruppe“ der „Wissensprofessionellen“ sei „nicht allmählich zur Randexistenz geworden“, sie habe sich stattdessen sogar „erweitert, in dem Sinne, dass es in der sozialistischen Diktatur immer mehr Wissensprofessionelle mit höchster staatlicher Qualifikation“ gab. Die dieser sozialen Gruppe zugeschriebenen Praktiken seien „zum Ideal für die ganze Bevölkerung gemacht“ gemacht worden. Dass dies stets unter dem Vorbehalt der Anerkennung der marxistisch-leninistischen Staatsideologie durch die „Bildungsbürger“ geschah und Abweichungen mit politischer Repression und Ausschluss verbunden waren beziehungsweise gar nicht erst zur Zulassung zu bestimmten Berufsgruppen führten, wird nicht thematisiert.

Restbeständen des Bildungsbürgertums in der DDR widmet sich auch der Beitrag von Johannes Schütz. Er schildert, wie sich der Versuch des totalen Zugriffs auf die Individuen an den Erinnerungspraktiken der Dresdner Stadtbevölkerung brach. Konkret beschreibt er die Rezeption des Buches Das alte Dresden von Fritz Löffler, erschienen 1955 und allein in der DDR „in neunfacher Auflage und hunderttausenden Exemplaren“ wiederholt aufgelegt. Mit diesem Buch wurde, wie Schütz schreibt, eine „Meisterzählung“ über die Baugeschichte des Dresdens verbreitet, wie es vor dem Bombenangriff vom 13. Februar 1945 bestanden hatte und sich somit „den unterkomplexen Fortschrittserzählungen und euphorischen Vergangenheitsentledigungen des sozialistischen Parteidiskurses“ verweigerte. Das vor allem in Dresden selbst vielfach rezipierte Buch habe eine alternative „bürgerliche“, da subjektive Möglichkeit des Erinnerns der Stadtgeschichte geboten.

Diese Lesart ist erfreulich, da hier die Möglichkeit und die Funktion von Geschichte zur Bildung von Individuen angesprochen werden. Dass dadurch inmitten einer Gesellschaftsordnung, die das eigentlich nicht vorsah, die Pflege freier Denkräume verbunden war, unterstreicht am Beispiel Dresdens die Bedeutung des Erinnerns städtischer Geschichte.

Welches Fazit lässt sich nach der Lektüre des Bandes „Bürgerlichkeit in Diktaturen“ ziehen? Wie stets bei Sammelbänden ist die Qualität der Beiträge heterogen. Die Publikation legt außerdem sehr deutlich offen, wie schwierig es ist, die Geschichte von Bürgertum und Bürgerlichkeit im 20. Jahrhundert fortzuschreiben, wenn der Untersuchungsgegenstand kaum mehr an konkrete sozialhistorische Bezüge beziehungsweise politische und rechtliche Zusammenhänge zurückgebunden werden kann. Will man ein positives Resümee ziehen, lässt sich festhalten, dass der Band immerhin einige Anregungen zu einer vergleichenden Kulturgeschichte „bürgerlicher“ Milieus in Mittel- und Osteuropa enthält.

 

Christine Bach, geboren 1970 in Sankt Ingbert, promovierte Historikerin, Referentin Zeitgeschichte, Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.

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