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Bundeskanzler Helmut Kohl und Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterrand reichen sich in Verdun die Hände

von Ulrike Hospes , Hanns Jürgen Küsters
„Kohl, Mitterrand und ein Foto, das Geschichte machen wird“, titelte am 24.09.1984 die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Sie hatte Recht: Alle großen Zeitungen druckten das Foto, das sich in das kollektive Gedächtnis einbrannte.

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Der Ort Verdun

Verdun ist ein Ort historischer Symbolik: 843 unterzeichneten die Enkel Karls des Großen den Vertrag, der das Frankenreich unter Ludwig dem Deutschen und Karl dem Kahlen teilte – für manche Historiker der Beginn der Jahrhunderte währenden deutsch-französischen Auseinandersetzungen. Vor allem aber steht Verdun für die industrialisierten Menschen- und Materialschlachten, für Schrecken, Sinnlosigkeit und Unmenschlichkeit des Ersten Weltkriegs. Von Februar bis Dezember 1916 lieferten sich Deutsche und Franzosen dort eine der unerbittlichsten Schlachten mit rund einer halben Million Toten. Am 21. Februar 1916 startete die 5. Deutsche Armee den Angriff auf die französischen Stellungen. Ende des Jahres war sie wieder auf ihre Anfangsposition zurückgeworfen. Der mörderische Stellungskrieg um das Fort Douaumont machte den Ort zu einer „Knochenmühle“; unzählbare Verluste wurden in Kauf genommen, ohne militärisch tragfähige Ergebnisse zu erzielen. Millionen Granaten zerpflügten die Landschaft. In dem ehemaligen Kampfgebiet liegen heute 40 französische und 30 deutsche Soldatenfriedhöfe. Insgesamt 170.000 Gefallene sind dort begraben.

 

Gemeinsames Gedenken

Am 22. September 1984, einem Samstag, fliegt Helmut Kohl von Ludwigshafen zur Luftwaffenbasis in Metz, wo ihn François Mitterrand gegen 16 Uhr mit militärischen Ehren empfängt. Ihr Programm wird sie auf den deutschen Soldatenfriedhof Consenvoye und den französischen Soldatenfriedhof Fort Douaumont führen. Es ist die erste gemeinsame Gedenkfeier eines französischen Staatspräsidenten und eines deutschen Bundeskanzlers auf den Schlachtfeldern von Verdun. Alle französischen Staatspräsidenten – Coty, de Gaulle, Giscard, Pompidou als Premierminister – waren nach Verdun gekommen, doch nie zuvor hatte ein französischer Staatspräsident einen deutschen Regierungschef hierher eingeladen, um gemeinsam vor einem der Heiligtümer der französischen Nation der Kriegsopfer zu gedenken. Das Treffen war beim deutsch-französischen Gipfel am 29. Mai 1984 in Rambouillet vereinbart worden. Das gemeinsame Gedenken beendete auch die öffentlichen Diskussionen über eine Teilnahme Kohls an den Feiern zum 40. Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie am 6. Juni 1984.

Eingeleitet wird das Gedenken von einem bereits zwei Tage zuvor beginnenden gemeinsamen Manöver von 2.800 deutschen und französischen Soldaten in Lothringen. Die einstigen Erbfeinde kämpfen nun Seite an Seite.

François Mitterrand, geboren am 26. Oktober 1916, hat Erinnerungen an Verdun: Sein Vater hat hier im Ersten Weltkrieg gekämpft. Er selbst wurde im Zweiten Weltkrieg dort eingesetzt und am 14. Juni 1940 auf der Höhe 304 durch einen deutschen Tieffliegerangriff verwundet. Mitterrand geriet in deutsche Gefangenschaft, aus der er erst 1942 fliehen konnte.

Helmut Kohl, geboren am 3. April 1930 und somit 14 Jahre jünger als Mitterrand, erlebte den Zweiten Weltkrieg nicht als Soldat. Doch auch sein Familienschicksal ist mit Verdun verknüpft: Auch sein Vater kämpfte hier, ein Onkel wurde schwer verwundet.

Begleitet werden Kohl und Mitterrand von Regierungsmitgliedern aus Paris und Bonn sowie Angehörigen aus Generationen beider Weltkriege. Mit dabei sind zudem Hannelore Kohl und die beiden Söhne Walter und Peter, ferner der Schriftsteller Ernst Jünger, der als junger Frontsoldat im Ersten Weltkrieg gekämpft und den Roman „In Stahlgewittern“ geschrieben hatte.

Bereits aus der Luft machen sich die beiden Staatsmänner ein Bild über die durch Bombentrichter geformten Wälder und Felder. Rund 75 Kilometer, von Metz nach Verdun, fliegen sie im Hubschrauber zu ihrem straff organisierten vierstündigen Programm.

Die erste Station ist Consenvoye, nördlich von Verdun. Mit Mitterrand betritt zum ersten Mal ein französischer Staatspräsident einen deutschen Soldatenfriedhof in Frankreich. 11.146 Gefallene ruhen hier. Die beiden Staatsmänner schreiten die Reihen schwarzer Grabkreuze ab, legen Kränze nieder. Vor einer Plattenreihe mit der Aufschrift „In einem gemeinsamen Grab ruhen hier 2.537 deutsche Soldaten, 1.039 blieben unbekannt“ gedenken der Bundeskanzler und der Präsident der Toten. Sie tragen sich ins Goldene Buch ein, lauschen der Marseillaise und dem Deutschlandlied, durchschreiten ein Ehrenspalier aus deutschen und französischen Soldaten. Tausende junge Menschen und Veteranen verfolgen die Zeremonie.

 

Eine Geste der Versöhnung und der Freundschaft

Nach einer halben Stunde folgt der kurze Flug nach Douaumont. Zuerst gehen Kohl und Mitterrand durch die Reihen des französischen Soldatenfriedhofs, vorbei an den 15.000 weißen Kreuzen. Anschließend besuchen sie das Beinhaus (Ossuaire) – ein langgestreckter tonnenförmiger weißer Steinbau mit einem 46 Meter hohen, granatförmigen Turm, der auf allen vier Seiten ein Kreuzrelief trägt. Das Beinhaus wurde zwischen 1920 und 1932 errichtet und beherbergt die Gebeine von 130.000 Gefallenen. Bundeskanzler Kohl zündet eine Kerze an – eine persönliche, ungeplante Geste.

Draußen stehen deutsche und französische Soldaten nebeneinander abwechselnd Spalier. Vor der Treppe des Beinhauses ist ein Katafalk aufgestellt, umwickelt mit einer deutschen und einer französischen Fahne, rechts ein Ehrenkranz mit schwarz-rot-goldenem Band, links ein Ehrenkranz mit blau-weiß-rotem Band. Ein eisiger Wind bläst über die Gräber. Der Himmel ist grau-schwarz verhangen, Regengüsse begleiten die Zeremonie, der etwa 4.000 Menschen beiwohnen. Das Lied vom guten Kameraden und das Totensalut französischer Hornisten, wechselweise gespielt von der Kapelle des Bonner Wachbataillons und dem Musikcorps eines Infanterieregiments von Metz, sind gerade verklungen. Das Deutschlandlied und die Marseillaise werden intoniert. Spontan ergreift der Franzose die Hand des Deutschen. Minutenlang verharren Mitterrand und Kohl bis zum Verklingen der Nationalhymnen.

 

„Meine Gefühle lassen sich nur schwer beschreiben. Noch nie verspürte ich eine solche Nähe zu unseren französischen Nachbarn. Die spontane Geste des französischen Präsidenten hatte mich überwältigt. Sein Händedruck war ein Zeichen der Versöhnung. Jacques Attali, Mitterands langjähriger engster Mitarbeiter, hat sicherlich recht, wenn er schreibt, dass dieses Bild besser als alles andere die Anstrengungen eines ganzen Jahrzehnts unterstreicht.“(Quelle: Helmut Kohl: Erinnerungen 1982-1990, Band 2, S. 310.)

 

Der damalige Leiter des ARD-Studios in Paris, Ulrich Wickert, erinnert sich an die Zeremonie:

„Und in die Stille hinein ertönt der langgezogene Ton der Trompete. Wer jetzt hier steht, den bedrückt allein das Wissen um den Wahnsinn der Menschen, die sich hier gemordet haben. Meist junge Männer um die zwanzig. Ganze Dörfer sind in Frankreich ausgestorben, weil die Mädchen wegzogen, nachdem die Männer nicht zurückkamen. Mit jedem Ton, den die Trompete zur Klage formt, steigt das Gefühl der Hilflosigkeit. Und der Einsamkeit. Jeder schaut in sich hinein. Auch ich achtete auf den Trompeter und habe die Bewegung der Hände zueinander nicht gesehen.

Später fragte ich François Mitterrand, wer von beiden die symbolische Geste initiiert habe. Mitterrand antwortete, er habe plötzlich das Bedürfnis gespürt, aus seiner Vereinsamung herauszutreten und mit einer Geste Helmut Kohl zu erreichen. Da habe er seine Hand ausgestreckt, und Kohl habe sie ergriffen. Helmut Kohl hat mir dies später bestätigt. Der deutsche Kanzler war erleichtert über die Geste Mitterrands. Mitterrand, der seine Gefühle stets für sich bewahrte, blickte trotz seiner Gebärde weiter in sich hinein, während Helmut Kohl in diesem beklemmenden Augenblick erleichtert zu dem Franzosen hinüberschaut, dankbar für diesen scheinbar kleinen Ausdruck von Menschlichkeit.“

 

Die Stimmung schweigenden Gedenkens weicht der fröhlichen Stimmung von Kindern und Jugendlichen, für die die Vergangenheit fern, die deutsch-französische Freundschaft jedoch Normalität ist:

 

„Als die Melodien verklungen waren, lockerte sich die Schwere. Plötzlich wurde man eines merkwürdigen akustischen Hintergrundes der ganzen Feier inne: Das Geschnatter und Gelächter von Tausenden von Kindern, die das deutsch-französische Jugendwerk als Zeugen der Szene geladen hatte. Für sie gab es keinen Bezug mehr zu dem Absurden, das hier einst geschehen war. Sie waren schon im gemeinsamen Vaterland Europa geboren worden und aufgewachsen. Das galt auch für die meisten deutschen und französischen Soldaten, die hier, nebeneinander und beinahe nicht mehr voneinander zu unterscheiden, in ihren Felduniformen die Ehrenwache hielten.“(August Graf Kageneck: Verdun – die Gegenwart läßt die Erinnerung verblassen, Die Welt vom 24.09.1984.)
 

Es folgt ein Bad in der Menge. Kohl und Mitterrand passieren Veteranen und Jugendliche beider Länder. Sie pflanzen einen Ahornbaum auf einem Hügel gegenüber dem Beinhaus.
 

Gemeinsame Erklärung

Während der Zeremonien auf dem Soldatenfriedhöfen werden keine Reden gehalten; die „Bild am Sonntag“ titelte: „Im Angesicht der Gräber schwiegen die Politiker“ (23.09.1984). Doch eine gemeinsame Erklärung veröffentlichen die beiden Staatsmänner anlässlich des Besuchs:
 

Ein Zeichen des Friedens im Geist der Brüderlichkeit

Gemeinsam gedenken wir der Millionen deutscher und französischer Soldaten, die in den erbitterten Schlachten zweier Weltkriege gefallen sind.

Der Krieg hat unseren Völkern Trümmer, Leid und Trauer hinterlassen.

Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich haben aus der Geschichte ihre Lehre gezogen. Europa ist unsere gemeinsame kulturelle Heimat, und wir sind Erben einer großen europäischen Tradition.

Deshalb haben wir – Deutsche und Franzosen – vor nahezu 40 Jahren den brudermörderischen Kämpfen ein Ende gesetzt und den Blick auf eine gemeinsame Gestaltung der Zukunft gerichtet.

Wir haben uns versöhnt. Wir haben uns verständigt. Wir sind Freunde geworden.

Heute, am 22 September 1984, sind der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und der Präsident der französischen Republik in Verdun zusammengekommen, um sich vor den Gräbern der gefallenen Söhne Frankreichs und Deutschlands zu verneigen.

Mit ihrer gemeinsamen Ehrung der Toten vergangener Kämpfe setzen sie an historischer Stätte ein Zeichen dafür, daß beide Völker unwiderruflich den Weg des Friedens, der Vernunft und der freundschaftlichen Zusammenarbeit eingeschlagen haben.

Die Einigung Europas ist unser gemeinsames Ziel – dafür arbeiten wir – im Geist der Brüderlichkeit.

(Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Bulletin, Nr. 108, S. 953, 25.09.1984; Korrektur in Nr. 109, S. 968, 28.09.1984.)


 


Zur Erinnerung an dieses Treffen wird vor dem Beinhaus eine Gedenkplatte installiert. Sie wiederholt die zentrale Aussage:

Sur ce cimetiere militaire francais ce sont recontres le 22 septembre 1984 pour la premiere fois dans l´histoire des deux peuples le president de la republique francaise et le chancelier allemand avec une pensee commune pour les morts des deux guerres mondiales ils ont depose des couronnes et declare:

„Nous nous sommes reconciles. Nous nous sommes compris. Nous sommes devenus amis.“

François Mitterrand et Helmut Kohl
 

Auf diesem französischen Soldatenfriedhof trafen sich am 22. September 1984 zum ersten Mal in der Geschichte der beiden Völker der französische Staatspräsident und der deutsche Bundeskanzler. Sie legten im gemeinsamen Gedenken an die Toten beider Weltkriege Kränze nieder und erklärten:

„Wir haben uns versöhnt. Wir haben uns verständigt. Wir sind Freunde geworden.“

François Mitterrand und Helmut Kohl


Es bleibt nicht beim symbolischen Akt von Verdun und dem Gedenken an die Vergangenheit. Der Blick richtet sich in die Zukunft: Beide Staatsmänner wollen bei einem zusätzlichen Treffen im Oktober sowie bei den turnusmäßigen deutsch-französischen Konsultationen für die Europäische Gemeinschaft einen Weg aus den Streitigkeiten um Geld, Agrarüberschüsse und Handelshemmnisse finden. Sie wünschen sich einen engeren Zusammenhalt der Europäer in der EG und in der NATO.

 

Die Geste in der Interpretation der Medien

Manchmal vermögen Worte nicht auszudrücken, was einfache Gesten zu sagen haben. Dieser Händedruck, wie er zwischen Staatsmännern selten ist, ist hierfür ein Beispiel. Heute spricht alles für eine spontane, im Nachhinein aber überaus einprägende und symbolhafte Geste zwischen den beiden Staatsmännern; Freundschaft und Aussöhnung wurden nicht nur auf dem Papier erklärt, sondern in aller Öffentlichkeit gezeigt. Doch damalige Journalisten hinterfragen die Szene kritisch: Ist sie nicht vielmehr eine kalkulierte, abgesprochene Inszenierung von Geschichte? Die französische Presse misst dem Treffen nur wenig Bedeutung zu, weiß es nicht recht einzuordnen. Ist es eine gekünstelte Wiedergutmachung für die nicht erfolgte Einladung an Helmut Kohl zu den Normandie-Feierlichkeiten? Ist es gar eine überflüssige Zeremonie? Die Pariser Tageszeitungen „Le Monde“ und „Le Figaro“ bemängeln, es habe schon zu viele Aussöhnungsgesten zwischen Deutschen und Franzosen gegeben. Wiederholungen würden die Symbole gleichgültig erscheinen lassen. Braucht die deutsch-französische Freundschaft immer wieder Bestätigungssymbole dieser Art? („Le Matin“)

Auch die „Süddeutsche Zeitung“ mutmaßt: „Sie verharren lange – vielleicht nicht nur für die Photografen.“ (Rudolph Chimelli: Verharren mit einem langen Händedruck, Süddeutsche Zeitung vom 24.09.1984.). Die „Neue Zürcher Zeitung“ sieht in der gemeinsamen Militärparade und im Gottesdienst von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle in der Kathedrale von Reims 1962 den „wahrhaft historischen Moment deutsch-französischer Aussöhnung“. (Deutsch-französische Feier in Verdun, Neue Zürcher Zeitung vom 25.09.1984.)

Schließt die eine Geste die andere aus? Nicht für den Kommentator der FAZ: „Die Begegnung Adenauers und de Gaulles in der Kathedrale von Reims läßt sich nicht wiederholen, so wenig wie irgendein Ereignis von geschichtlicher Monumentalität. Doch sollte man das Treffen Mitterrands und Kohls in Verdun nicht bloß als eine illustrative Zugabe zur Zeitgeschichte konsumieren. Denn wie auch jeweils die persönlichen Gebärden ausfallen und dem einen gefallen, dem andern mißfallen mögen: an Fakten steht Großes dahinter. (…) In einer Zeit, da Pessimismus in Deutschland fast zum Berufsziel gemacht wird, empfinden Menschen, die das deutsch-französische Drama dieses Jahrhunderts eindrücklich erlebt haben, Erleichterung und Zuversicht. Ein Tag wie der in Verdun verdient in ihren Augen, gefeiert zu werden wie ein Erntedankfest, bei dem die Ernte der Frieden ist. (…) In einer Zeit, in der die existentielle Ungeborgenheit täglich penetrant bewußt gemacht wird, kann man im Rückblick auf die deutsch-französischen Beziehungen der letzten vierzig Jahre sagen: da haben wir doch Glück gehabt, nicht alles wird immer schlimmer.“ (Robert Held: Der Tag in Verdun, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.09.1984)

Nicht den Vorwurf des Übertrumpfens der Geste von Reims, sondern die Botschaft von deren Festigung und Vertiefung vermittelt auch die Rheinische Post: „Verdun liegt auf der Linie von Reims. Doch daß diesmal integrierte Truppenverbände die Nationalhymnen spielten und die Ehrenformation bildeten, daß Kohl und Mitterrand Hand in Hand vor dem Beinhaus von Douaumont verharrten, ist ein historischer Vorgang ohne Beispiel.“ (Lutz Hermann: Verdun als Symbol, Rheinische Post vom 24.09.1984)

Ist die Einzigartigkeit – weil Erstmaligkeit – von Adenauers und de Gaulles Besuch in der Kathedrale von Reims und der Umarmung nach dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag auch nicht zu wiederholen, so hat für den Kommentator der „Welt am Sonntag“ das Bild „symbolischen Rang und politische Bedeutung“: „Die Geste Mitterrands galt also der Gegenwart und Zukunft: Der Präsident läßt keinen Zweifel an dem Vorzug, den er seinem östlichen Nachbarn einräumt. Die feste Entschlossenheit, mit der er dem jüngeren Bundeskanzler vor den Toten, den angetretenen Soldaten beider Armeen, vor den Regimentsfahnen der Veteranen und dem regendurchnäßten Publikum die Hand bot, hatte auch einen tagesaktuellen Bezug. Mitterrand wollte auf dem Boden von Verdun, der blutdurchtränkt und doch historisch bedeutungsvoller ist als eine Schlacht, seinen Verbündeten vor dem unverantwortlichen Versuch der Sowjets in Schutz nehmen, die Deutschen mit dem neu verflüssigten Teer des Revanchismus zu übergießen. (…) Die Szene vor dem Katafalk von Douaumont, das nun um die Welt geht, ist eine Demonstration gegen die unbegrenzte Unzumutung, ein Zeichen der Wahrheit und der politischen Kameradschaft.“ (Herbert Kremp: Das Bild von Douaumont, Die Welt vom 24.09.1984)

Die Distanz zum Osten Europas wird jedoch auch durchaus kritisch kommentiert: „Wenn ihre Geste nicht von jener historischen Wirkung sein konnte, wie es zu seiner Zeit das gemeinsame Gebet von Adenauer und de Gaulle war, so liegt dies nicht an Kohl und nicht an Mitterrand. Die Zeit ist eine andere, die Geschichte ist weitergegangen: Die Freundschaft zwischen Deutschen und Franzosen ist so selbstverständlich geworden, daß man sie zwar bekräftigen kann, aber nicht mehr besiegeln muß. An den Gräbern von Verdun spürt man, welches Verdienst denen zukommt, die nach dem Zweiten Weltkrieg der Feindschaft zwischen den Nachbarn am Rhein ein Ende setzten. (…) Der Händeruck, der im Westen nur noch bestätigt, was längst politische Wirklichkeit geworden ist, steht im Osten noch immer aus.“ (Ralf Lehmann: Der Händedruck, Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 24.09.1984)

Die Kraft von politischen Symbolen nicht gering zu schätzen, mahnt der Journalist August Graf von Kageneck: „Die Völker leben wie die Einzelmenschen von Symbolen, von Wünschen und Hoffnungen. Der politische Wille zum Handeln braucht immer wieder Impulse aus dem Sentimentalen, dem Emotionellen, auch bei denen, die an der Spitze der Völker stehen. Präsident Mitterrand hat hierfür ein feines Empfinden. Am Vorabend hatte er den Franzosen in einem Fernsehinterview gesagt, daß der Vater von Helmut Kohl in Verdun gekämpft hätte und er selbst, Mitterrand, 1940 am gleichen Ort verwundet und in Gefangenschaft geraten sei. Er reduzierte das Drama von Verdun damit auf die gefühlsmäßige Ebene jedes Deutschen und jedes Franzosen und hob es gleichzeitig auf die höchste politische Ebene. Den beiden ersten Verantwortlichen beider Länder erwächst aus der Symbolik von Verdun die gleiche Verpflichtung, Deutschland und Frankreich, wenn dies menschenmöglich ist, zu Freunden und Partnern zu machen… In Verdun wurde heute ein neuer, ein soliderer Grundstein für dieses Europa gelegt.“ (DLF, August Graf Kageneck, 22.09.1984.)

Auch wenn der Anlass des Gedenkens ein historischer ist, wird der Händedruck nicht ausschließlich als Ausdruck einer überwundenen Vergangenheit, sondern als Versprechen und Verpflichtung für die Zukunft gesehen: „Im Nebeneinanderstehen reichen sich Kohl und Mitterrand die Hand. Die Bekräftigung dessen, was selbstverständlich geworden ist: des Abscheus vor dem Krieg, der Freundschaft zwischen den beiden Völkern.“ (Thankmar von Münchhausen: Kohl, Mitterrand und ein Foto, das Geschichte machen wird, FAZ vom 24.09.1984) Von „wirklicher Friedenspolitik“ spricht die Rhein-Zeitung: „Die früheren Erbfeinde haben sich dauerhaft versöhnt, weil jeder von ihnen darauf verzichtet hat, den anderen beherrschen zu wollen. (…) Die beiden früheren Hauptfeinde sind zur Haupttriebkraft bei der Einigung Europas geworden.“ (Heinzgünther Klein: Über den Gräbern, Rhein-Zeitung vom 24.09.1984). Sogar die eher regierungskritische „Frankfurter Rundschau“ titelt: „Mitterrand und Kohl festigen Versöhnung“ (24.09.1984), und die „dpa“ interpretiert: „Sie standen allein, wie zu einem ewigen Versprechen.“ (dpa, 23.09.1984). In der Phase nach dem Doppelbeschluss und vor den Abrüstungsverträgen wird auch die Politik der Abschreckung im Kalten Krieg thematisiert: „Ein weiterer Meilenstein in den freundschaftlichen Beziehungen beider Staaten? Kaum, denn solcher Zeichen bedarf es längst nicht mehr. (…) Das Verdun des Jahres 1984 setzt ganz andere, aber dennoch nicht weniger wichtige Zeichen: Hier geht es um die Signale einer Friedenssehnsucht (…). Niemand soll uns einreden, daß wir uns leichtfertig einem neuen Kriege nähern. Aber dennoch ist das Unbehagen darüber, ob alles geschieht, was einen Krieg verhindern könnte, nicht gerade gering. (…) Was aber kann heute noch ein Krieg für einen Sinn haben? Der Beweis seiner Sinnlosigkeit – das ist die Botschaft von Verdun.“ (Jürgen C. Jagla: Verdun im Jahre 1984, Kölnische Rundschau vom 24.09.1984.)

Die kritischen Töne verstummen im Laufe der Jahre. Die Botschaften Versöhnung, Freundschaft und Frieden in Europa bleiben im Bewusstsein. Das Foto gehört zum kollektiven Gedächtnis der deutsch-französischen Freundschaft.

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Essay
9. März 2022
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