Professor David Hollander von der New York University hat die Behauptung aufgestellt, Basketball könne die Welt retten. Das klingt ambitioniert, ist aber gar nicht so abwegig. Meinen die NYU, an der der Professor einen gleichnamigen Kurs gibt, die NBA (National Basketball Association), die mit Hollander zusammenarbeitet und die Vereinten Nationen, die er von einem World Basketball Day überzeugt hat. Dass Basketball jedes Problem dieser Welt löst, wollte David Hollander ganz sicher nicht sagen. Aber für ihn gründet das Spiel auf einer Philosophie, deren Grundsätze als Anleitung für ein gutes Zusammenleben dienen können.
Das Team des Deutschen Basketball Bundes (DBB), amtierender Weltmeister und seit knapp zwei Wochen auch Europameister, hat nachgerade Modellcharakter für Hollanders These. Derzeit hat es fast den Anschein, als sei der deutsche Basketball imstande, die Welt zu retten. Dr. James Naismith, der Erfinder des Basketballs, hätte sich sicher bestätigt gefühlt.
Für ihn, der er sich das Spiel einst ausdachte, war Basketball mehr als „nur“ körperliche Ertüchtigung. Ende des 19. Jahrhunderts stellte der junge Naismith mit Blick auf die amerikanische Gesellschaft fest, dass das Problem nicht der Mensch an sich sei. Schwierig sei das System, in dem er sich bewege. Er entwickelte also ein Spiel, das gleichsam seiner Vorstellung von Gesellschaft entsprach: Es war inklusiv, gestand jedem seinen Wert zu, und der Einzelne ging in etwas Größerem auf.
Gemeinschaft vor Individuum: Alle sind wertvoll, und jeder verdient dieselbe Anerkennung – oder zumindest seinen gerechten Anteil an ihr. Jeder zählt. Keiner thront über den anderen. Treffen Menschen mit unterschiedlichen Geschichten, unterschiedlichen Erfahrungen, unterschiedlichen Charakteren aufeinander ist genau das eben nicht selbstverständlich.
Heutzutage mutet es oft so an, als müsste man die Ellbogen möglichst weit ausfahren, um zu bekommen, was man will. Nur zu welchem Preis? Was, wenn ich nicht mehr stark bin, wenn es andere über mir gibt? Kippt dann alles? Oder hätte ich, als ich noch die Macht hatte, die anderen klein halten sollen? Wollen wir in einer Gesellschaft der gegenseitigen Einschüchterung leben? Oder gibt es womöglich Alternativen?
Der Vergleich mit dem deutschen Basketballteam mag zunächst erstaunen. Aber er trägt. Dass aus Menschen unterschiedlicher Herkunft, jeder mit anderen Lebensrealitäten über die Jahre eine solche Einheit entstanden ist, zeigt, was alles möglich ist, wenn wir das Gemeinsame voranstellen.
2019 hätte viel kaputt gehen können. Das DBB-Team war mit viel Elan zur Weltmeisterschaft an- und mit viel Frust wieder abgereist. Drei Jahre später gewann die Mannschaft zuhause EM-Bronze, es folgte der WM-Titel, ein vierter Platz bei Olympia. Zweifellos spielen Dennis Schröder und Franz Wagner herausragenden Basketball. Entscheidend jedoch, sagen alle Beteiligten und das auch ungefragt, sei der Zusammenhalt.
Mehr noch: Es ist eine Gruppe entstanden, in der die einen größere, die anderen kleinere Aufgaben übernehmen – und doch hat jeder den gleichen Stellenwert. Niemand ist außen vor. Auch wenn sich vieles um Dennis Schröder und Franz Wagner dreht, jeder einzelne weiß, dass es auf seinen Beitrag ankommt.
Als Portugal im Achtelfinale dieser Europameisterschaft einfach nicht abreißen lassen wollte, erstickte Isaac Bonga durch seine Defense den Rhythmus des Gegners und riss seine Mitspieler mit. Als die Offense gegen Slowenien immer wieder stockte, bekam Johannes Thiemann unten am Zonenrand zwei Mal den Ball. Einmal wand er sich um seinen Gegenspieler herum und punktete selbst, einmal fand er Maodo Lo für einen offenen Dreier. Als genau der gegen Portugal beim gesamten Team nicht fallen wollte, drückte ebenfalls Lo mit Selbstvertrauen ab und öffnete damit das Spiel. Als Slowenien uneinholbar schien, traf erst Tristan da Silva von der Mittellinie, ehe Andreas Obst wenig später mit ablaufender Wurfuhr einbeinig absprang und drei weitere Punkte drauflegte. Momentum gedreht. Als die Türkei dem DBB-Team die größtmögliche Hürde präsentierte, warf Bonga von draußen einfach nicht mehr daneben, griff sich Rebounds, verteidigte und wurde später zum besten Spieler des Finales gewählt.
Es gäbe unzählige weitere Beispiele. Dass die oben genannten aus den letzten vier EM-Spielen stammen, illustriert, welches Umfeld beim DBB entstanden ist. Selbst wenn seine Rolle im Vergleich zum Verein schrumpft, fühlt sich niemand abgehängt. Jeder Beitrag zählt, und wirkt er auch noch so marginal.
Natürlich türmen sich gesellschaftlich andere Probleme auf. Es geht nicht „nur“ darum, seinen Platz innerhalb einer Basketballmannschaft zu finden und Spiele zu gewinnen. Existenzen wollen erhalten, Zukünfte aufgebaut, Sicherheiten geschaffen werden. Gerade da bewegt sich der Fokus schnell in Richtung des Individuellen.
Gleichzeitig nehmen die Herausforderungen eines Basketballteams für den Moment fundamentalen Raum ein. Wenn die Türkei ein EM-Finale mit einem 14:2-Lauf beginnt, gibt es nichts Wichtigeres, als diesen Run zu drehen. Dribbelt Schröder gegen Ercan Osmani Sekunden vor dem Ende Richtung Freiwurflinie, ist keine Aufgabe größer, als diesen einen Wurf zu treffen. Umso interessanter ist, wie dieses Team diese EuroBasket gestaltete.
Wann immer es schwierig wurde, fanden alle zusammen. Statt sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben, fahndeten sie nach dem, der gerade am besten helfen konnte. Statt sich anzufeinden, rückten sie zusammen. Statt aus Versagensangst zu erstarren, traute sich jeder zu, einen entscheidenden Beitrag zu leisten. Statt das eigene Herangehen für das einzig Richtige zu halten, vertrauten Spieler und Coaches sich: Wir sind gut genug. Du bist gut genug. So behauptete sich das DBB-Team gegen einen Luka Doncic, gegen Finnlands Comeback-Versuch und gegen eine Türkei, die auch im zweiten Spiel in Serie fast fehlerlos spielte.
Daniel Theis hatte es nicht leicht im Finale. Zwei schnelle Fouls, dazu der ständige Kampf mit dem physisch überlegenen Alperen Şengün. Offensiv gelang ihm wenig. Dennoch stieg Theis knapp zwei Minuten vor Ende zum Dreier hoch. Er wusste, dass er durfte. Er wusste, dass er sollte. Er vertraute – und traf. Es war nicht sein bester Tag. Doch seine Mitspieler verließen sich auf ihn, und er hatte Zutrauen. Eine solche Sicherheit entsteht in einer Kultur des Miteinanders. In einer Kultur, in der Fehler akzeptiert werden. In einer Gruppe, die trotz aller Unterschiede etwas Gemeinsames schaffen will. Im Finale, in Riga haben sie gezeigt, wie das geht. Schröder, Wagner, Bonga, Theis, Thiemann, Obst, Hollatz, Voigtmann, Lo, Kratzer, Oscar, da Silva: Sie alle reisten ja nicht mit denselben Geschichten, denselben Erfahrungen an. Doch sie haben das Trennende außen vorgelassen. Sie haben sich auf das konzentriert, was sie eint.
Wenn Moritz Wagner aus der Reha in Kalifornien mitfiebert, als stünde er selbst auf dem Court in Riga, und das Team per Video-Call wissen lässt, dass er sie vermisse, dann teilt das eine Verbundenheit mit, die uns als Gesellschaft auch gut zu Gesicht stünde. Viel zu oft, so jedenfalls mein Gefühl, konzentrieren wir uns auf das, was uns unterscheidet. Jeder sitzt auf seiner kleinen Insel, wir driften voneinander weg – während aus der Ferne ein Sturm auf uns zurollt. Gemeinsam könnten wir Schutzwälle bauen, allein sind wir ausgeliefert. Sicher, die Probleme unserer Zeit wiegen ungleich schwerer als die eines Basketballspiels, und doch gibt es Werte, deren Übertragung ins „richtige“ Leben uns gut täte.