Unter dem „Recht des Stärkeren“ versteht man, dass ein – in egal welcher Hinsicht – Stärkerer seine Interessen durchsetzt. Ob der Rüpel auf dem Schulhof, ein Staat, ein Repressionsapparat. Wir werden zwangsweise mit diesem Phänomen, welches sich einer regelbasierten Ordnung entzieht, konfrontiert.
Das Konzept des Rechts des Stärkeren beschäftigt die Menschheit seit jeher. So befand der antike Geschichtsschreiber Thukydides, das juristische Recht komme nur in einem ausgewogenen Kräfteverhältnis zur Geltung. Wenn eine Partei der anderen überlegen sei, setze sich die stärkere durch[1]. Thukydides beschreibt das am Schicksal der Melier, der Bewohner der Insel Melos, die sich den mächtigeren Athenern nicht anschließen wollten. Zu guter Letzt ist Melos eingenommen, und die Athener haben alle erwachsenen Männer hingerichtet. Der Stärkere hatte sich durchgesetzt.
Auch die Anhänger des Sozialdarwinismus beriefen sich auf das Recht des Stärkeren. Während der Kolonialisierung und des Nationalsozialismus zeigte sich sein hässliches Antlitz. Die sogenannte „natürliche Auslese“ – wie sie etwa die Nationalsozialisten propagierten – wurde nicht mit einer rein körperlichen Kampfstärke begründet. Maßgeblich war – nach Darwin – inwieweit Lebensformen in der Lage seien sich anzupassen. Aus dem Kampf ums Überleben resultiere ein naturgemäßes Recht des Stärkeren. Der Stärkere überlebt, indem er sich auf Kosten des Schwächeren durchsetzt[2].
Der Territorialkrieg – ein Relikt aus der Vergangenheit?
Seine Interessen mit Waffengewalt durchzusetzen, ist in der internationalen Politik meist das letzte Mittel der Wahl. Kriege sind teuer. Man ist auf die Unterstützung der eigenen Bevölkerung angewiesen. Und nicht zu vergessen: Man könnte auch eine Niederlage erleiden.
In der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck vor, die häufigste Art von Kriegen der vergangenen Jahre seien Bürgerkriege gewesen. Der „klassische“ Territorialkrieg zwischen zwei Staaten – war bis zum Krieg in der Ukraine – aus dem öffentlichen Bewusstsein in Deutschland verschwunden. Doch tatsächlich war bei den sechs letzten beendeten zwischenstaatlichen Kriegen ein Grenzkonflikt[3] ursächlich und nach allen dieser Kriege wurden Territorien der besiegten Partei langfristig besetzt oder annektiert,
Ob wirtschaftlicher Verflechtungen, transnationaler finanzieller Folgen oder drohender Sanktionen – ein militärischer Angriff ist für den vermeintlich Stärkeren heutzutage oft nicht zweckdienlich. Die gewaltsame Landnahme, wie sie seit Jahrtausenden praktiziert und auch akzeptiert wurde, ist international tabuisiert und wird durch mannigfaltige Rechtsregelungen ausdrücklich verurteilt. Solche Verurteilungen sind keineswegs mit der Durchsetzung besagter Regelungen gleichzusetzen, doch gibt es einen juristischen Rahmen, und der gilt für alle. Das war nicht immer so.
Gibt es so etwas wie das Recht zum Krieg?
Lange war das ius ad bellum, das Recht zum Krieg, unanfechtbar. Staaten und ihre Herrscher setzten ihre Interessen mit Waffengewalt durch: Sei es, um das eigene Reich zu erweitern, aus wirtschaftlichem Kalkül oder wegen konfessioneller Verwerfungen. Noch bis ins 19. Jahrhundert wurde der Angriffskrieg zelebriert. Das änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg. Erste völkerrechtliche Verträge erklärten Angriffskriege für völkerrechtswidrig. Krieg wurde geächtet.
Der Expansions- und Vernichtungswillen Deutschlands, der in den Zweiten Weltkrieg mündete, trieben diese ersten zaghaften Entwicklungen des Völkerrechts voran. Die Nürnberger Prozesse läuteten ein neues Kapitel ein: Während bis dahin nur Staaten zur Verantwortung gezogen werden konnten, wurden nun auch Individuen für die Führung eines Angriffskrieges belangt.
Das Völkerrecht verbietet Angriffskriege, dem Aggressor drohen Sanktionen und internationale Ächtung. Und doch greifen Staaten immer wieder andere Staaten an und versuchen, mit aller Macht das Recht des Stärkeren durchzusetzen. Warum?