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Paul Strobel/ Freundeskreis Heeresaufklärer

Die Sozialen Medien im Ukrainekrieg

Militärische Aufklärung und der Kampf um die Deutungshoheit

Militärische und ideologische Auseinandersetzungen wurden seit Jahren schon über die Sozialen Medien geführt. Russland hat sich damit besonders hervorgetan: Die Desinformations- und Propagandakampagnen sind ungezählt. In der Ukraine beobachten wir nun ein neues Phänomen der Kriegsführung. Privatpersonen und ukrainische Soldaten zeichnen mit Handys Truppenbewegungen, zerstörtes Militärgerät, Bombenangriffe auf und verbreiten sie in den Sozialen Medien.

Artikel anhören! 9:20 Min, gelesen von Stefanie Gladisch

Im Medienzeitalter hat der Krieg sein digitales Spiegelbild auf Social Media gefunden. Seit der islamische Staat seinen Feldzug 2014 online mit der Hashtagkampagne #AllEyesOnISIS auf Twitter inszenierte, sind uns Videos von Kampfhandlungen oder Drohnenaufnahmen von Panzerabschüssen nicht mehr fremd. Als vermeintlich Unbeteiligte werden wir regelmäßig in den Informationskrieg hineingezogen. Die „Kombattanten“ kennzeichnen und erkennen sich in den sozialen Medien mit Hashtags und Profilfiltern, teilen Propaganda, die die eigene Seite gut dastehen lässt, und verbreiten Desinformationen über die Gegenseite.

Besonders Russland hat sich schon vor seinem Überfall auf die Ukraine einen zweifelhaften Ruf in der digitalen Konfliktführung erworben. Der Einsatz von Desinformations- und Propagandakampagnen konnte seit der Annexion der Krim 2014 beobachtet werden und gewann durch die Wahlbeeinflussung in den USA 2016, zum BREXIT-Referendum 2018 und die Verbreitung von Verschwörungstheorien im Zuge der Corona-Pandemie an Relevanz. Auf der Krim und in der Ostukraine revolutionierte Russland den Einsatz dieser Fähigkeit, indem gezielte Desinformationen und Propaganda auf taktischer Ebene Verwirrung und Verunsicherung stifteten. Auf strategischer Ebene wurde die Reaktion der internationalen Gemeinschaft derart verzögert, dass Russland bereits am Boden Fakten schaffen konnte.

Umso mehr wurden Beobachter aufmerksam, als zu Beginn des russischen Aufmarsches vor Weihnachten 2021 hunderte Videos auftauchten, welche die Truppenbewegungen beinahe in Echtzeit nachvollziehen ließen. Die Videos wurden von Amateur-Analysten, Open Source Intelligence (OSINT)-Spezialisten und von der militärischen Aufklärung mit Neugierde betrachtet.

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Die Analysten der schnelllebigen sozialen Medien schienen den offiziellen Nachrichtendiensten teils einen Schritt voraus zu sein. Mitte Februar wurde beispielsweise die Verlegung von russischer Raketenartillerie von Social-Media-Nutzern entdeckt. OSINT-Spezialist und Twitter-User Rob Lee twitterte dazu: „Bisher waren die meisten Änderungen der russischen Militärpositur in der Nähe der Ukraine öffentlich in den sozialen Medien zu beobachten, bevor sie von US-Regierungsvertretern bestätigt wurden. […] Ganze 9 Tage.“

Auch mit dem Beginn der Invasion wurden Truppenbewegungen, Angriffe und ihre Folgen auf verschiedensten Social-Media-Plattformen geteilt und beinahe in Echtzeit von OSINT-Spezialisten und Amateuren analysiert. Mithilfe von Video- und Fotoaufnahmen werden Ort und Zeit von Truppenbewegungen und Kampfhandlungen identifiziert. Öffentlich zugängliche Feuersatelliten zeigen durch Kampfhandlungen verursachte Brände und können Aufschluss über den Ort größerer Gefechte geben. Ebenfalls öffentlich zugängliche Radarsatelliten können die Abschussstellungen von Flugabwehrsystemen lokalisieren. Letztendlich entsteht so ein erstaunlich präzises „öffentliches Lagebild“, das durch eifrige Social-Media-Nutzerinnen und Nutzer laufend aktualisiert wird. Truppenbewegungen, Truppenteile und Vorgehen, gar Hinterhalte - kaum etwas lässt sich offenbar noch geheim halten.

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Social Media spielt eine Doppelrolle: Als Informationslieferant zur Analyse und als Ausspielungsplattform zur Verbreitung von aufbereiteten Informationen. Aus der schnellen und der weiten Verbreitung der Social-Media-Inhalte zogen Russland und die Ukraine sehr unterschiedliche Schlüsse im Bereich Operations Security (OPSEC). Russland sperrte TikTok und verabschiedete am 20. Februar ein Gesetz, das den russischen Soldaten die Nutzung ihrer Smartphones im Dienst verbat. Berichten zufolge wurden in den Streitkräften Handys konfisziert. So gab es von den einsetzenden Kampfhandlungen und den ersten russischen Truppen in der Ukraine lange keine bzw. sehr wenige Aufnahmen, die von russischer Seite kamen.

Während sich Russland dadurch offensichtlich taktische Vorteile im Bereich OPSEC erhoffte, stellte sich das kollektive Going Dark der russischen Streitkräfte auf strategischer Ebene jedoch als ein gravierender Fehler heraus. Bereits in den ersten Tagen dominierte die Ukraine den internationalen Informationskrieg und gewann die Deutungshoheit über den Konflikt. Innerhalb weniger Stunden, ja Minuten, dominierten ukrainische Aufnahmen die internationale Berichterstattung in den (sozialen) Medien und jeder noch so kleine Erfolg wurde umgehend zu Propagandazwecken eingesetzt. Die Ereignisse auf der „Schlangeninsel“ und vom „Geist von Kyiv“ sind mittlerweile im Internet durch Memes, Sticker und Hoodies zur Legende geworden. Die digitale Übermacht war so gravierend geworden, dass sich Russland gezwungen sah, sich vom internationalen Internet zu entkoppeln und die Nutzung westlicher sozialer Medien gänzlich zu verbieten. Der Direktor des NATO Strategic Communications Center for Excellence, Jānis Sārts, stellte fest: „Russland hat den Informationskrieg im Westen klar und deutlich verloren."

Die ukrainische Seite ließ ihren Soldaten offensichtlich die Nutzung der Handys. Hunderte Videos zeigen mit Smartphones, Videokameras und GoPros ausgestattete Soldatinnen und Soldaten. Sie filmen Hinterhalte, Gefechtsfelder und erbeutete Fahrzeuge, aber auch die Nachwirkungen von Kampfhandlungen, Tote und verwundete russische Soldaten, aber auch ukrainische Zivilisten. In einem Land mit 99,9 Prozent Internetabdeckung – eine Versorgung, die die Russen auch knapp zwei Wochen nach Invasionsbeginn kaum einschränken konnten – und in dem 64,6 Prozent der Bevölkerung Social-Media-Nutzerinnen und Nutzer sind, entstehen hunderte und tausende Puzzlestücke in Form von Videos und Fotos, die zu einem großen Lagebild zusammengetragen werden können.

In der Datengewinnung kommen den Social-Media-Plattformen TikTok und Telegram eine besondere Rolle zu. So unterschiedlich die Funktion beider Plattformen ist – TikTok als Kurzvideo- und Telegram als Messenger-Dienst – mutierten beide zu Hauptquellen für OSINT-Analysten. Dabei ist besonders TikTok unter russischen und ukrainischen Jugendlichen sehr beliebt. TikTok verzeichnete in der Ukraine ein rasantes Wachstum und wies zuletzt stolze 10,55 Millionen Nutzerinnen und Nutzer auf, in Russland gar 36 Millionen.

Doch die Puzzleteile können weit mehr, als ein öffentliches Lagebild des Kriegsverlaufes zeichnen oder zu Propagandazwecken eingesetzt werden. Auf taktischer Ebene werden die Aufnahmen mehr oder weniger gezielt der Internet Crowd in den sozialen Medien, ihren OSINT-Analysten und den eigenen militärischen Nachrichtendiensten zur Auswertung zugespielt. Hobby-Drohnenflieger unterstützen die Online-Aufklärungsarbeit zusätzlich und fliegen in Richtung russischer Stellungen, um Bilder für die militärische Aufklärung zu sammeln. In einigen Fällen wurde sogar Steilfeuer mithilfe privater Kleindrohnen in russische Stellungen gelenkt. Der ukrainische Militärgeheimdienst betreibt einen eigenen Telegram-Kanal, dem man Aufnahmen russischer Truppenbewegungen zuspielen kann. Die Informationen fließen entweder über die sozialen Medien oder auf militärischem Wege zurück an die Kampftruppe. Ein Modell, das sich anscheinend so bewährt hat, dass der russische Militärgeheimdienst es kopierte und einen eigenen Telegram-Bot anbietet.

Vor Beginn der Kampfhandlungen hatten viele Beobachter die Sorge, dass eine massenhafte Nutzung von Smartphones und Kameras zu Aufklärungs- und Propagandazwecken zu Gefahren für die Soldaten führen würde. Neben Sicherheitsrisiken im OPSEC-Bereich wurde oft auf die russischen Fähigkeiten in der elektronischen Kampfführung (ELOKA umfasst die Fernmelde- und elektronische Aufklärung durch die Erfassung gegnerischer elektromagnetischer und akustischer Ausstrahlungen) hingewiesen, untermauert durch die Modernisierung ihrer Leer-3 und 1L267 Moskva-1 Systeme. Doch die Befürchtungen, dass Soldaten durch das bloße Mitführen eines Handys aufgeklärt und bekämpft werden könnten, scheinen sich nicht zu bewahrheiten.

Paul Strobel/ Freundeskreis Heeresaufklärer

Mögliche Gründe sind ein technisches Versagen bei den russischen ELOKA-Systemen sowie mangelnde Verfügbarkeit von ELOKA-Einheiten auf einer großen Fläche. Besonders plausibel erscheint ferner, dass die Ukraine durch acht Jahre Kriegserfahrung im Donbass den Umgang mit diesen Geräten gelernt hat und ihre Soldaten OPSEC-Regeln verinnerlicht haben. Offensichtich legen ukrainische Soldaten (und Zivilisten) eine erstaunliche Disziplin an den Tag, keine Aufnahmen eigener Truppen und Truppenbewegungen ins Netz zu stellen. Viele Soldaten scheinen sich zusätzlich mit „Truppenlösungen“ zu behelfen:  Der bloße Einsatz des Flugmodus auf modernen Geräten, das Herausnehmen der SIM-Karte oder das Einpacken des Handys in spezielle faradaysche Behälter bzw. Alufolie scheinen in der Lage zu sein, millionenteure EOLKA-Systeme wirkungslos zu machen.

Wir sehen in der Ukraine den Kampf von zwei gegensätzlichen Formen von strategischer Kommunikation. Auf der einen Seite das zentralistisch gesteuerte Propaganda-Regime in Moskau, gegenüber dem, was man als „Graswurzelbewegung“ in der politischen Kommunikation bezeichnen könnte: Eine Vielzahl von Inhalten unterschiedlich großer Akteure, die durch ein gemeinsames Ziel und ein gemeinsames Narrativ zusammenwirken. Ein Zusammenspiel, das – wie es scheint – nicht nur auf strategischer Ebene erfolgsversprechend ist, sondern auch auf taktischer Ebene einige Vorteile mit sich bringt.

 

Paul Strobel leitet als Major der Bundeswehr die digitale Kommunikation im Organisationsstab der Invictus Games Düsseldorf 2023 und ist im Zivilleben Experte für Social Media in Berlin. 
Er gibt in diesem Artikel seine private Meinung wieder, die ausschließlich auf Basis öffentlich verfügbarer Quellen gewonnen wurde.

 

 

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Der hier veröffentlichte Text wurde in einer ausführlicheren Version am 16. März auf der Homepage des Freundeskreis Heeresaufklärungstruppe veröffentlicht. Wir danken dem Autor und dem Freundeskreis für die freundliche Genehmigung. Die ursprüngliche Version finden Sie unter:
www.heeresaufklaerungstruppe.de/index/die-militarische-nutzung-sozialer-medien-im-ukrainekrieg/


Der Freundeskreis Heeresaufklärer ist ein Zusammenschluss von aktiven und ehemaligen Offizieren sowie Reserveoffizieren der Heeresaufklärungstruppe und Panzeraufklärungstruppe der Bundeswehr: www.heeresaufklaerungstruppe.de

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