2023 erschien das Buch „Gestohlene Leben. Die verschleppten Kinder der Ukraine“, herausgegeben von Dr. Wladimir Klitschko und Tatjana Kiel. Wie hast du die beiden kennengelernt? Und wie kam es zu dem gemeinsamen Projekt?
Sabine Oelmann: Tatjana habe ich am 31. März 2022 kennenlernt, kurz nach Kriegsbeginn. Wir sind in Kontakt geblieben. Ich bewunderte ihr Engagement bei #weareallukrainians. Und sie fand wohl, dass ich ganz gut schreiben kann. Wladimir Klitschko ist ein warmherziger, lustiger Mensch. Mit ihm ein Buch herauszubringen, war wie ein Sechser im Lotto.
Das Buch versammelt Interviews, die du mit Betroffenen geführt hast. Du hast die Gespräche neben deiner Arbeit, ehrenamtlich, geführt. Und es waren sicher keine leichten Gespräche. Unter welchen Bedingungen haben sie stattgefunden, und wie habt ihr die Gesprächspartner ausgewählt?
Sabine Oelmann: Ich habe mit verzweifelten Eltern, mit Großmüttern, Patentanten, Schwestern, Psychologinnen, Anwälten gesprochen. Und eben mit den zurückgekehrten Kindern. Die Kontakte hat mir Save Ukraine vermittelt. Es waren Zoom-Gespräche – natürlich immer mit Übersetzern. Obwohl ich am Ende das Gefühl hatte, fast schon ein bisschen ukrainisch zu verstehen. Die ukrainische Sprache ist wunderschön, sehr blumig. Aus einem drei-Minuten-Satz auf Ukrainisch werden in der deutschen Übersetzung dreißig Sekunden.
Insgesamt war ich drei Monate mit den Interviews befasst. Außerhalb meiner Arbeitszeit. Meist war ich zuhause, aber auch mal in Südafrika und an einem Geburtstags-Wochenende auf Mallorca. Ein besonders herber Kontrast. Auf Mallorca habe ich mit einem Vater gesprochen, der mir erzählte, dass er geglaubt hatte, seine Familie verloren zu haben: Seine Kinder hatte man entführt und seine Frau und das Baby seien bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Zum Glück ging es gut aus. Er bekam seine Kinder zurück, die Frau und das Baby überlebten. Ich habe an meinem Laptop gesessen und geheult. Und er: „Sabine, du musst aufhören zu weinen. Sie sind alle da“.
Welches Interview ist dir am stärksten in Erinnerung geblieben?
Sabine Oelmann: Am eindrücklichsten waren die Gespräche mit den Kindern. Keines von ihnen hat gejammert. Sie haben sehr klar erzählt, haben wenig Emotionen gezeigt. Sie waren eher schüchtern. Ich hoffe so sehr, dass sie das Erlebte verarbeiten.
Es gab eine junge Frau, noch keine 18. Sie hat ihren jüngeren Bruder zurückgeholt. Sie ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Und dann die Situationen, wenn ich mit Leuten in den Hope & Healing Centern von Save Ukraine sprach und die mittendrin abbrachen: „Sabine wir melden uns gleich zurück. Es ist Bombenalarm. Wir müssen runter, in die U-Bahn-Station.“ Das hat mich sehr nervös gemacht. Meine Kontaktpersonen, alle sehr jung, blieben selbst in solchen Momenten noch cool. Für mich war das alles unvorstellbar: Bombenangriffe …
Es gibt leider keine genauen Zahlen. Im Buch sprecht ihr von etwa 19.000 entführten Kindern. Wir haben es mit einem perfiden System von Kindesraub zu tun. Kannst du uns schildern, wie die Kinder entführt wurden und was mit ihnen in Russland geschah?
Sabine Oelmann: Sie wurden aus Alltagssituationen herausgerissen. Aus dem Klassenraum oder dem Sportunterricht. Und zwar Busladungen voll. Man hat sie aus ihren Pflegefamilien rausgeholt. Viele von ihnen kamen aus dysfunktionalen Familien. Man hat ihnen Versprechungen gemacht: Alles wird besser. Jetzt macht ihr erstmal Ferien. Ihr bekommt neue Klamotten und anständiges Essen. Ihr lernt was. Das wird ein großer Spaß. Wie ein Ferienlager. Und ihr seid in Sicherheit.
Manche wurden von ihren Betreuern oder Lehrern verraten. Manche versteckten sich in Kellern. Sie waren mucksmäuschenstill. Sie sind nicht mehr zur Schule gegangen, nicht mehr in den Kindergarten. Aus Angst, weggefangen zu werden.
Viele erzählen im Buch, dass sie zunächst in einer Art Ferienlager waren, dass man sie danach in andere Camps brachte. Und die glichen immer mehr Arbeitslagern.
Sabine Oelmann: Ja, es waren Umerziehungslager. Die Kinder sollen russifiziert werden. Und es steht zu befürchten, dass sie bei einigen der Kinder erfolgreich waren bzw. immer noch sind.
Wer engagiert sich in der Ukraine, aber auch in Deutschland dafür, die Kinder wieder nach Hause zu bringen?
Sabine Oelmann: Da sind zunächst mal Save Ukraine, #weareallukrainians, Dr. Wladimir Klitschko, Tatjana Kiel und ihre Mannschaft und viele weitere Hilfsorganisationen. Aber man muss auch unbedingt die NGO Be An Angel erwähnen und meinen unermüdlichen Freund und Journalistenkollegen Andreas Tölke, der seit Jahren vor Ort ist und Unglaubliches leistet.
Save Ukraine, –wer steckt dahinter und was machen sie? Wie viele Kinder sind bisher gerettet worden?
Sabine Oelmann: Als das Buch im September 2023 erschienen ist, waren es 123 Kinder, die zu ihren Familien zurückgebracht worden sind. Es ist kaum möglich genaue Zahlen zu nennen. Man geht von 600 bis 1200 geretteten Kindern aus. Das mag wenig erscheinen, aber jedes Kinderleben zählt! Die Deportationen haben nachgelassen. Zugleich wird mit Hochdruck daran gearbeitet, alle Kinder zurückzuholen. Nicht nur aus Russland, auch aus den besetzten Gebieten. Es ist aber wahnsinnig schwer geworden. Über Weißrussland nach Russland zu kommen, ist im Grunde unmöglich. Die Rettungsaktionen werden immer komplizierter. Und teurer.
Und dann wolltest du noch wissen, was es mit Save Ukraine auf sich hat. Es ist eine NGO. Mykola Kuleba hat sie 2014 nach der Annektierung der Krim gegründet. Er war von 2014 bis 2021 Beauftragter für Kinderrechte der Ukraine. Save Ukraine arbeitet mit vielen Partnern, u. a. mit den Vereinten Nationen und #weareallukrainians.
Viele Kinder sind traumatisiert. Was wird für die Familien und die Kinder nach Ihrer Rückkehr getan?
Die Hope & Healing Center kümmern sich um die Kindern. Therapeutisch, aber auch praktisch. Wenn sie noch Familien haben, werden sie mit ihnen zusammengeführt. Man kümmert sich aber auch um ihre Ausbildung, sorgt dafür, dass sie wieder zur Schule gehen. Vor allem aber versucht man den Kindern ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln und die Hoffnung, dass es eine Zukunft gibt.