I.
„Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich, und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu“: So steht es in Brechts Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration und so ist es ja auch. Ein „Wettbewerb der Schäbigkeiten“ (Annette Schavan) hat weltweit eingesetzt und sein Eskalationspotential ist enorm.
Da ist es schon bemerkenswert, wenn am 80. Jahrestag des Sieges der USA, Englands, Frankreichs und der UdSSR über das nationalsozialistische Deutschland das Kardinalskollegium der katholischen Kirche einen US-Amerikaner auf den Balkon des Petersdoms schickt, dieser sich mit dem Friedensgruß vorstellt und seine ungewöhnlich lange Ansprache um das Thema Frieden kreist.
Der Papst, einer der letzten verbleibenden Stimmen der Ohnmächtigen dieser Welt, spricht gegen alle Logik der Welt vom universalen und bedingungslosen Heilswillen Gottes und fügt einen Satz hinzu, den man nur zu gerne glauben würde: „Das Böse wird nicht siegen“. Dass er sich dann auch noch Leo XIV. nennt, nach jenem Papst also, der mit Rerum Novarum (1891) die Soziallehre der katholischen Kirche begründete und letztlich das Modell der „Sozialen Marktwirtschaft“ vordachte, zeigt: Hier ist wieder einer auf der Weltbühne, der den versammelten Autokraten dieser Welt auch ohne eigene Divisionen entgegentreten wird und eines jedenfalls kann: Ihr Tun als das bezeichnen, was es so oft ist: menschenverachtend.
II.
In der ersten Ansprache des neuen Papstes fiel ein höchst bemerkenswerter Satz: „Wir wollen eine synodale Kirche sein, die den Frieden, die Nächstenliebe und die Nähe sucht, vor allem zu denen, die leiden.“ Das benennt einen Zusammenhang, den anzuerkennen innerkatholisch alles andere als selbstverständlich ist: den Zusammenhang der genuin christlichen Option für die Armen mit der eigenen Organisationsform.
Denn so eindrucksvoll die römische Kurie sich immer noch medial und rituell inszenieren kann: Die katholische Kirche und gerade ihre Zentrale hängen organsationsentwicklerisch seit einiger Zeit ein wenig in der Luft. Ihr monarchischer Absolutismus – dem modernen Staat abgeschaut, um ihm gewachsen zu sein - funktioniert in einer globalisierten wie kulturell pluralisierten Welt nicht mehr wirklich. Ohne geregelte Partizipationsmöglichkeiten, definierte Entscheidungsabläufe und Regionalisierung der Leitungsausübung bleibt das kirchliche Herrschaftssystem gelähmt in seinen internen, unkontrollierbaren Differenzen.
Man kann die medial globalisierte Charismatik Johannes Pauls‘ II. und den Gelehrtenhabitus Benedikts‘ XVI. als Versuche verstehen, mit dieser Situation auf eine sehr persönliche, also gerade nicht amtliche Weise umzugehen. Und auch Papst Franziskus versuchte die Kirche nicht auf der Basis der nach-tridentinischen Ekklesiologie, also des Prinzips von Über- und Unterordnung, zu regieren, sondern auf der Basis der Inhalte des Glaubens als praktischer Wahrheiten. Das machte Franziskus persönlich so überzeugend, institutionell aber blieb sein Pontifikat relativ folgenlos und die Kurie ihm fremd.
Papst Leo XIV. ist als Ordensoberer eines Weltordens, als Bischof einer peruanischen Diözese und als Leiter eines vatikanischen Dikasteriums (Ministeriums) ein Mann mit vielfältigen Leitungserfahrungen. Er handelt zudem offenkundig weniger spontan und intuitiv wie Papst Franziskus und besitzt, so ist zu hoffen, genug systemisches Denken, um das Papsttum, seine Kurie und überhaupt die Regierungsstruktur der Kirche organisatorisch und konzeptionell ins 21. Jahrhundert zu bringen: mit geregelten Partizipationsmöglichkeiten, gesicherten Grundrechten und gerechter Teilhabe aller. Anders wird eine globalisierte und pluralisierte Weltkirche nicht zu regieren sein.
III.
Leo XIV. zeigte sich bei seinem ersten Auftritt wieder in den traditionellen Gewändern des Papsttums. Nichts in einer römischen Zeremonie ist Zufall. Hier wurde signalisiert: Ihr, die Ihr diese Gewänder liebt, Ihr, die Ihr die römische Liturgie als barocke Gesamtentfaltung kosmischer Schönheit und Einheit verehrt und erlebt: Ihr gehört auch dazu. Das ist gut katholisch – wenn es im Feld des Ästhetischen und Liturgischen bleibt, also im weitesten Sinne im Bereich der Spiritualität. Wenn es mehr bedeuten sollte, würde es problematisch.
Der letzte Papst mit dem Namen Leo war zwar nicht der rigoroseste der anti-modernistischen Päpste der „Pianischen Epoche“, aber er gehörte zu ihr, verpflichtete die Theologie auf Thomas von Aquin und sah alle Nähe zu moderner Wissenschaft höchst skeptisch. Es ist eine ironische Volte der Papstgeschichte, dass sein Namensnachfolger US-Amerikaner ist, da Leo XIII. doch die Anpassung der katholischen Kirche an die moderne, plurale und liberale Demokratie als „Amerikanismus“ verurteilt hatte. Man wird abwarten müssen, ob und wenn ja, wie sich diese Traditionslinien unter dem neuen Papst zeigen. Sollten Brücken gebaut werden, ist es gut, sollten Koordinaten verschoben werden, wäre das problematisch. Schon Benedikt XVI. gelang dieser Balanceakt nicht immer.
IV.
Der Papst ist der zentrale weltpolitische Player des Christentums. Die globalen religionspolitischen Entwicklungen betreffen ihn unmittelbar. Zum einen ist da das prekäre Spannungsfeld zwischen einem universalistisch-inklusivistischen und einem exklusivistische-identitären Selbstverständnis von Religion. Wirken die Wahrheiten des Glaubens integrierend oder konfliktverschärfend? In praktisch allen Weltreligionen, auch im Christentum, verschärfen sich hier die Gegensätze. Die Positionierung des neuen Papstes dürfte hier eindeutig sein: Seine Kirche soll eine Kirche für alle sein, denn alle sind von Gott in Jesus erlöst, nicht nur die Christen.
In allen Religionen zeigen sich aber auch massive Kulturkämpfe im Feld der „gender troubles“. Die liberalen Gesellschaften begreifen seit kurzem die Gleichstellung der Geschlechter als normativ, viele Christinnen und Christen diese Gleichstellung gar als Konsequenz ihres Glaubens. Zudem werden geschlechtsspezifische „Wesenszuschreibungen“, gar von Männern gegenüber Frauen, als Übergriff zurückgewiesen. Die Konflikte sind hier Legion und sie werden sehr schnell emotional. Hier wird man abwarten müssen. Bislang scheint der neue Papst sich hier sehr zurückhaltend nur zu positionieren. Das wird er nicht lange durchhalten können.
Und außerdem leben wir in disruptiven Zeiten, wo ständig Dinge passieren, die eine ziemlich neue Welt schaffen. Leo XIV., der auch Mathematik studiert hat, scheint hierfür ein Sensorium zu haben, wenn er zu den Kardinälen zwei Tage nach seiner Wahl sagte: „Leo XIII. stellte sich den Herausforderungen der ersten industriellen Revolution – heute stehen wir vor einer neuen: der Revolution der künstlichen Intelligenz und ihrer Auswirkungen auf Gerechtigkeit, Arbeit und Menschenwürde.“
Rolle und Funktion von Religionen verändern sich im globalisierten Kapitalismus mit seiner völlig neuen digitalen Kultur grundlegend.[1] „Säkularisierung“ oder gar „Wiederkehr der Religion“ sind deutlich unterkomplexe Begriffe für das, was im religiösen Feld global gerade abläuft. Einfach zurückdrehen lässt sich dieser komplexe Prozess – etwa die lokale Entbettung des religiösen Lebens, die Polarisierung der Partizipationsmuster des Religiösen und deren Individualisierung - jedenfalls nicht. Und die Herausforderungen für Menschenrechte, Gerechtigkeit und Frieden durch die digitale Revolution sind tatsächlich enorm.
V.
Der neue Papst schloss seine erste Ansprache – es ist der Marienmonat Mai - mit einem „Gegrüßet seist du Maria“. Er verstand dieses Ave Maria als Bitte für seine Mission, seine Kirche und für den Frieden in der Welt - in dieser Reihenfolge.
„Wir wollen eine synodale Kirche sein, die den Frieden, die Nächstenliebe und die Nähe sucht, vor allem zu denen, die leiden.“ Wenn Papst Leo XIV. dies zu seinem Programm macht und es in jener ruhigen, konsequenten und zielstrebigen Art tut, die man ihm nachsagt, dann ist das eine Hoffnung für die katholische Kirche und für die Welt. Eine Hoffnung, die sie nun wirklich brauchen kann.
Rainer Bucher ist emeritierter Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz. Seine Forschungen beschäftigen sich mit der Lage der katholischen Kirche in spätmodernen Gesellschaften und mit der Theologie- und Pastoralgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. In seinem podcast www.dieseseineleben.de interviewt er Theologen und Theologinnen zu ihrem Leben und ihrer Theologie und den Zusammenhang von beiden. Weitere Infos: www.rainer-bucher.de.
[1] Vgl. R. Bucher, Christentum im Kapitalismus, 2. Aufl. Würzburg 2020.