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Jona Thiel

Kinder der Weltgeschichte - Teil 1

Vor Christus bis ins 19. Jahrhundert

Kinder befinden sich sowohl körperlich als auch geistig in einem Entwicklungsprozess. Mit dieser Feststellung geht eine gewisse Marginalisierung einher. Kinder sind rechtlich und auch hinsichtlich der politischen Teilhabe nicht mit Erwachsenen gleichgestellt. Was für gewöhnlich dazu führt, dass Kinder weder die Mittel noch die Möglichkeit haben, großen Einfluss auf das Weltgeschehen zu nehmen. Das trifft auf die vier historischen Kinder unserer Artikelreihe ganz und gar nicht zu. Im ersten Teil geht es um Unsterblichkeit, einen Mutter-Sohn-Mord, Sadismus und einen blinden Teenager.

Tutanchamun

Jean-Pierre Dalbéra | Flickr

* ca. 1341 v.Chr. im heutigen Ägypten   + ca. 1323 v.Chr. im heutigen Ägypten

 

18. Dezember 1922, Ägypten, Tal der Könige: Ein hagerer Mann beugt sich über ein Stativ und betätigt den Auslöser seiner Kamera. Die Sonne brennt unerbittlich, auf seinem Gesicht vermischt sich Wüstenstaub mit Schweiß.

Sein Name ist Harry Burton. Was der britische Fotograf noch nicht ahnt: Er macht sich, seinen Auftraggeber und seine Motive gerade unsterblich. Nicht die unzähligen Kostbarkeiten, die er ablichtet, sollen der Höhepunkt seines Schaffens werden, sondern das, was sich hinter den Edelsteinen, Kunstwerken und dem Gold verbirgt. Die Rede ist von dem vermutlich berühmtesten Leichnam der Menschheitsgeschichte: Pharao Tutanchamun.

Einen Monat lang hatten Burtons Auftraggeber, der Ägyptologe Howard Carter und seine Mitarbeiter damit verbracht, immer tiefer in das Herz der Grabkammer vorzudringen[1]. Je länger sie gruben, desto sicherer waren sie: Das Grab war fast unberührt. Auch wenn Carter bemerkte, dass es wohl zweimal geöffnet worden war, von den Schätze war kaum etwas entwendet worden[2].

Und genau diesem Umstand verdankt Tutanchamun seine Berühmtheit. Nicht der Tatsache, dass er im zarten Alter von neun Jahren den Thron besteigt – man nennt ihn auch den Kindkönig –, und als – wahrscheinlich – Achtzehnjähriger zu Tode kommt, sein Ruhm gründet allein auf der Entdeckung seiner Grabstätte.

Es waren die Roaring Twenties. Die Menschen der westlichen Welt atmeten nach den Schrecken des Krieges auf, suchten nach einem neuen Lebensgefühl. Mode, Musik, alles veränderte sich. Und auch die Medien wollten unterhalten, das Pharaonengrab bestimmte die Weltpresse. Die Bevölkerung nahm an der Entdeckung im Tal der Könige großen Anteil. Es entstand ein regelrechter Tutanchamun-Hype. Jeder wollte ein Stück „Tut“, wie ihn seine Fans nannten. US-Präsident Herbert Hoover begnügte sich damit, seinen Hund "King Tut" zu nennen, Harry von Tilzer landete mit seinem Lied "Old King Tut" einen Hit. Die Welt war im Tut-Fieber. Motive aus den Grabfunden fanden sich auf Kleidern, Schmuck, in der Architektur. Wohlhabende ließen sich Möbel fertigen, die an die Formensprache der Grabfunde erinnerten. Die 12 Kilogramm schwere, goldene Grabmaske des Pharaos ist bis heute eines der berühmtesten Motive der antiken Archäologie.

Die Bedeutung Tutanchamuns bis in die Jetztzeit mag überraschen, war er doch ein vergleichsweise unbedeutender Herrscher. Aber wenn das Stichwort Altes Ägypten fällt, denkt fast jeder an Kleopatra oder Tutanchamun. Das Alte Ägypten existierte mehr als dreitausend Jahre. Und nur neun davon herrschte der Kindkönig – Pharao Tutanchamun, der durch seine Grabstätte Berühmtheit erlangte.

 

Severus Alexander

Marie-Lan Nguyen / Wikimedia Commons

* 1. Oktober 208, im heutigen Libanon   + 21/22.März 235, im heutigen Deutschland

 

21. oder 22. März 235, Vicus Britanniae/Mainz-Bretzenheim[3], Römisches Reich: Ein junger Kaiser und seine Mutter sterben in ihrem Zelt in einem Feldlager – getötet von den eigenen Soldaten. Weder der Auftraggeber noch die Soldaten sind sich über die Tragweite ihrer Tat im Klaren: Mit der Ermordung des römischen Kaisers läuten sie das Ende der Stabilität des Römischen Reiches ein und lösen die Reichskrise des 3. Jahrhunderts aus.

Der Mord an Kaiser Severus Alexander und seiner Mutter Mamaea stürzt weite Teile des europäischen Kontinents in politisch-militärische Kalamitäten. Mit seinem Tod beginnt die Zeit der römischen Soldatenkaiser – Offiziere, die ihre Macht auf die Unterstützung ihrer Soldaten gründen, um sich schließlich als Gegenkaiser ausrufen zu lassen. Ironischerweise ist der erste Soldatenkaiser ebenjener Mann, der die Tötung von Mutter Mamaea und Sohn Alexander befahl.

Kurz zuvor waren Kaiser Severus Alexander und Mamaea an den nördlichen Teil der römisch-germanischen Frontlinie geeilt: Die Stimmung unter den Soldaten ist miserabel. Der Kaiser vertraut keinem der anwesenden Offiziere und übernimmt das Oberkommando. Tatsächlich haben der Kaiser und seiner Mutter zu diesem Zeitpunkt die Gefolgschaft der Truppe längst verloren: Die Soldaten sind erbost. Alexander hat den Germanen Geld gegen Frieden angeboten, ohne seine Kämpfer finanziell zu beteiligen. Mamaea, die während des Großteils von Alexanders Herrschaft als graue Eminenz die Regierungsgeschicke leitet, hat als Frau ohnehin einen schweren Stand in der römischen Armee. Als sie und ihr Sohn sich auf den Weg gen Norden machten, beschlossen sie gewissermaßen ihren eigenen Tod. Bei den ersten Anzeichen einer Meuterei versucht der Kaiser noch verzweifelt, lokale Milizen zu seinem Schutz zu mobilisieren. Doch kaum jemand ist gewillt, für Kaiser und Mutter zu kämpfen[4].

Als der dreizehnjährige Alexander – unter der Ägide seiner Mutter – römischer Kaiser wird, gelingt es ihm nicht, seine eigenen Armeen und die immer mächtiger werdende Prätorianergarde für sich zu gewinnen. Schon zwei Jahre später ist seine Machtbasis so dünn, dass es zu Straßenschlachten und Aufständen im ganzen Land kommt[5]. Seine Herrschaft steht unter keinem guten Stern: Es geht für den Kindkaiser kontinuierlich bergab. Zwar ist er nicht allein für den stetigen Niedergang des Römischen Reiches zu jener Zeit verantwortlich, doch beschleunigten seine Herrschaft und sein früher Tod die ohnehin bestehenden Probleme und führten Europa in unruhige Zeiten.

 

Iwan IV. („Der Schreckliche“)

* 25. August 1530, in Kolomenskoje, im heutigen Russland   + 28. März 1584, Moskau, im heutigen Russland

 

29. Dezember 1543, Moskau, Großfürstentum Moskau: Der 13-jährige Iwan beugt sich über seinen ehemaligen Peiniger und beobachtet, wie sich seine ausgehungerten Hunde auf den Fürsten stürzen und ihn zerreißen. Spätestens jetzt begreift der junge Monarch, über welche Macht er verfügt.

Iwans Kindheit ist geprägt von Machtkämpfen und Schicksalsschlägen. Mit drei Jahren verliert er den Vater, mit acht die Mutter. Als Vollwaise wird der Thronfolger mehr und mehr zum Spielball der russischen Adeligen. Der Junge ist rund um die Uhr isoliert, ständig kann der Befehl seiner Hinrichtung ergehen. Diese Zeit prägt Iwan. Die Mischung aus Isolation, Lieblosigkeit und Angst sollte das Fundament seiner späteren Grausamkeiten werden.

Seinen Beinamen „der Schreckliche“ trägt er zu Recht: Iwan IV., inzwischen erster russischer Zar, befiehlt unzählige Massenhinrichtungen. Seine Methoden werden immer grausamer. Er lässt Menschen – ob Freund oder Feind – in Wasser kochen, näht sie in Bärenfelle ein, um sie von Hunden bei lebendigem Leib fressen zu lassen, wenn der Zorn ihn übermannt, mordet er eigenhändig. Seine Stimmungsschwankungen sind legendär und gefürchtet. Er gilt als verschlagen, aber klug. Zeitgenössischen Quellen sind immer zu hinterfragen. Doch auch nur die Hälfte der überlieferten Grausamkeiten reicht, um ihn als Sadisten zu bezeichnen.

Warum hat dieser ruchlose Monarch die Welt verändert? Russland ist heute flächenmäßig das größte Land der Welt. Und das ist auch Iwan zuzuschreiben. Unter seiner Herrschaft beginnt die Ausbreitung des Zarenreichs gen Osten. Als sich der Sechzehnjährige zum Zaren krönen lässt, kontrolliert er nur einen Bruchteil des Territoriums des heutigen Russlands. Iwan IV. kolonisiert die Weiten Sibiriens und sichert so die Bodenschätze, die einmal das Rückgrat der Russischen Föderation werden sollen.

Seine Entscheidungen beeinflussen die internationale Politik, die russische Wirtschaft und die Weltkarte bis heute.

 

Louis Braille

* 4. Januar 1809, in Frankreich    + 6. Januar 1852, in Frankreich

 

1812, Île-de-France, Frankreich: Der dreijährige Louis stößt sich aus Versehen mit einem Werkzeug seines Vaters ins Auge. Der Junge erblindet auf einem Auge. Doch es kommt noch schlimmer: Die Verletzung entzündet sich und führt zwei Jahre später zu einer vollständigen Erblindung beider Augen. Im Alter von fünf Jahren ist Louis im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts mit seiner Blindheit auf sich allein gestellt. Doch der Junge gibt nicht auf: Zu sehr wurmt ihn die Vorstellung, keine Bücher mehr lesen zu können. 

So sucht er nach Möglichkeiten, trotzdem lesen zu können. Als er zehn Jahre alt ist, lernt er in einer Blindenschule eine Schrift für Blinde kennen: Wörter werden durch Druck auf Papier gestanzt, um sie ertastbar zu machen. Louis ist jedoch nicht zufrieden, er empfindet das Stanzsystem als zu kompliziert und versucht, es zu vereinfachen. Doch das Ergebnis stellt ihn wieder nicht zufrieden.

Als Elfjähriger lernt er das System eines gewissen Charles Barbier kennen. Barbier, ein Artilleriehauptmann, hat eine sogenannte "Nachtschrift" entwickelt, mit der Soldaten durch Ertasten lautlos kommunizieren können. Doch auch dieses System erscheint dem jungen Louis für den Alltagsgebrauch zu kompliziert.

Fünf Jahre arbeitet der junge Franzose an einer besseren Version der Nachtschrift. Er halbiert die Anzahl der benötigten Punkte zur Darstellung eines Buchstabens, entfernt zu komplexe Elemente und fügt einige Zusatzzeichen hinzu. 1825 ist es so weit: Louis Braille stellt seine Blindenschrift fertig.

Die neue "Brailleschrift" funktioniert! Doch sie setzt sich nicht durch. Ihr wird mit Misstrauen begegnet, zeitweise wird sie sogar verboten. Als sein System endlich in die Blindenschulen Einzug hält, hat Louis Braille noch zwei Jahre zu leben. Er stirbt mit 52 Jahren an Tuberkulose.

Bis heute ist die Brailleschrift die internationale Standardschrift, die es Menschen weltweit ermöglicht, trotz Sehbeeinträchtigungen, zu lesen und zu schreiben. Und all das, weil sich ein findiger blinder Teenager nicht mit seiner Situation abfinden wollte.

 

Hier gelangen Sie zum zweiten Teil der kleine Reihe!

 

Jona Thiel, geboren 1999 in Troisdorf (Nordrhein-Westfalen), ist studierter Geschichts- und Politikwissenschaftler. Er publiziert als freier Journalist und fungiert als Sprecher, sowie Autor der Forschungsgruppe "Afrika" des Think Tanks "Kölner Forum für Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik". Zudem ist der Historiker ebenfalls als Autor für die Forschungsgruppe "Friedens- und Konfliktforschung" tätig. Thiel führt einen Blog, welcher sich primär historischen und außenpolitischen Themen zuwendet (Instagram: @gepo.global).

 

[1] Carter, Howard/Mace, A.C., The Tomb of Tut-Ankh-Amen, Discovered by the Late Earl of Carnarvon and Howard Carter, Cambridge University Press, 1923, New York.

[2] The Griffith Institute – University of Oxford, Extract from Howard Carter’s Diary.

[3] Der Todesort ist geschichtswissenschaftlich umstritten, siehe: Schumacher, Leonhard, Die Sicilia in Mainz-Bretzenheim, Mainzer Zeitschrift, Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte 99, Mainz, 2004. Böhme-Schönberger, Astrid, Wurde Alexander Severus in Bretzenheim ermordet? Mainzer Zeitschrift, Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte 99, Mainz, 2004.

[4]  McHugh, John S., Emperor Alexander Severus: Rome’s Age of Insurrection, AD 222-235, Pen & Sword Books Ltd, 2017, Barnsley.

[5] Cassius Dio 80 (80), 3,1.

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