Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eklatante Lücken offenbart – besonders in der Landes- und Bündnisverteidigung. Neben budgetären, personellen und technologischen Defiziten in der Bundeswehr und den Nachrichtendiensten von Bund und Ländern gilt vor allem die unzureichende Koordination sicherheitsrelevanter Ressorts als zentrales Problem. Vor diesem Hintergrund legte die Bundesregierung unter Kanzler Scholz im Juni 2023 erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie vor – mit dem Leitbegriff der Integrierten Sicherheit für Deutschland. Die Nationale Sicherheitsstrategie soll als übergreifendes Rahmendokument dienen, in dem Einzelkonzepte wie die China-, Cybersicherheits- und die demnächst erscheinende Militärstrategie gebündelt werden – mit dem Ziel einer Sicherheitspolitik „aus einem Guss“.
Allerdings wird die Nationalen Sicherheitsstrategie dem Anspruch, die Ressortkoordination zu verbessern, nur eingeschränkt gerecht. Die Gründe dafür sind vielfältig, wie der kürzlich erschienene Sonderband ‚Integrierte Sicherheit für Deutschland?‘[1] aufzeigt. So fehlt der Sicherheitsstrategie eine klare Priorisierung von Zielen, und Zielkonflikte werden ausgeblendet. Auch die Ursachen von Bedrohungen werden nur vereinzelt adressiert. Allen voran mangelt es der Nationalen Sicherheitsstrategie jedoch an einer theory of success.[2] Wenn eine Strategie nur als Zusammenführung von Mitteln und Zielen verstanden wird, verleitet das dazu, nur innerhalb bereits vorhandener Programme und Ressourcen zu denken. Wird eine Strategie hingegen als theory of success verstanden, entsteht Raum, neue Wege und Mittel zu erschließen, um die angestrebten Ziele zu erreichen.“
Die Nationale Sicherheitsstrategie hat die in sie gesetzten Erwartungen bisher nicht erfüllt. In einem Interview am 22. Juni 2025 hat sich Kanzleramtschef Thorsten Frei dafür ausgesprochen, sie zu überarbeiten, ohne sich jedoch auf einen Zeitplan festlegen zu wollen.
Welche Rolle könnte aber einem Nationalen Sicherheitsrat, auf den sich die neue Koalition aus CDU und SPD im Koalitionsvertrag verständigt hat, zukommen? Auch wenn es andere Modelle gibt, dient der Nationale Sicherheitsrat der USA häufig als Referenzrahmen. Im präsidentiellen System der Vereinigten Staaten, das keine Koalitionen kennt, unterstehen alle Ministerien direkt dem Präsidenten. Der Nationale Sicherheitsrat koordiniert ihre Arbeit – die Entscheidungsgewalt liegt beim Präsidenten.
Im parlamentarischen System Deutschlands besitzt der Bundeskanzler zwar die Richtlinienkompetenz. Die Regierungsführung ist jedoch abhängig von einer stabilen Koalition, und das Ressortprinzip setzt der Richtlinienkompetenz enge Grenzen. Nach dem Ressortprinzip leiten Bundesminister und Bundesministerinnen ihre Geschäftsbereiche eigenverantwortlich. Es bestünde also die Gefahr, dass ein Nationaler Sicherheitsrat in der Praxis kaum zu einer besseren Ressortkoordination führen würde. Im schlimmsten Fall könnte er zu einer Politisierung der Sicherheitspolitik innerhalb der Koalition führen und Grabenkämpfe um Budget, Personal und Aufgaben verschärfen.
Die Bundesregierung wäre gut beraten, sich am Leitprinzip des Bauhauses – Form folgt Funktion – zu orientieren. Im Design oder in der Architektur bestimmt der Zweck die Form – dieses funktionalistische Prinzip wird in der Politikwissenschaft auf die Gestaltung politischer Institutionen übertragen. In dieser Logik orientiert sich zum Beispiel die Europäische Integration nicht etwa an territorialen Grenzen und damit verbundener staatlicher Autorität, sondern Wissen und Technologie bestimmen funktionale Herrschaftsräume, die wenn notwendig über den Nationalstaat hinausgehen. Übertragen auf den Nationalen Sicherheitsrat heißt das: Seine Ausgestaltung sollte nicht von Wahl- oder Ressortkämpfen bestimmt werden. Vielmehr sollte sich die institutionelle, personelle und budgetäre Ausgestaltung an dessen Funktionen orientieren.
Im Koalitionsvertrag hat die Regierungskoalition bereits angekündigt, dass der Nationale Sicherheitsrat auch für die Strategieentwicklung zuständig sein wird. Da eine Strategie im Kern eine theory of success beinhaltet, benötigt ein Nationaler Sicherheitsrat ausreichend Personal mit der analytischen Kompetenz, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Studien belegen zudem, dass Gruppendenken und kognitive Verzerrungen immer wieder in außenpolitischen Fiaskos münden. Dem kann eine heterogene Besetzung entgegenwirken, die unterschiedliche Sichtweisen einbringt. Auch braucht es einen gewissen argumentativen Freiraum, um zu verhindern, dass Vorgaben den Entscheidungsprozess von vornherein einschränken und den kritischen internen Diskurs über Vorteile und Risiken geeigneter Handlungsoptionen verhindern. Die finale Entscheidung liegt weiterhin bei den demokratisch gewählten Entscheidungsträgern.
Da eine Strategie Annahmen und Hypothesen über die Zukunft enthält, die sich in der Realität als falsch herausstellen können, führt eine theory of success nicht automatisch zum Erfolg. Auch kann es Probleme bei der Umsetzung der Strategie geben. Deshalb gehört zur Strategieentwicklung auch ein Monitoring. Wendet man das Prinzip „Form folgt Funktion“ an, muss ein Nationaler Sicherheitsrat also auch Informationen sammeln und zusammenführen, den Fortschritt der Umsetzung gegenüber gesetzten Benchmarks oder Zeitplänen im Blick behalten, die Effektivität der eingeleiteten Maßnahmen prüfen, Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Ressorts schlichten und den Entscheidungsträgern Fort- und Rückschritte kommunizieren. Der Rat sollte sowohl die Umsetzung kontrollieren als auch prüfen, inwiefern sich die theory of success mit der Wirklichkeit deckt. Dafür braucht er Personal mit methodischer Kompetenz sowie den notwendigen Befugnissen und Informationszugängen.
Die Erwartung einer Integrierten Sicherheit lässt sich nur erfüllen, wenn Strategieentwicklung, -umsetzung und die Koordinierung der Ressorts Hand in Hand gehen. Um zu verhindern, dass der Nationale Sicherheitsrat ein politischer Showroom wird, muss die institutionelle, personelle und budgetäre Ausgestaltung seiner Funktion folgen. Politische Rückendeckung und Freiraum für die Strategieentwicklung sind dafür unabdingbar. Oder anders gesagt: Für eine Integrierte Sicherheit und erfolgreiche Sicherheitspolitik braucht es einen Nationalen Sicherheitsrat, der dem Leitprinzip eines strategischen Bauhauses folgt.
Prof. Dr. Holger Janusch ist Professor für International Politik mit dem Schwerpunkt Außen- und Sicherheitspolitik der USA am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung. Jun.-Prof. Dr. Thomas Dörfler ist Juniorprofessor für Internationale Politik mit dem Schwerpunkt Russische Außen- und Sicherheitspolitik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung. Der Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes bietet praxisnahe Studiengänge für den gehobenen und höheren Dienst der Nachrichtendienste an. Ergänzend zur Lehre betreibt der interdisziplinäre Fachbereich angewandte Forschung in den Strategic, Security und Intelligence Studies und ist beratend für die Nachrichtendienste tätig.
[1] Janusch, Holger, und Dörfler, Thomas (Hrsg.). 2025. Integrierte Sicherheit für Deutschland? Die Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesrepublik Deutschland. Zeitschrift für Politik (Sonderband 13). https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748951094.pdf
[2] Janusch, Holger, und Dörfler, Thomas. 2025. Strategie mit Logik. Eine neue Nationale Sicherheitsstrategie braucht eine Theory of Success. Arbeitspapier Sicherheitspolitik (5). https://www.baks.bund.de/sites/baks010/files/arbeitspapier_sicherheitspolitik_2025_5.pdf