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Was wurde aus Schäubles „Kann ein Krüppel Kanzler werden?“

Global Disability Summit 2025 in Berlin – „JA“ zu mehr Teilhabe, doch auch in der Politik?

Der Global Disability Summit 2025 setzt weltweit ein Zeichen für Inklusion. Doch wie steht es um die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Deutschland? Trotz eines großen Wählerpotenzials bleiben sie in Parlamenten stark unterrepräsentiert.

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„Sagen wir´s badisch: Kann ein Krüppel Kanzler werden?“, so Dr. Wolfgang Schäuble 1997 gegenüber einem Journalisten. Damals ging es um die Kohl-Nachfolge. Am 2. Und 3. April 2025 findet in Deutschland der „UN Global Disability Summit“ (GDS25) statt. Ziel des Gipfels ist es, die weltweite Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen voranzutreiben. Vor dem Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) „Nothing about us without us“ – „Nichts über uns ohne uns“ – scheint Schäubles selbstreflexive Frage aktueller denn je. Sie lässt sich aus vielerlei Perspektiven beleuchten – und aus unterschiedlichen Dimensionen.

Dimension Aktualität.

Kurz vor der Bundestagswahl 2025 bezeichnete Kanzler Scholz das CDU-Bundesvorstandsmitglied Joe Chialo als „Feigenblatt“ und „Hofnarren“ der CDU. Gott sei Dank erinnerte sich in der Debatte niemand daran, was mit „Hofnarren“ im Mittelalter gemeint war. Laut dem „Deutschem Wörterbuch“ der Gebrüder Grimm hat das Wort ‚Narbe‘ dieselbe sprachliche Wurzel wie der Begriff ‚Narr‘. Der Hofnarr ist also „ein verkrüppelter Mensch“ – ein Mensch mit Behinderung. Als „natürliche Narren“ verstand man im Mittelalter vornehmlich kognitiv oder körperbehinderte Menschen. Im Gegensatz zum vermeintlichen „Quoten-Mohren“ Chialo gehört dem CDU-Bundesvorstand kein „Quoten-Krüppel“ an. Wer nun denkt „geschenkt“, der scheint wenig Interesse am Selbstverständnis der Union als Volkspartei zu haben – und ebenso wenig am Wählerpotenzial von rund einem Sechstel aller Wahlberechtigten.

Globale Dimension.

Ganz im Geiste der Wortherkunft sind Menschen mit Behinderungen weltweit eine der am stärksten marginalisierten und benachteiligten Gruppen: Etwa 1,3 Milliarden Menschen, rund ein Sechstel der Weltbevölkerung, leben mit einer oder multiplen Behinderungen. Auch in Deutschland haben weit mehr als zehn Prozent der Wahlberechtigten eine Behinderung  – Tendenz, aufgrund des demografischen Wandels und der Häufung psychischer Erkrankungen, steigend. Bezieht man mit Blick auf den oft nicht unerheblichen Assistenzbedarf nur die Eltern mit ein, so tangieren Behinderungen die Hälfte aller Wahlberechtigten. Um Inklusion in Gesellschaft, Ausbildung, Studium und Beruf, aber auch in der Politik durchzusetzen, wurde 2008 die Behindertenrechtskonvention[1] (UN-BRK) geschaffen. In Deutschland trat sie 2009 in Kraft. Wichtigste Neuerung: „Behinderung“ wird als Resultat des Zusammenspiels einer individuellen Beeinträchtigung und einer „behindernden Umwelt“ verstanden. Die Definition geht weg vom Gedanken, dass die eigentliche Behinderung Menschen die Teilhabe verwehrt, hin zur Idee, dass (örtliche) Rahmenbedingungen für Exklusion und damit für Behinderungen sorgen (können).

Im April 2025 richtet Deutschland gemeinsam mit dem Königreich Jordanien den Global Disability Summit (GDS25) aus. Es ist der dritte Gipfel, und er wird stets von einem Industrie-, einem Schwellen- oder Entwicklungsland und der International Disability Alliance (IDA)[2], dem globalen Dachverband von Organisationen für Menschen mit Behinderungen[3] ausgerichtet.  

Ziel des GDS25 ist es, die weltweite Umsetzung der UN-BRK (entwicklungs-) politisch voranzutreiben. Seitens der Bundesregierung ist das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) federführend. In Entwicklungsländern sind behinderte Menschen besonders von Armut betroffen, während auch in Industrienationen die politischen Teilhabemöglichkeiten suboptimal sind: Der Kampf um gleichberechtigte Teilhabe ähnelt sich unabhängig vom Entwicklungsstand der Länder, was der Tatsache geschuldet ist, dass Barrieren je nach Wohlstandsausprägung progressiv ansteigen, und sich auf die Teilhabe auswirken. So muss sich z.B. niemand Sorge um Inklusion oder die Barrierefreiheit an Bahnhöfen oder von Zügen machen, wenn es gar keine Bus- oder Bahnverbindungen gibt.

Dimension politische Teilhabe.

Vergleicht man die größeren soziokulturellen Gruppen, die einen Gesellschaftsanteil von mindestens 10 Prozent ausmachen, so sind Menschen mit Behinderungen im Europäischen Parlament, im Bundes- und in den Landesparlamenten mit weitem Abstand am schlechtesten vertreten. Das war nicht immer so: Nach dem zweiten Weltkrieg gehörten überdurchschnittlich viele sogenannte „Kriegsversehrte“ den Parlamenten an. Getreu dem Grundsatz der Europäischen Union, „In Varietate Concordia“, „in Vielfalt geeint“, wurden Parlamente von Wahl zu Wahl bunter – so auch der Deutsche Bundestag. Einzig Menschen mit Behinderung haben davon nicht profitiert, im Gegenteil: Ihr Anteil hat sich verringert: Wolfgang Schäuble (CDU) und Stephanie Aeffner (Grüne) verstarben während der 20. Wahlperiode, andere wie Martin Rosemann (SPD) bewarben sich nicht für den 21. Bundestag, andere Kandidaten wurden bisweilen nicht auf den Listen ihrer Parteien berücksichtigt.

Anders sieht es mittlerweile bei Frauen aus: Etwa 50,9 Prozent der deutschen Staatsbürgerinnen sind weiblich, jedoch stellen sie im ‚neuen‘ Deutschen Bundestag nur 32,4 Prozent der Abgeordneten. Im letzten, 20. Bundestag waren es noch 35,7 Prozent. Laut der Soziologin Beate Hoecker ist eine gesellschaftliche Gruppe dann repräsentativ im Parlament vertreten, wenn ihr Anteil mindestens zwei Dritteln ihres tatsächlichen gesellschaftlichen Anteils entspricht. Bei fast 51 Prozent Frauen in der Gesellschaft würde dies 34 Prozent Mandatsträgerinnen im Bundestag erfordern. Da der Frauenanteil im neuen Bundestag mit 32,4 Prozent nahe an diesem Wert liegt, kann man argumentieren, dass das weibliche Geschlecht nunmehr weitgehend repräsentiert ist.

Auch Deutsche mit Migrationshintergrund sind in Parlamenten immer stärker präsent: Laut Mikrozensus 2019 hatten 26 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen in 1. oder 2. Generation einen Migrationshintergrund. Die für die Ausübung des aktiven wie passiven Wahlrechts notwendige deutsche Staatsbürgerschaft hatten 13,5 Prozent aller Bürger mit migrantischem Hintergrund, und damit gut die Hälfte aller Migranten[4]. Im 20. Bundestag waren Deutsche mit Migrationshintergrund mit 84 Abgeordneten, oder 11,6 Prozent[5] immerhin fast deckungsgleich vertreten.[6]

Ähnlich war im 19. Bundestag das Verhältnis von Abgeordneten, die aus östlichen Bundesländern stammten: Mit einem  Bevölkerungsanteil von 17,2 Prozent stellten sie 14,6 Prozent der Abgeordneten[7]. Im 20. Bundestag waren es 134 der 733 Mandatsträger – sie waren also mit 18,3 Prozent[8] leicht überproportional vertreten[9]. Der Anteil homosexueller Menschen liegt in der Gesellschaft bei etwa zwei Prozent[10], der Anteil der LGBTQ+-Gruppe je nach Quelle bei bis zu 7,4 Prozent der Gesamtbevölkerung[11]. Die LGBTQ+-Gruppe schaffte es laut Süddeutscher Zeitung bereits im 19. Deutschen Bundestag, repräsentativ vertreten zu sein: Dem Parlament gehörten 6 Prozent, bzw. 43 homo-, trans- und bisexuelle Abgeordnete an. Im Verhältnis zum Gesellschaftsanteil fehlten neun Vertreter[12]. Je nach Hochrechnung wird davon ausgegangen, dass dem 20. Bundestag bis zu 10 Prozent LGBT-, homo- und bisexuelle Volksvertreter angehörten. Damit war diese Gruppe verglichen mit dem Gesellschaftsanteil ebenfalls überproportional gut vertreten (noch keine Zahlen für die neue, 21. WP)[13].

„Lediglich eine der soziokulturellen Gruppen, die zehn oder mehr Prozent der Wählerschaft ausmachen, ist nicht ansatzweise repräsentativ in den Parlamenten vertreten: Menschen mit Behinderungen.“

Roman Baumgartner

Lediglich eine der soziokulturellen Gruppen, die zehn oder mehr Prozent der Wählerschaft ausmachen, ist nicht ansatzweise repräsentativ in den Parlamenten vertreten: Menschen mit Behinderungen. Ihr Anteil sank von 3,3 Prozent in der 19. Wahlperiode auf rund zwei Prozent im 20. Bundestag (Stand: Januar 2025)[14]. Mit Blick auf die Bewerberlage wird ihr Anteil im 21. Deutschen Bundestag weiter zurückgehen[15]. Und das, obgleich der gesellschaftliche Anteil aufgrund des demografischen Wandels und der Zunahme psychischer Erkrankungen kontinuierlich steigt. Erhebungen des Autors belegen: Die wenigen verbliebenen Abgeordneten, bei denen ein Handicap vorliegt, haben leichtere Behinderungen mit einem Grad zwischen 30 und 50 (von 100), die erst nach Erreichen des 55. Lebensjahres – und damit jeweils nach dem erstmaligen Einzug in den Bundestag erworben wurden. Was Behinderte wie LGBT-Volksvertreter eint, ist, sich aus Sorge vor etwaiger Diskriminierung oder Stigmatisierung oft nicht zum jeweiligen Alleinstellungsmerkmal zu bekennen – was die öffentliche wie auch die wissenschaftliche Betrachtung deutlich erschwert.

Dimension Mobilität und Abhängigkeiten.

Ländlicher Raum, irgendwo im Schwarzwald. Sonntags fahren hier vier Busse, Montag bis Samstag sind es nur mehr fünf. Es ist meist unmöglich, per ÖPNV Veranstaltungsorte zu erreichen und nachts wieder zurückzukommen. Als (fast) blinder Mensch lässt man bei der Wahl zum Ortsvorsitzenden der Mitbewerberin aus dem Nachbardorf den Vortritt, um sich die Mitfahrgelegenheit zu sichern. Hier werden bereits Teilhabeweichen gestellt. Ein Engagement in Kreis- oder Bezirksvorstand von Partei und Gliederungen ist möglich. Aber nur mit wohlgesonnenen Unterstützern, die aus der näheren Umgebung stammen, demselben Gremium angehören und mobil sind. Andernfalls scheitert Teilhabe an der Mobilität. Wer nicht regelmäßig gesehen wird, kann kein politisches Kapital aufbauen, geschweige denn mehren.  

Und dann ist da noch die Bahn: Hat ein Zug mehr als 30 Minuten Verspätung, stellt der DB-Mobilitätsservice-Zentrale nach 22 Uhr keine Assistenzleistungen mehr bereit. Oft genug muss, mangels Barrierefreiheit, die örtliche Feuerwehr aushelfen, damit Elektro-Rollstuhlfahrer nachts noch vom Bahnsteig nach Hause finden.

Dimension Quoten.

Wir alle kennen unzählige Frauen, die exzellente Leistungen vollbringen: Politische Karriere mit Kindern; Promotion parallel zum MdB-Mandat; Unternehmerin und Mutter – unzählige Beispiele lassen sich anführen. Auch ich habe seit 2002 doppelt so viele weibliche wie männliche Bewerber in Wahlkämpfen um Direktmandate unterstützt – weil sie qualitativ besser waren![16] Und das alles ohne Quoten. Seit dem CDU-Bundesparteitag 2022 in Hannover, stelle ich mir als Mann mit Beeinträchtigung allerdings immer wieder die Frage: „Lohnt sich Leistung wirklich noch?“ Damals schuf sich die CDU ein Instrument, das jedem freiheitlichen Gedanken zuwider läuft: Eine verbindliche Quote nach Geschlecht. Eine Quote, die den tatsächlichen Geschlechterproporz in der Union unberücksichtigt lässt. Würde man eine „atmende Quote“ an den tatsächlichen, prozentualen Mitgliederanteil koppeln, so wäre dies ein Anreiz, mehr Frauen als Mitglieder zu werben. Das wäre wahrer Wettbewerb! Entgegen dem faktischen Geschlechteranteil, sollen künftig viele Ämter paritätisch besetzt werden. Bei männlichen Bewerbern wird der Handlungsspielraum in der Union damit künstlich verknappt: Rund 75 Prozent der Mitglieder sind Männer – ihnen stehen teils nur noch die Hälfte der Ehrenämter zu. Wo man vor Einführung Geschlechterquote als Bewerber mit Handicap auf das Wohlwollen männlicher Mitbewerber hoffen durfte, gilt hier nun ausschließlich das Wettbewerbsprinzip: Es ist kein Platz mehr für Bewerber mit Alleinstellungsmerkmalen, oder „Schwächen“, wie z.B. einer Behinderung.

„Was von weiblichen Bewerbern in der Vergangenheit als ‚gläserne Decke‘ definiert wurde, wird für Bewerber mit Handicap zur ‚stählernen Barriere‘.“

Roman Baumgartner

Was von weiblichen Bewerbern in der Vergangenheit als „gläserne Decke“ definiert wurde, wird für Bewerber mit Handicap zur „stählernen Barriere“.

In Zeiten „nicht-atmender Quoten“ ist Wolfgang Schäubles Frage mit nein zu beantworten: „Derzeit kann kein Krüppel Kanzler werden!“ Um dem zu begegnen, gibt es drei Optionen: In berechtigten Ausnahmefällen die Nichteinhaltung der Geschlechterquote in Betracht zu ziehen, um soziokulturelle Gruppen, die schlechter als Frauen vertreten sind, besser zu repräsentieren. Zweitens: Man schafft weitere verbindliche Quoten zugunsten unterrepräsentierter Gesellschaftsteile. Dritte Option: Konzentrierte Förderung beider Geschlechter und verschiedener soziokultureller Gruppen – bei Abschaffung aller innerparteilichen Quoten. Schließlich kann und darf es nicht das Ziel einer Volkspartei sein – wenn auch indirekt und unbewusst – ganze Gesellschaftsteile von politischer Teilhabe auszuschließen.

Dimension Regionalproporz.

An der Erarbeitung des neuen CDU-Grundsatzprogramms war keine Person mit Behinderung beteiligt – obwohl für die innerparteiliche Fachkommission „Soziale Sicherung“, die auch teilhabepolitische Aspekte behandelte, acht Betroffene vorgeschlagen worden waren. Als Reaktion darauf schlugen die CDU-Behindertennetzwerke für den Bundesparteitag 2024 in Berlin einen Bewerber mit Handicap vor. Ihre Absicht: Dem künftigen CDU-Bundesvorstand möge zumindest ein Betroffener Beisitzer angehören – es wäre ein starkes Bild nach außen. Doch: Sie scheiterten: Eine führende Parteifunktionärin, die noch 2022 aktiv für die Geschlechterquote warb, erklärte, sie sehe auch mitgliederstarke CDU-Landesverbände zit. [sic!] „(…) nicht in der Pflicht, auch einen Bewerber mit Handicap für den CDU-Bundesvorstand aufzustellen. Regionalproporz und Geschlechterquote wiegen weit schwerer, als ‚nur‘ eine Behinderung.“

Multi-Dimension Sprache – Aspekt Barrierefreiheit.

Dass die Union in vielerlei Hinsicht für Menschen mit Behinderung ein sicherer Hafen bleibt, zeigt sich beim Thema Gendersprache: Gendersprache, allen voran jene mit Sonderzeichen inmitten von Worten, schafft für Blinde, Sehbehinderte, Legastheniker, Lernbehinderte, Autisten, kognitiv Beeinträchtigte, genauso wie für migrierte und ältere Menschen unüberbrückbare Sprachbarrieren. Die Vehemenz, mit der eine vermeintlich „gendergerechte Sprache“ die verwehrte Teilhabe ganzer Gesellschaftsgruppen ignoriert, lässt den Schluss zu, dass das grün-linke Lager an Inklusion in Sprache – und in Anlehnung an die Kapitalarten-Theorie nach Pierre Bourdieu – auch nicht an Teilhabe in Bildung, Beruf und Gesellschaft interessiert ist. Wer neue Sprach-Eliten schafft und dabei 40 bis 50 Prozent einer Gesellschaft sprachlich ausgrenzt, befindet sich auf dem Holzweg.

Multi-Dimension Sprache – Mitgedachte Personengruppen.

Auch die Argumentation, die Existenz eines dritten Geschlechts würde bei Nicht-Verwendung von Sonderzeichen geleugnet, sei beleuchtet: Diese Argumentation konsequent zu Ende gedacht, hieße, unsere Sprache würde so kompliziert, dass sie irgendwann nicht mehr anwendbar ist: Wenn wir bei Begriffen wie „Fußgänger“ (laut StVO) nur an Menschen denken, die zu Fuß gehen, würden Rollstuhlfahrer, die ebenfalls als Fußgänger gelten, ausgeschlossen. Ebenso könnten Menschen mit Sehbehinderungen, die auf andere Sinne angewiesen sind, nicht mitgedacht werden. Doch das ist nicht der Fall. In der Rechtssprache bedeutet „in Augenscheinnahme“ nicht nur, etwas zu sehen, sondern auch, es mit allen Sinnen wahrzunehmen – also auch durch Hören, Fühlen, Schmecken oder Riechen. Das schließt Blinde oder Sehbehinderte mit ein, weil ihre Wahrnehmung ebenfalls berücksichtigt wird.

Genauso, wie die ‚in Augenscheinnahme‘ niemanden ausschließt, schließt auch das Nichtverwenden von Sonderzeichen, Menschen eines dritten Geschlechts eben nicht aus. Würden Menschen mit Behinderungen so argumentieren, wie Befürworter der Gendersprache, könnte man jedem, der trotz besseren Wissens Sonderzeichen in Wörtern benutzt, unterstellen, aus der Geschichte nichts gelernt zu haben und folglich höchst ableistisch zu agieren.

Dimension Vielfaltsstatut in Politik und Verwaltung.

Die Partei Bündnis 90/die Grünen (ff. „Grüne“) hat sich ein sogenanntes Vielfaltsstatut gegeben. Danach sollen Vertreter von Migranten, LGBT, verschiedene Altersgruppen, Regionen, Religionen und Behinderungen in der Partei besser repräsentiert werden. Verbindliche Quoten für diese Gruppen gibt es bei den Grünen bis heute nicht – es bleibt auch hier bei einer wohlgemeinten Idee, die im Zweifel gegen die einzige, parteiinterne Quote – nämlich jener zugunsten der Geschlechter – zurückstehen muss.

Neben Parlamenten und Parteigremien spiegelt sich die Unterrepräsentation behinderter Menschen auch in der Bundesministerialverwaltung wider. Und dies, obwohl der Bund ein gesteigertes Interesse haben müsste, qualifizierte Betroffene in Lohn und Brot zu bringen. Wie die Antwort der Ampel von Juni 2024 auf eine kleine Anfrage der Union offenlegt, erfüllen die meisten Bundesministerien – und die ihnen nachgelagerten Behörden – die fünfprozentige Beschäftigungsquote für Behinderte nur, weil bei 20 Prozent der Bediensteten im einfachen Dienst eine Behinderung vorliegt[17]. Dass der einfache Dienst mittelfristig abgeschafft werden soll – geschenkt. Trotz einschlägiger Qualifikation findet man im gehobenen (4,7 Prozent) und im höheren Dienst (3,8 Prozent) des Bundes deutlich weniger Betroffene, als die gesetzlich vorgeschriebenen fünf Prozent – von Führungspositionen ganz zu schweigen. Zwei Drittel aller Beamten mit Handicap haben eine leichtere Behinderung (GdB 50 oder weniger) – oder sind gleichgestellt. Dies bedeutet, dass beim jeweils Betroffenen zwar keine (Schwer-)Behinderung vorliegt, jedoch aufgrund einer leichteren Einschränkung – oder z.B. durch eine chronische Erkrankung – dem Betroffenen die selben Rechte eingeräumt werden, wie bei einer anerkannten Behinderung.

Dimension Doppelmoral.

Geradezu absurd wirken Social-Media-Beiträge von Mitgliedern, die sich in jeder Partei finden: Anlässlich des „Tages der Menschen mit Behinderungen“, stellt man sich alljährlich am 3. Dezember, als besonders teilhabefreundlich dar – und am 21. März jeden Jahres demonstriert man durch das Tragen zweierlei Socken, seine Solidarität mit Menschen mit Down-Syndrom. Sobald es aber um die Verteilung von parteipolitischen Ehrenämtern – oder gar um Mandate – geht, werden alle Teilhabe-Proklamationen vergessen und Betroffene mit allen Mitteln in bisweilen ableistischer Manier bekämpft. Dem Gedanken der Selbstvertretung folgend, sollte es auch bei der Besetzung von Behinderten- bzw. Teilhabebeauftragten künftig selbstverständlich sein, dass Betroffene sich selbst repräsentieren – exakt so, wie Frauen oder Migranten den Selbstvertretungsanspruch für sich zu Recht in Anspruch nehmen.

Dimension Praktische Umsetzung.

Die Kandidatur um ein Direktmandat ist für all jene, die in der Mobilität eingeschränkt sind – also nicht ohne die Unterstützung Dritter von A nach B gelangen – so gut wie aussichtslos: Wähler haben ein berechtigtes Interesse daran, dass der Direktbewerber vor Ort präsent, mobil und agil ist. Umso wichtiger wäre es, Menschen mit Handicap auf Landeslisten an prominenter Stelle zu positionieren. Das Argument, Direktbewerber zunächst über die Listen „abzusichern“, ist legitim. Allerdings ist es auch eine weitere Barriere zu Ungunsten der politischen Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Ein Anfang wäre gemacht, wenn bei künftigen Landeslisten zur Wahl des Deutschen Bundestages und der Landtage mindestens einer der ersten 10 Plätze mit einem Kandidaten mit Behinderung besetzt würde – was bei einem derart großen Wählerpotential gewiss nicht zu viel ist.

Die Gründe für die Nicht-Repräsentation von Menschen mit schwereren Behinderungen (querschnittsgelähmt, blind, gehörlos, etc.), sind vielschichtig: Zuschüsse für Gebärdendolmetscher, Guides oder andere Assistenzleistungen werden meist erst nach Mandatserreichung gewährt, wie das Beispiel der gehörlosen Bundestagsabgeordneten Heike Heubach (SPD) aus Bayern belegt. Um all die Hürden auf diesem Weg zu nehmen, bedarf es eines immensen zeitlichen, finanziellen und individuellen Mehraufwands – parallel zu Ausbildung, Studium, Familie und Beruf. In Abwägung all der Ressourcen, die man dafür aufwenden muss, stellen viele, die von Geburt an oder seit ihrer frühen Kindheit behindert sind, ihr politisches Engagement ein. Die gezielte Förderung Betroffener wäre ein probates Instrument, um mehr Teilhabe zu ermöglichen.

Im Politikbetrieb verbaut die Abhängigkeit von ÖPNV-Verbindungen oft die Teilnahme an Nach-Sitzungen. Dadurch fehlen Betroffenen wichtige Hintergrund-Informationen – oder sie sind aus Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Ferner existieren weitere Barrieren: Zugänglichkeit von Tagungsorten, Vorhandensein behindertengerechter sanitärer Anlagen, Angebote in Gebärdensprache, elektronische Verfügbarkeit für Sehbehinderte oder die Bereitstellung von Informationen in leichter Sprache. Von Barrieren in den Köpfen (Stigmata) bewusst zu schweigen.

Conclusio.

Alle Parteien wären gut beraten, neben anderen soziokulturellen Gruppen, auch Menschen mit Behinderungen besser in Parteigremien und Wahlvorschläge einzubinden: Zum einen, weil nach der Heiligen Schrift jeder Mensch die selbe Wertigkeit besitzt. Und ferner, weil keine Partei auf rund ein Sechstel der Wahlberechtigten verzichten kann – Angehörige eingerechnet, auf 50 %! Drittens verfügen gerade Menschen mit Behinderung über ein erhöhtes Wiedererkennungspotential, über ein „Markenzeichen“ – ein starkes Pfund, bei den lauten Rufen nach unverwechselbaren, politischen Köpfen. Und zu guter Letzt, weil wir dem verhinderten Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schäuble postum beweisen sollten, dass auch behinderte Menschen Abgeordnete, Staatssekretäre oder Minister werden können. Und eines Tages womöglich sogar Kanzler.

privat

Roman Baumgartner, M.A. ist Referent des Teilhabebeauftragten Wilfried Oellers MdB. Der Diplom-Verwaltungswirt war zwischen 2002 und 2021 fünfmalig CDU-Landeslistenbewerber für Bundestagswahlen, gehörte bis 2023 dem CDU-Landesvorstand Baden-Württemberg an und ist CDU-Bundes- & Landesparteitagsdelegierter. 2002 gründete er mit Freunden die JU Kaiserstuhl, durchlief alle Ebenen des (ehrenamtlichen), politischen Mehrebenensystems, versteht sich als überzeugter Christdemokrat, ist ASeV-Mitglied und stark sehbehindert.

[1] Deutsch: „Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen“ („UN-BRK“) / Offizieller Titel: „Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen; Englischer Titel: „United Nations Convention on the rights of Persons with disabilities („UN-CRPD“).
[2] Englisch: „International Disability Alliance“, (ff. „IDA“).
[3] Ausrichter 1. GDS 2018: Großbritannien, Kenia sowie die IDA; Ausrichter 2. GDS 2022: Norwegen, Ghana sowie die IDA; Ausrichter 3. GDS 2025: Deutschland, Jordanien sowie die IDA.
[4] Vgl. Statista.de; „Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland“; (2020); https://www.bamf.de/DE/Themen/Forschung/Veroeffentlichungen/Migrationsbericht2019/PersonenMigrationshintergrund/personenmigrationshintergrund-node.html; Stand: 2020.
[5] Vgl. Statista.de; „Anteil der Abgeordneten mit Migrationshintergrund nach Fraktionen des 20.Bundestags“; (2024); https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1314422/umfrage/bundestagsabgeordnete-mit-migrationshintergrund-nach-fraktion/; Stand: 02. Oktober 2024. Ebenso: Zeit Online „Nur elf Prozent der Bundestagsabgeordneten haben Migrationshintergrund“; (2024); https://www.zeit.de/politik/deutschland/2024-09/bundestag-migrationshintergrund-deutschland-parlament; Stand: 25.09.2024.
[6] U.a. auch bedingt durch den Tod der beiden betroffenen Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble MdB (CDU) sowie Stephanie Aeffner MdB (Grüne), während der 20. Wahlperiode.
[7] Vgl. MDR.de; „Ostdeutsche Abgeordnete im Deutschen Bundestag“; (2020); https://www.mdr.de/geschichte/zeitgeschichte-gegenwart/politik-gesellschaft/wer-braucht-den-osten-datenauswertung-wirtschaft-102.html; Stand: 12. Mai 2020.
[8] Vgl. FAZ.net; „Wie zusammengewachsen ist Deutschland wirklich?“; (2024); https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ostdeutsche-im-bundestag-nur-oben-stimmt-die-balance-19967884.html; Stand: 07. September 2024.
[9] U.a. auch bedingt durch den Tod der beiden betroffenen Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble MdB (CDU) sowie Stephanie Aeffner MdB (Grüne), während der 20. Wahlperiode.
[10] Vgl. Statista.de; „Wer sich in Deutschland als LGBTQA+ identifiziert“; (2024); https://de.statista.com/infografik/27440/anteil-der-befragten-die-ihre-sexuelle-orientierung-wie-folgt-angeben-nach-geburtsjahr/; Stand: 16.05.2024.
[11] Vgl. Charta der Vielfalt; „Konkrete Zahlen zum LGBT-Anteil in EU-Ländern – Berliner Umfrage-Startup interviewte knapp 12.000 Menschen“; https://www.charta-der-vielfalt.de/ueber-uns/aktuelles/charta-news/detail/konkrete-zahlen-zum-lgbt-anteil-in-eu-laendern/; Stand: 02.08.2018.
[12] Vgl. Süddeutsche; „Bundestag – diese Abgeordneten fehlen“ (2018); https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/bundestag-diese-abgeordneten-fehlen-e291979/; Stand: Februar 2018.
[13] Hinweis: Bei Redaktionsschluss (24.02.2025) lagen noch keine Zahlen für den 21. Deutschen Bundestag vor.
[14] U.a. auch bedingt durch den Tod der beiden betroffenen Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble MdB (CDU) sowie Stephanie Aeffner MdB (Grüne), während der 20. Wahlperiode.
[15] Hinweis: Bei Redaktionsschluss (24.02.2025) lagen noch keine Zahlen für den 21. Deutschen Bundestag vor.
[16] 2002: Angelika Doetsch, 2005 Dr. Conny Mayer-Bonde, 2012 und  2024 Dr. Sylvie Nantcha (alle im Bundestags-Wahlkreis Freiburg), 2020 Ruth Baumann, 2021 Jutta Zeisset (Landtagswahlkreis Emmendingen) – und nicht zuletzt binnen vier Bundestagswahlkämpfen zwischen 2005 und 2017, unsere CDU-Spitzenkandidatin, Dr. Angela Merkel.
[17] Vgl. https://dip.bundestag.de/vorgang/besch%C3%A4ftigungssituation-von-menschen-mit-behinderungen-in-bundeskanzleramt-in-bundesministerien-und/311838; Antwort vom 03.06.2024.

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