Auf ihrem Parteitag in Milwaukee (Wisconsin) haben die Republikaner Donald Trump zu ihrem Präsidentschaftskandidaten nominiert. Als sein ‚Running Mate‘ für die Vizepräsidentschaft wurde der republikanische Senator von Ohio, J.D. Vance, aufgestellt. Er gilt als scharfer Kritiker von Bidens Ukraine-Unterstützung und Anhänger eines isolationistischeren Kurses in der Verteidigungs- und Bündnispolitik. Trumps Entscheidung für Vance ist ein weiterer Fingerzeig, welche außen- und sicherheitspolitische Implikationen sein Wahlsieg für Deutschland und Europa haben würde. Eine zweite Trump-Administration dürfte den europäischen NATO-Staaten deutlich mehr Einsatz für ihre Sicherheit auf dem Kontinent abverlangen. Das Problem ist keineswegs neu. Analysiert man die vergangenen Jahrzehnte, zeigt sich, dass ein höheres Engagement der Verbündeten in Europa überfällig ist. Dass das bisher vermieden werden konnte, lag auch an ungewöhnlich moderat auftretenden US-Präsidenten. Insofern läge in einer Trump/Vance-Administration paradoxerweise sogar eine große Chance: Die Chance auf mehr kollektive Sicherheit in einem stärkeren transatlantischen Bündnis und die Chance auf den Erhalt unserer friedlichen, wertegeleiteten und regelbasierten Weltordnung im 21. Jahrhundert.
Seit Beginn des Kalten Krieges Ende der 1940er Jahre waren die USA unangefochten das ökonomische Powerhouse der Welt. Das BIP pro Kopf der USA war etwa dreimal so hoch wie das der Sowjetunion. Im Jahr des Zusammenbruchs der Sowjetunion 1991 stieg dieses Verhältnis sogar auf ein viermal höheres BIP pro Kopf. Und auch die europäischen Verbündeten und die ostasiatischen Partner (Südkorea, Taiwan, Japan) verzeichneten nach dem 2. Weltkrieg ein enormes Wirtschaftswachstum. Die wirtschaftliche Prosperität „des Westens“ ermöglichte die Aufstellung schlagkräftiger Armeen und sicherte in der Konfrontation der Blöcke eine effektive konventionelle Abschreckung. Zudem waren die USA nach Ende des Zweiten Weltkriegs das einzige Land, das über Atomwaffen verfügte.
Die USA waren jahrzehntelang der unangefochtene Anführer der Weltordnung und nicht zuletzt deswegen ging „der Westen“ als vermeintlicher Sieger aus der Blockkonfrontation mit der Sowjetunion hervor. Doch auch schon vor 1990 kam es zu bedeutenden Machtverschiebungen. Zunächst verloren die USA ihr Alleinstellungsmerkmal, über Atomwaffen zu verfügen. Ihnen folgten nach: die Sowjetunion (1949), das Vereinigte Königreich (1952), Frankreich (1960) und schließlich auch China (1964). Alle fünf Länder waren seit 1945 ständige Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Später gesellten sich noch Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea zu den Atommächten – ohne eine ständige Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat. Im Zeitalter der Atomwaffen gelingt es nur, den Frieden zu erhalten, wenn eine glaubhafte Pattsituation vorliegt, die auf einer nicht durch einen Erstschlag ausschaltbaren atomaren Zweitschlagskapazität basiert. Diese stabilisierende Grundkonstante, die den Kalten nie zu einem heißen Krieg werden ließ, bröckelt allerdings zunehmend. Denn während sich die Ziele, die Russland in den USA und Europa – mit einem atomaren Zweitschlag – (nach einem theoretischen Erstschlag) erreichen kann, nicht verändert haben, ist das für die USA nicht der Fall. Wegen der atomaren Bedrohung durch China und Nordkorea reicht ihre bisherige Kapazität nicht mehr aus, um alle hinzugekommenen Abschussbasen in China und Nordkorea abdecken zu können. Dieser Umstand wird sich noch verschärfen, weil die Zahl atomarer Sprengköpfe in China ständig wächst und China sich weigert, an Begrenzungs- bzw. Abrüstungsgesprächen teilzunehmen. Eine weitere Gefahr ist das Atomprogramm im Iran, das zu verhindern das erklärte Ziel aller Atommächte ist. All diese Entwicklungen sind nicht gerade von Vorteil, wenn es um den atomaren Schutzschirm geht, den die USA ihren europäischen NATO-Verbündeten gegen die Bedrohung durch Russland bereitstellen können.
Hinzu kommt, dass die konventionelle Abschreckungskapazität der Europäer erheblich abgenommen hat. Zwar hat sich die gewachsene Europäische Union seit dem Zusammenbruch des Ostblocks zu einem der stärksten Wirtschaftszentren der Welt entwickelt, ihre militärischen Fähigkeiten haben die Mitgliedstaaten jedoch systematisch vernachlässigt. Die europäischen NATO-Armeen wurden quantitativ und qualitativ dramatisch verkleinert (Stichwort: „Friedensdividende“). Mit der Vereinbarung des Zwei-Prozent-Ziels versuchten insbesondere die USA, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Doch das Zwei-Prozent-Ziel ist erst 2014 verbindlich beschlossen worden. Und vor dem 24. Februar 2022 hat sich die Mehrheit der Verbündeten nie ernsthaft um seine Umsetzung bemüht. Es gilt also festzuhalten: Ohne die militärische Unterstützung der USA könnten sich die Europäer in einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland nicht behaupten.
Chinas enormer wirtschaftlicher Aufschwung seit der Jahrtausendwende hat dazu geführt, dass der ostasiatische Raum zu einem neuen Zentrum des Welthandels geworden ist. Und zugleich ist den Nachbarstaaten Chinas die militärische Bedrohung durch das Riesenreich sehr wohl bewusst. Nicht zuletzt, weil China seinen wachsenden wirtschaftlichen Wohlstand dafür nutzt, seine Armee in allen Teilstreitkräften ehrgeizig aufzurüsten.
Zusammenfassend: Die USA und China befinden sich in diesem Jahrhundert in einer systemischen Auseinandersetzung um die Führungsrolle in der Welt und um die Gestalt der künftigen Weltordnung. Der Einsatzschwerpunkt der USA ist der pazifische Raum – mit negativen Folgen für ihr konventionelles Verteidigungsengagement in Europa . Denn auch eine Supermacht kann und darf ihre Kräfte nicht überdehnen.
Dass China die friedliche Nachkriegsordnung in diesem Jahrhundert herausfordern würde, hatte man schon lange erwartet. Russland hat diesen Prozess mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine lediglich beschleunigt, strebt es doch schon länger mit dem Einsatz militärischer Mittel und mit diversen Vertragsbrüchen nach der Restitution seines ehemaligen Machtbereichs in Europa.
Präsident Putin ist sich der Unterstützung Chinas in seinem imperialen Kurs sicher. Er glaubt, den Krieg strategisch gewinnen zu können, solange er die Ukraine in einen kostspieligen Abnutzungskrieg zwingt und somit die Bereitschaft zur Unterstützung bei ihren westlichen Partnern abnimmt. Die chinesische Führung, die aus ökonomischer und zunehmend auch militärischer Macht neues Selbstbewusstsein generiert, erhebt unter Missachtung internationalen Rechts zahlreiche Gebietsansprüche gegenüber seinen Nachbarn. Dass nun Russland mit seinem Krieg in der Ukraine die Nachkriegsordnung in Frage stellt, ist also ganz im Sinne Chinas, dessen Streben nach imperialer Macht nur noch unser westliches Modell im Wege steht.
Die USA haben erkannt, dass ihre militärischen Kräfte nicht ausreichen, um auf zwei möglichen Kriegsschauplätzen – in Europa und im Pazifikraum – als Schutzmacht ihrer Verbündeten aufzutreten. Sie sind nun erstmals auf die Hilfe der Verbündeten angewiesen. Für die europäischen NATO-Staaten bedeutet das im Umkehrschluss, dass sie sich nicht mehr allein auf die militärische Unterstützung der USA verlassen können. Sie sehen sich gezwungen, mehr in ihre konventionelle militärische Aufrüstung zu investieren und sich mit neuen Verteidigungsaufgaben zu befassen. Und nicht zuletzt müssen sie bei der Unterstützung der Ukraine die Führung übernehmen – auch um der von Russland vorangetriebenen Erosion des internationalen Rechts etwas entgegenzusetzen.
Dass Deutschland und Europa sehr viel mehr für ihre konventionelle Verteidigung und Sicherheit tun müssen, egal welches Ergebnis die US-Präsidentschaftswahl bringen wird, ist deutlich geworden. Daraus leiten sich aus meiner Sicht für die christdemokratische Politik in Deutschland nachfolgende Handlungsmaximen ab:
1. Die Unionsparteien sind die Parteien der Westbindung, der europäischen Integration, der transatlantischen Partnerschaft. Keine andere politische Kraft in Deutschland ist diesen Prinzipien so sehr verpflichtet. Die Unionsparteien dürfen weder inhaltlich-programmatisch noch im tagespolitischen Geschäft Zweifel aufkommen lassen, dass sie sich von diesen Prinzipien distanzieren würden. Das schließt ein, politischen Strömungen, die für eine Öffnung zu Russland oder China werben oder die oben genannten Prinzipien schleifen wollen, offensiv entgegenzutreten. Denn Sicherheit für Deutschland und Europa kann auf absehbare Zeit nur gegen Russland organisiert werden.
2. Die Unionsparteien sollten nicht erst darauf warten, an einer Regierung beteiligt zu sein, bevor sie den sicherheitspolitischen Austausch mit unseren Verbündeten in Mittel- und Osteuropa intensivieren. Die mittel- und osteuropäischen Länder sind schon lange sehr viel stärker sensibilisiert, was mögliche Bedrohungsszenarien durch Russland betrifft. Und man beobachtet in ganz Europa sehr genau, wie sich die deutsche Politik in ihrem Verhältnis zu Russland, zur Ukraine und zu den mittel- und osteuropäischen Partnern entwickelt. Daher gilt es, jeden Eindruck zu zerstreuen, Deutschland würde sich seiner Bündnisverpflichtung entziehen oder sie durch eine Annäherung an Russland konterkarieren. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion bildete Deutschland den Frontstaat an der Ostflanke der NATO und genoss die volle Solidarität des Bündnisses. Inzwischen bilden unsere Partner in Mittel- und Osteuropa die neue östliche Grenze des NATO-Bündnisgebiets. Und nun gehört ihnen unsere volle Solidarität. Mit der dauerhaften Stationierung der Brigade Litauen trägt die Bundesregierung dem bereits Rechnung.
3. Die Unionsparteien müssen in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die liebgewonnene Auszahlungsperiode der „Friedensdividende“ beendet ist. Dass strategische Entscheidungen, wie die Stationierung von US-Abwehrraketen in Deutschland und budgetäre Entscheidungen, wie eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben, für die nationale Sicherheit unabdingbar sind. Es gilt, Fehlentwicklungen aus den vergangenen Jahrzehnten zu korrigieren – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen NATO-Mitgliedstaaten. Es muss immer wieder vermittelt werden, dass großer Handlungsdruck besteht. Unsere Gesellschaften müssen angesichts eines Krieges in Europa widerstandsfähiger werden. Weil es keine Freiheit ohne Sicherheit gibt.
4. Die Unionsparteien müssen ein tragfähiges Konzept entwickeln, wie man die Ausgaben für die Streitkräfte dauerhaft und nachhaltig über das Zwei-Prozentziel der NATO hebt. Der Investitionsstau ist massiv. Finanzmittel sind effektiv und effizient einzusetzen, und der Aufwuchs der Streitkräfte und ihr Fähigkeitserhalt und -ausbau müssen budgetär abgesichert sein. Es geht allerdings auch darum, die Strukturen der Bundeswehr mit Augenmaß zu reformieren und entbürokratisieren. Sowohl im militärischen wie im zivilen Dienstbereich. Der Verwaltungsaufwand muss reduziert werden, damit die Truppe ihr volles Potenzial entfalten kann. Zudem muss der Soldatenberuf aufgewertet werden. Das bedeutet Zeitenwende. Die Ampelregierung ist daran gescheitert. Nun liegt es an den Unionsparteien, mit ihren verteidigungspolitischen Ideen und Konzepten zu überzeugen.
5. Als Partei Konrad Adenauers und Helmut Kohls wissen wir: Das Glück dauerhaften Friedens in weiten Teilen Europas seit 1945 verdanken wir gegenseitiger Zusammenarbeit, immer engerer Verflechtung und dem Verteidigungsbündnis. Kriege auf dem europäischen Kontinent brachen nach 1945 nur noch dort aus, wo die angegriffenen Länder nicht Teil dieser Sicherheitsarchitektur waren, zuletzt in der Ukraine. Vor diesem Hintergrund müssen sich die Unionsparteien für eine Integration der Ukraine in die EU und auch NATO einsetzen und dafür werben. Nur ihr Beitritt wird den Frieden nach einem Waffenstillstand in der Ukraine dauerhaft und nachhaltig in Europa sichern. Zu groß ist die Gefahr, dass der Appetit eines nach altem imperialem Glanz strebenden Russlands erneut aufflammt. Wohlgemerkt nach einem wie auch immer gearteten Friedensschluss, der den momentan aktiven Angriffskrieg Russlands beendet. Und dabei die Interessen des ukrainischen Volkes berücksichtigt.
Manuel Schwalm, geboren 1986 in Berlin, studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Masterstudiengang an der Georg-August-Universität in Göttingen. Nach seinem Studium stieg er als Berater in die Werbebranche ein. Heute ist er in der politischen Kommunikation tätig. Er lebt und arbeitet in Berlin.