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Dem Bundeskanzler zugesellt: DDR-Spion Günter Guillaume (Niedersachsen, Brandt im Wahlkampf, 8. April 1974, Bundesarchiv B 145 Bild-F042453-0011)

Spionage im Kanzleramt: Der Fall Günther Guillaume und seine Folgen

Eine Analyse der politischen Debatten und medialen Reaktionen anhand zeitgenössischer Medien und Stellungnahmen

Am 24. April 1974 wurde Günter Guillaume, persönlicher Referent von Bundeskanzler Willy Brandt, wegen Spionage für die DDR verhaftet. Ausmaß des Schadens, Versäumnisse und Schuldige, für die der Skandal im Bundeskanzleramt sorgte, betrachtet in Stellungnahmen der Protagonisten und zeitgenössischen Medien.

Zur Meldung, dass Guillaume als persönlicher Referent mit den Kontakten Willy Brandts zur SPD betraut gewesen war[1], äußerten sich der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Richard Stücklen und CSU-Generalsekretär Gerold Tandler. Stücklen bekundete die Besorgnis der Fraktion und würdigte die Leistung der Sicherheitsorgane, „einen der wichtigsten Agenten Ost-Berlins […] zu überführen“. Dem Vertrauensmännergremium[2] müsse eine Liste der dem Spion zugänglichen Dokumente vorgelegt und die Praxis des Agentenaustauschs überprüft werden.[3] Tandler merkte an, dass Guillaume Geheimnisträger erster Ordnung und Vertrauensperson des Bundeskanzlers gewesen sei. Er habe nicht nur Informationen abschöpfen, sondern auch Entscheidungen Brandts beeinflussen können.[4]

Bundesarchiv, B 145 Bild-00114631
Im Bundestag liest ein Bundestagsabgeordneter die Bild-Zeitung mit dem Aufmacher von Günter Guillaumes Enttarnung als Spion der DDR, 26. April 1974, Bundesarchiv, B 145 Bild-00114631

In einer aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages am 26. April 1974 warnte der Vorsitzende der Unionsfraktion Karl Carstens vor der Bagatellisierung der Stellung Guillaumes. Bei der Einstellung Guillaumes, zunächst auf einer unteren Ebene im Jahr 1970, sei das Prinzip der Mitbestimmung missachtet worden, da sich die Leitung des Bundeskanzleramtes über Bedenken des Personalrats hinweggesetzt habe.[5] Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion Gerhard Reddemann forderte, der Agentenaustausch solle Ausnahme und nicht Regel sein, damit den Agenten das Risiko deutlich werde.[6]

Der Ostexperte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Werner Marx warf dem Bundeskanzler unter Bezugnahme auf die neue Ostpolitik erschreckende Naivität vor. Brandt habe sich nicht vorstellen können, „dass die Kommunisten ihn nicht zur Zusammenarbeit, sondern lediglich für die Unterschrift der von ihnen formulierten Verträge brauchten‘“.[7] Der Fraktionsvorsitzende Karl Carstens betonte in einem Interview mit dem Südfunk am 28. April 1974, dass der Sicherheitsschaden der Bundesrepublik „unser aller Schaden“ sei. Konsequenzen brauche es auf diplomatischer Ebene, durch einen Bewusstseinswandel der Bevölkerung und die Risikoerhöhung für die Agenten.

Die Welt am Sonntag vom 28. April 1974 berichtete, dass Guillaume Zugang zu geheimen Lageberichten des Bundesnachrichtendienstes gehabt habe und dass Kanzleramtschef Horst Ehmke seinerzeit sowohl über Verdachtsmomente und Bedenken, als auch über Guillaumes Kontakte zu einem anderen Spion unterrichtet gewesen sei.[8] Die Bild am Sonntag vom selben Tag nannte die Staatsgeheimnisse, die Guillaume habe ausspähen können: Absichten und Pläne Bonns bei den Bahr-Kohl-Gesprächen, Brandts Instruktionen für Bahrs Konsultationsgespräche in Moskau, die Erkenntnisse der Bundeswehr und der Nato-Partner über die Sowjet-Truppen in Polen, Tschechoslowakei und der DDR.[9] Der deutschlandpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Peter Abelein wies auf die Gefährdung von Flüchtlingen und Fluchthelfern und die Aufdeckung von Fluchtwegen hin.[10]

Den Schaden, der der Bundesrepublik durch den Fall Guillaume entstanden sei, bilanzierte Manfred Abelein im Deutschland-Union-Dienst vom 2. Mai 1974. Dass dem Mann, „dem in bestimmten Fällen der Oberbefehl über unsere Streitkräfte zusteht“, ein NVA-Hauptmann zugesellt worden sei, mache frösteln. Guillaume habe sicher nicht nur den SPD-Vorsitzenden Brandt ausspionieren sollen und die Staatsführung außer Acht gelassen.[11] Karl Carstens kritisierte am 2. Mai 1974 auf einer Parteiveranstaltung in Nordhorn, dass der Aufstieg Guillaumes zugelassen worden und der Agent trotz der Verdachtsmomente im Kanzlerbüro verblieben war.[12]

Von einer faktischen Rücktrittsaufforderung an Minister Horst Ehmke sprach die Welt am 2. Mai 1974. Entgegen den Angaben Ehmkes hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz mitgeteilt, dass 1970 eine „Geheimschutzüberprüfung“ durch das Kanzleramt erfolgt sei und das BfV lediglich Amtshilfe geleistet habe.[13] Oppositionsführer Karl Carstens forderte in der Bonner Rundschau vom 3. Mai 1974 den Rücktritt von Ehmke, der als Chef des Bundeskanzleramtes die Verantwortung zu tragen habe. Indessen sei Ehmkes Version der Geschehnisse um Guillaumes Einstellung durch eine neuerliche Verlautbarung des BfV bestätigt worden.[14] Das „große Verwirrspiel“ um die Affäre Guillaume behandelte der Münchner Merkur vom 3. Mai 1974. Im Zentrum standen dabei Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau und Horst Ehmke. Von den Behörden seien widersprüchliche Stellungnahmen ergangen, die den jeweils anderen Akteur verantwortlich machten. So habe zunächst Ehmke als Schuldiger dagestanden. Letztlich habe das BfV der Darstellung Ehmkes aber zugestimmt. Um alle Unklarheiten zu beseitigen, seien die Vorlage der Stellungnahme des BfV von 1970 und die Vernehmung des zuständigen Beamten erforderlich.[15]

Gerhard Reddemann forderte in einem Beitrag im Rheinischen Merkur vom 3. Mai 1974 auf, das Ausmaß der Guillaume-Affäre offenzulegen. Guillaume sei nominell nur für den Kontakt zwischen SPD-Parteivorstand und Kanzleramt zuständig gewesen, doch habe er auch das Vertrauen des Kanzlers besessen und sei als Geheimnisträger anzusehen, der die DDR-Führung über sicherheitsrelevante Fakten informieren konnte.[16]

Im Bayernkurier vom 4. Mai 1974 erschien ein als Portrait Guillaumes bezeichneter Text, in dem Willy Brandt vorgeworfen wurde, ungeeigneten Freunden hohe Staats- und Regierungsämter verschafft zu haben – so auch Guillaume, den die SPD nach seiner Enttarnung nun allerdings als einen „Kofferträger“ bezeichne. Zu den Jusos habe Guillaume eine Gegnerschaft gepflegt, die diese nun nicht mehr nur für Tarnung hielten, sondern dahinter auch eine innere Übereinstimmung mit der Parteirechten der SPD vermuteten.[17]

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Mai 1974 berichtete, dass die Unionsmitglieder im Vertrauensmännergremium angekündigt hätten, den Fall Guillaume in der Haushaltsdebatte zu thematisieren, sollte die Regierung keine Konsequenzen ziehen – womit vornehmlich der Rücktritt von Horst Ehmke gemeint war.[18] Am 6. Mai 1974 berichtete wiederum die FAZ, dass sich die Kontroverse verschärfe: Karl Carstens beabsichtige, die Guillaume-Affäre in der Haushaltsdebatte zu thematisieren. Gerhard Reddemann habe den Bundeskanzler beschuldigt, falsche Angaben gemacht und kaum zur Aufklärung beigetragen zu haben. Richard Stücklen habe eine Rücktrittsforderung an den Bundeskanzler nicht ausgeschlossen, sollte sich dessen Mitschuld herausstellen.[19] Die Frankfurter Rundschau vom 6. Mai 1974 meldete, es gebe Anhaltspunkte, dass das Bundeskriminalamt und die Bundesanwaltschaft der Opposition Informationen zuspielten. Unionsnahe Zeitungen hätten vor der Sitzung des Vertrauensmännergremiums Andeutungen zu den Ermittlungsergebnissen veröffentlicht.[20]

Der Spiegel vom 6. Mai 1974 befasste sich mit der Suche nach einem Schuldigen. Innenminister Genscher habe versucht, der SPD die Schuld an der Affäre zuzuschieben und dafür den Verfassungsschutz instrumentalisiert. Die Geheimdienste seien unter Verdacht geraten, Informationen an die Opposition geliefert zu haben. Der Spiegel zeichnete das Bild von teils unglücklich agierenden, teils überforderten und zwischen die Fronten geratenen Sicherheitsbehörden. Dies sei der Aufklärung abträglich und werde durch parteipolitisches Taktieren verschärft.[21]

Die Süddeutsche Zeitung vom 7. Mai 1974 stellte in einem Vorabbericht Vermutungen über das Treffen Willy Brandts mit den Fraktionsvorsitzenden an: Noch sei unklar, ob es um die nächste Vertrauensmännersitzung gehen solle oder personelle Konsequenzen bevorstünden.[22] Dieses Treffen erschien, wie auch die Absage der Auslandstermine Walter Scheels, die am selben Tag von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gemeldet worden war,[23] im Bonner Generalanzeiger vom 7. Mai 1974 in einem anderen Licht und war von den Ereignissen überholt.

Am Vormittag des 6. Mai sei erwartet worden, es werde „eine Bombe platzen“, und Gerüchte besagten, Innenminister Genscher habe seinen Rücktritt angedroht und damit die Koalitionsfrage gestellt. Bei dem Treffen mit den Fraktionschefs um 21:00 Uhr habe Scheel Brandt vertreten. Am selben Abend habe Brandt durch Kanzleramtsminister Grabert dem Bundespräsidenten sein Rücktrittsschreiben überbringen lassen. Als Favorit für die Nachfolge gelte Helmut Schmidt. Horst Ehmke habe mitgeteilt, nicht zurückzutreten. Auf die Nachricht des Rücktritts von Willi Brandt habe die Opposition ungläubig reagiert. Nach den Worten des CDU-Vorsitzenden Kohl sei eine neue Situation in der politischen Landschaft der Bundesrepublik entstanden.[24]

Bundesarchiv 145 Bild-F042657-0068
Eine neue Situation in der politischen Landschaft…, Sitzung des CDU/CSU-Bundesvorstands nach Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt im Bundeshaus (v.l.n.r.: Kurt Georg Kiesinger, Franz Josef Strauß, Karl Carstens, Helmut Kohl, 7. Mai 1974, B 145 Bild-F042657-0068)

Markus Köhler M.A., Studium der Philosophie, Alten Geschichte und des Bürgerlichen Rechts an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Mitarbeiter der Abteilung Medienanalyse und -archiv der Hauptabteilung WD/ACDP der Konrad-Adenauer-Stiftung. Doktorand im Fach Neuere Geschichte an der Universität zu Köln.

Bildbeschreibung zum Titelbild: Dem Bundeskanzler zugesellt: DDR-Spion Günter Guillaume (Niedersachsen, Brandt im Wahlkampf, 8. April 1974, Bundesarchiv B 145 Bild-F042453-0011)

[1] Presseerklärung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 25.04.1974.
[2] Das Parlamentarische Vertrauensmännergremium (PMVG) wurde 1956 installiert und trat letztmalig 1976 zusammen. Seine Zuständigkeit umfasste seit 1965 nicht nur den Bundesnachrichtendienst (BND), sondern auch den Militärischen Abschirmdienst (MAD) und das BfV. 1978 wurde es von der Parlamentarischen Kontrollkommission (PKK) abgelöst. Wegen der Abkürzung „PKK“, die bis heute auch eine kurdische Terrororganisation bezeichnet, wurde sie 1999 in Parlamentarisches Kontrollgremium (PKGr) umbenannt.
[3] Stücklen, Richard: Presseerklärung, Pressereferat der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 25.04.1974.
[4] Tandler: Hochpolitischer Skandal, DPA-Meldung, 25.04.1974.
[5] Carstens, Karl: Redebeitrag, Pressereferat der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 26.04.1974.
[6] Reddemann, Gerhard: Redebeitrag, Pressereferat der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 26.04.1974.
[7] Marx: Brandt nicht mehr als Kanzler qualifiziert, DPA-Meldung, 27.04.1974.
[8] Sche./Hrs.: Neue Enthüllungen: „DDR“-Spion kannte geheime Lageberichte, Welt am Sonntag, 28.04.1974.
[9] Anonymus: Warum hat Ehmke die Warnung missachtet?, Bild am Sonntag, 28.04.1974.
[10] Abelein, Manfred: Kannte Guillaume Fluchtwege und Fluchthelfer?, Deutschland-Union-Dienst, 29.04.1974.
[11] Abelein, Manfred: Der Fall G. – ein Schaden für die Bundesrepublik, Deutschland-Union-Dienst, 02.05.1974.
[12] Carstens, Karl: Rede in Nordhorn, Pressereferat der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 02.05.1974.
[13] Spreng, Michael H.: Erklärung des Verfassungsschutzes belastet Minister Ehmke, Welt, 02.05.1974.
[14] E.B.: Opposition will Rücktritt Ehmkes, Bonner Rundschau, 03.05.1974.
[15] Zimmermann, Horst: „Weitergeben“ heißt die Devise in Bonn, Münchner Merkur, 03.05.1974.
[16] Reddemann, Gerhard:  …und Honecker hört mit, Rheinischer Merkur, 03.05.1974.
[17] S.K.: Aktuelles Portrait: G. Guillaume, Bayernkurier, 04.05.1974.
[18] rmc.: Die Union beharrt auf Ehmkes Rücktritt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.05.1974, S. 2.
[19] Anonymus: Verschärfte innenpolitische Kontroverse um Guillaume, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.05.1974, S. 1.
[20] Hoffmann, Volkmar: Regierung vermutet Indiskretionen, Frankfurter Rundschau, 06.05.1974.
[21] Anonymus: Affäre Guillaume: Suche nach dem Schuldigen, Spiegel, 06.05.1974, S. 17-31.
[22] Anonymus: Brandt bittet Fraktionschef [sic!] zu sich, Süddeutsche Zeitung, 07.05.1974.
[23] rmc.: Fall Guillaume: Scheel sagt Reise nach Brüssel ab, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.05.1974, S. 1.
[24] Anonymus: Brandt bittet Heinemann um sofortige Entlassung, Generalanzeiger Bonn, 07.05.1974.

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